Die Grenzen der Gesetzgebung: Der Gegensatz der Interessen zwischen Unternehmern und Arbeitern.

Die Prostitution. — Die Frauenarbeit, das revolutionierende Element in der sozialen Entwicklung.

Der unbefriedigende Charakter der sozialpolitischen Gesetzgebung aller Länder ist das notwendige Ergebnis der Bedingungen, aus denen sie hervorwächst. Sie ist der Ausdruck eines in ihren ersten Anfängen fast unbewußt, gegenwärtig aber mit vollem Bewußtsein geführten Interessenkampfes zwischen der Arbeiterklasse und der Klasse der Unternehmer. Der Ursprung dieses Kampfes liegt in der kapitalistischen Produktionsweise selbst, die jene beiden Klassen,—die Besitzer der Produktionsmittel auf der einen und das besitzlose Proletariat auf der anderen Seite,—zur Voraussetzung hat. Aus den verschiedenen Phasen des Kampfes, aus den Schwankungen der Machtverhältnisse der Kämpfenden, erklären sich die unorganische Entwicklung des Arbeiterschutzes, und seine tastenden Versuche nach allen Richtungen hin. Das Übergewicht aber, das die Unternehmer besitzen, kommt in der äußerst mangelhaften Durchführung der geltenden Gesetzgebung zu drastischem Ausdruck.


Mit der Ausbreitung kapitalistischer Organisationsformen, die unaufhaltsam vor sich geht und im Interesse des allgemeinen Fortschrittes gelegen ist, wächst die Masse des Proletariats, d.h. der von den Unternehmern abhängigen Lohnarbeiter, bringt beide Geschlechter mehr und mehr in eine übereinstimmende Klassenlage und verstärkt infolgedessen ihre Macht und ihren Einfluß. Die Weiterentwicklung der sozialpolitischen Gesetzgebung wird dadurch bedingt. Sie kann daher in größerem Maß als bisher der rücksichtslosen Geltendmachung kapitalistischer Interessen Grenzen stecken, das Abhängigkeitsverhältnis der Arbeiter von den Unternehmern mildern, aber darüber hinaus wird ihre Wirksamkeit sich selbst dann nicht erstrecken können, wenn sie ihre Aufgaben in weitestem Maße zu erfüllen im stande wäre. Nehmen wir an, die Arbeitszeit wäre so niedrig als möglich festgesetzt, ein Minimallohn gesichert, die Koalitionsfreiheit gewährleistet, durch staatliche Versicherung die traurigen Folgen von Unfall, Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit beseitigt, so bliebe als ungelöster Rest der Ausgangspunkt der Arbeiterfrage bestehen: das Lohnsystem und seine Folge, die Abhängigkeit des Lohnarbeiters, und die charakteristische Erscheinung der kapitalistischen Produktionsweise, die wirtschaftlichen Krisen, auf denen die Unsicherheit der proletarischen Existenz beruht.

Wenn somit auch die optimistische Anschauung des möglichen Wirkungskreises der sozialpolitischen Gesetzgebung ihre Bedingtheit anerkennen muß, und ich selbst außer stände war, in meinen Forderungen über bestimmte Grenzen hinauszugehen, weil sie an den gegebenen Machtverhältnissen eine Schranke fänden, so werden sie sich in Wirklichkeit noch viel enger gestalten; denn die Gesetzgebung scheitert nicht zuletzt an dem Problem der Frauenarbeit.

Wir wissen, daß die Lohnarbeit der Frau, mag sie auch zu, allen Zeiten in gewissem Umfang bestanden haben, in ihrer gegenwärtigen Form ein Produkt der großindustriellen Entwicklung ist. Ihre Tendenz geht mit unverrückbarer Sicherheit dahin, das weibliche Geschlecht mehr und mehr dem Bannkreis des Hauses zu entziehen, und den Erwerbszwang in steigendem Maße auf alle Frauen, auch auf die verheirateten, auszudehnen. Als die traurigen Resultate dieses Zustandes haben wir die Degeneration der Frauen, wie sie sich in der Abnahme ihrer mütterlichen Kräfte, der Fähigkeit, gesunde Kinder zur Welt zu bringen und sie zu nähren, in dem frühen Altern ausdrückt, die Degeneration der Kinder, die in ihrer höheren und früheren Sterblichkeit, ihrer Schwäche und Kränklichkeit zu Tage tritt, kennen gelernt. Und als unausbleibliches Korrelat der Lohnarbeit der Frauen ist uns die Prostitution entgegengetreten. So wenig sie an sich eine neue Erscheinung ist, in dieser Form und Ausdehnung, als Mittel des Erwerbes eines supplementären Lohnes für ganze Schichten der Arbeiterinnenklasse ist sie, wie die moderne Frauenarbeit selbst, das Ergebnis der kapitalistischen Produktionsweise. Das beweist, mehr als irgend etwas anderes, die Thatsache, daß wirtschaftliche Krisen und wirtschaftlicher Aufschwung in innigem Zusammenhang mit der Zunahme und der Abnahme der gelegentlichen Prostitution stehen. Sie wird aber auch durch ein psychologisches Moment genährt, das keine andere Zeit hervorbringen konnte, wie die unsere: die Kontrastwirkung des Reichtums und der Freiheit der Unternehmerklasse auf die in Armut und Abhängigkeit lebenden Frauen der Arbeiterklasse. Der Reichtum früherer Zeiten zog sich vornehm in Paläste und Patrizierhäuser zurück, der moderne Reichtum strahlt blendend aus dem Glanz der Kaufhäuser, der Pracht der Hotels, er wird in den Luxuszügen und Dampfschiffen, die Weltstadt mit Weltstadt verbinden, in den Modebädern und durch die Presse mit allen Mitteln der Vervielfältigungskunst den Massen vor Augen geführt. Und wo die Not nicht ausreicht, um zur Prostitution zu zwingen, da gaukelt die Gewalt dieser Verführungskünste den armen Mädchen Glück und Freiheit vor.

Machtlos steht die sozialpolitische Gesetzgebung vor diesen Problemen. Sie vermag die Wirkungen der Lohnarbeit auf Frauen und Kinder abzuschwächen, wie sie durch Herabsetzung der Arbeitszeit, Sicherung von Minimallöhnen, Auflösung der Heimarbeit, Versicherung gegen Arbeitslosigkeit den äußeren Motiven zur Prostituierung etwas von ihrer Gewalt zu nehmen im stande ist, aber sie kann dem Kinde die Mutter nicht wiedergeben und kann nicht verhindern, daß die Frau, um die Not zu lindern, ihren Körper verkauft, wie ihre Arbeitskraft.

Erst die Erkenntnis des Problems der Frauenfrage beleuchtet mit voller Klarheit das Wesen der sozialen Frage, deren Teil sie ist. Je weiter die kapitalistische Entwicklung fortschreitet, desto schwieriger wird die Lösung ihres Sphinxrätsels. Desto entschiedener aber wird auch die Frauenarbeit nicht nur zu seiner Lösung hindrängen, sondern sie auch vorbereiten helfen. Sie hat ihre Entstehung der Revolutionierung der Produktionsweise zu verdanken, sie trägt alle Elemente in sich, diese Wirtschaftsweise nun ihrerseits zu revolutionieren, indem sie an einem ihrer Grundpfeiler den Hebel ansetzt: der Familie, und Mann und Weib und Kind gegen sie mobil macht, wie es bisher noch bei keinem der historischen Klassen- und Machtkämpfe geschehen ist. Das konservativste Element in der Menschheit, das weibliche, wird zur Triebkraft des radikalsten Fortschritts.

Ohne die Frauenarbeit kann die kapitalistische Wirtschaftsordnung nicht bestehen und wird immer weniger ohne sie bestehen können. Die Frauenarbeit aber untergräbt die alte Form der Familie, erschüttert die Begriffe der Sittlichkeit, auf denen sich der Moralkodex der bürgerlichen Gesellschaft aufbaut, und gefährdet die Existenz des Menschengeschlechts, deren Bedingung gesunde Mütter sind. Will die Menschheit schließlich nicht sich selbst aufgeben, so wird sie die kapitalistische Wirtschaftsordnung aufgeben müssen.

Die sozialpolitische Gesetzgebung bahnt mit den Weg zu diesem Ziel. Und das ist ihre größte, wenn auch unbeabsichtigte Aufgabe. Sie macht die Männer und Frauen der Lohnarbeiterklasse fähig, sich ihres solidarischen Zusammenhanges bewußt zu werden. Sie setzt Rechte an Stelle der Almosen und zerstört den unterwürfigen Sklavencharakter, der die Arbeiter der vorkapitalistischen Zeit noch kennzeichnete. Sie schweißt die Massen noch fester zusammen und lehrt sie den Gegner kennen, der seine Interessen gegen die ihren ausspielt.

So wirkt, bewußt und unbewußt, alles zusammen, um an Stelle der alten Welt, die die Menschheit in zwei feindliche Lager spaltete, eine neue aufzubauen, in der die Lohnsklaverei der ökonomischen Unabhängigkeit Platz machen, in der die Arbeit der Frau sie nicht schädigen und schänden, sondern zur freien Genossin des Mannes erheben wird, in der sie ihre höchste Bestimmung erf?llen kann, wie nie zuvor, und ein starkes, frohes Geschlecht dafür zeugen wird, daß ihm die Mutter niemals fehlte.