Die Körperverzierung

Dass die Schamhaftigkeit nicht die Ursache, sondern die Folge der Kleidung war, dürfte nach dem Gesagten wohl feststehen. Dass aber auch nicht die Kälte, das Bedürfnis nach Schutz als Ursache der Kleidung anzusehen ist, lässt sich ebenfalls nachweisen.

Zunächst wissen wir, dass die ältesten Menschengeschlechter in den Tropen lebten, demnach auch kein Bedürfnis hatten, den Körper vor Kälte zu beschützen. Dann wissen wir, dass auch heute noch in sehr kalten Gegenden, wie in Feuerland, viele Menschen trotz der Kälte so gut wie nackt herumgehen, dass die Eskimos, das nördlichste aller Völker, nur außerhalb ihrer Hütte bekleidet, innerhalb derselben aber nackt sind. Dass trotzdem sich in kälteren Zonen allmählich eine ausgiebige Kleidung entwickelt hat, beruht auf praktischen Gründen. Die dort lebenden, ursprünglich nackten Menschen bemerkten bald, dass bei Bedeckung des Körpers eine geringere Wärmeabgabe und darum auch ein geringeres Bedürfnis nach Wärmezufuhr, nach Nahrung, bestand. Da nun außerdem in den kälteren Zonen die Nahrung schwieriger zu beschaffen war, als in den Tropen, so wird gar bald aus ökonomischen Gründen die kostspieligere Nahrung durch die billigere Kleidung soweit möglich ersetzt worden sein, und im Lauf der Zeiten wurde aus der Not eine Tugend gemacht.




Nur so lassen sich die scheinbaren, heute noch bestehenden Widersprüche erklären, dass die Fülle der Kleidung keineswegs immer von der Kälte des Klimas abhängig ist. Sobald man aber außer dem Klima auch die mehr oder weniger reichlich vorhandenen Nahrungsmittel in Rechnung bringt, lösen sich die Widersprüche auf, und wir sehen, dass die primitiven Menschen sich nur dort wärmer kleiden, wo der Nahrungsmangel sie dazu zwingt. Namentlich eine ausgiebige Fleischnahrung macht die Kleidung entbehrlich, und so sind es namentlich die Jägervölker, die auf reichen Jagdgründen auch in kälteren Zonen am längsten der Kleider entbehren können. Man denke nur an die Beschreibung der alten Germanen und ihrer Lebensweise durch Tacitus.

Wie kam die Kleidung in die Welt, wenn weder Schamgefühl noch Kälte die Menschen veranlasste, ihre Körper zu verhüllen?

Diese Frage ist in der verschiedensten Weise beantwortet worden*), die richtigste Beantwortung ergibt sich jedoch zweifellos aus der Beobachtung der heute noch vorhandenen Naturvölker oder solcher Völker, die auf einem niederen Kulturzustand stehen geblieben sind.

Wenn wir vorurteilsfrei nach den Beweggründen forschen, die den nackten Menschen veranlassen, sich zu bekleiden, so finden wir kein anderes Bedürfnis als das, den Körper zu verzieren, zu schmücken, ihn durch fremdes Beiwerk vorteilhaft hervorzuheben und damit von seinesgleichen zu unterscheiden. Nicht die Verhüllung, sondern die Verzierung ist der ursprüngliche Zweck der Kleidung.

Dieser Ziertrieb, der allen Menschen angeboren ist, der das menschliche Kind ebenso wie früher den kindlichen Menschen veranlasst, nach allem zu greifen, was glänzt und was bunt ist, und sich und seine Umgebung damit zu schmücken, der in seiner höchsten Vollendung zur bildenden Kunst geführt hat, dieser Ziertrieb findet sich überall, wo Menschen beieinander wohnen.

*) Von allen mir bekannten Versuchen, eine einheitliche Darstellung der Entwickelung der Kleidung zu geben, haben mich die von Grosse in seinen „Anfängen der Kunst“ niedergelegten Gedanken am meisten überzeugt. Wie mit Grosse, stimme ich in der Hauptsache mit Ranke und Lippert überein, wogegen es mir nicht möglich war, die Auffassungen von Ratzel und Schurtz als richtig anzuerkennen. Auf eine Kritik gegenteiliger Ansichten habe ich verzichtet und es vorgezogen, die Tatsachen für sich sprechen zu lassen und sie so objektiv und übersichtlich wie möglich zusammenzustellen.

Woher dieser Trieb stammt, brauchen wir nicht durch philosophische Klügeleien zu erforschen suchen. Er ist einmal da, allmächtig und allgegenwärtig.

Ebenso wie die Blüten im Sonnenlicht ihre prächtigsten Farben entfalten, so schmückt der Mensch in seiner Daseinsfreude sich und das Seine, und das zuerst, was ihm am liebsten ist, sein eigenes wertes „Ich“.

Aus diesem Grunde ist es aber auch bald nicht mehr die reine, unschuldige Putzsucht, sondern das zusammengesetztere Gefühl der Eitelkeit, das Bedürfnis nach Auszeichnung, nach Hervorheben seiner eigenen Persönlichkeit im Gegensatz zu den anderen, minderwertigen Geschöpfen in seiner Umgebung. Der Mann schmückt sich mit den Zähnen, Klauen und Fellen erlegter Tiere, um vor den anderen mit seiner Kraft zu prunken, das Weib schmückt sich mit Blumen und Blüten, um in den Augen der Männer liebreizender zu sein als ihre Schwestern, und schließlich prunken beide mit dem Besitz, der sie vor weniger durch Glück und Zufall Begünstigten auszeichnet.



Da aber bei niedrigerstehenden Völkern der Wert der Frau für das Gemeinwohl ein viel geringerer ist als der des Mannes, und da wir wohl annehmen müssen, dass dies in der Urgeschichte der Menschheit ebenso gewesen ist, so ergibt sich der Schluss, dass es in erster Linie die Männer gewesen sind, die das Bewusstsein des Wertes ihrer eigenen Persönlichkeit und damit das Bedürfnis nach einem äußerlichen Unterscheidungsmerkmal gehabt haben.

Zunächst waren es die Jäger und die aus ihnen bei zunehmender Bevölkerungszahl hervorgegangenen Krieger, die Veranlassung hatten, ein Zeichen ihres persönlichen Wertes zu tragen, und unter ihnen wieder am meisten der Stärkste, das gemeinschaftliche Oberhaupt.

Wir finden in der Tat bei vielen heute noch nackt lebenden Völkern, wie z. B. bei den Niamnjam*) nur die Männer geschmückt, und auch diese nur, wenn sie in den Krieg ziehen.

Und wiederum sind es zuerst die Männer, die sich auch bei gemeinschaftlichen Festen schmücken. — Bei den nackten Bakairi **) werden im Flötenhause die Tanzkleider der Männer aufbewahrt und nur bei festlichen Gelegenheiten zum Vorschein geholt.

*) vgl. Hutchinson. Living Races of Mankind. pag. 340, 341.
**) von den Steinen. 1. c.


Erst sehr viel später, mit zunehmendem Wohlstand und zunehmender Kultur, schmückt sich auch die Frau, und zwar zunächst die verheiratete Frau, in der Öffentlichkeit. Innerhalb des Hauses bleibt die Nacktheit, wie oben schon durch zahlreiche Beispiele gezeigt wurde, selbst bei höchster Kultur noch lange erhalten, ebenso wie bei den Kindern beiderlei Geschlechts vor Eintritt der Reife.

Dass niederstehende Völker so manches als Schmuck ansehen, was unseren europäischen Augen eher den Eindruck einer Entstellung macht, braucht kaum besonders erwähnt zu werden. Während z. B. eine rote Nase, das Zeichen des Gewohnheitstrinkers, bei uns wohl kaum als schön gilt und höchstens, wie bei Bardolf, zur „Quelle des unerschöpflichsten Humors“ werden kann, färbten sich bei den Basutos, wie Joest*) berichtet, die jungen Mädchen die dunkeln Nasen mit brennendem Rot, um ihre Reize in den Augen der Männer zu erhöhen; und sie erreichten ihren Zweck.



Da die Urgeschichte der Menschheit für uns im allgemeinen ein geschlossenes Buch ist, so müssen wir, um die ersten Äußerungen des Ziertriebes am Menschen zu erforschen, uns in der Hauptsache an die jetzt noch lebenden Völker halten, die nach gesellschaftlicher Stellung und Kultur die niedrigsten Stufen der Bildung einnehmen. Wir können dabei vorläufig von allen Rassenunterschieden absehen und uns nur an das Allgemeinmenschliche des Entwickelungsganges halten.

Während beim Mann das Bestreben vorherrscht, durch die Körperverzierung sich ein möglichst kräftiges, martialisches Ansehen zu geben, will das Weib damit einen ganz anderen Zweck erreichen, nämlich den, möglichst schön zu scheinen.

Da wir nun in diesen Blättern nur mit der Frau zu tun haben, so können wir die Bestrebungen der Männer vom blutig gefärbten Angesicht des Urjägers bis zum aufgedrehten Schnurrbart des modernen Leutnants hier als Nebensache betrachten.

*) Tätowieren, Narbenzeichnen und Körperbemalen. Berlin 1887, Asher.

Die verschiedenen Formen der Körperverzierung lassen sich in zwei große Gruppen verteilen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Frauenkleidung und ihre natürliche Entwicklung