Die Arbeiterinnenversicherung: Ihre historische Entwicklung.

Synoptische Übersicht des geltenden Rechts. — Die Krankenversicherung. — Die Mutterschaftsversicherung. — Die Unfallversicherung. — Die Alters- und Invaliditätsversicherung. — Die Versorgung der Witwen und Waisen. — Die Frage der Arbeitslosenversicherung. — Die kommunale und staatliche Arbeitsvermittlung. — Die Ausdehnung der Arbeiterversicherung.

Neben die Erweiterung des Arbeiterschutzes trat, als letzte große Errungenschaft der Arbeiterklasse, die Arbeiterversicherung. Der Gedanke, daß der arme Arbeiter sich vor den Wechselfällen seines Lebens auf irgend eine Weise schützen müsse, war durchaus kein neuer: die englischen Gewerkschaften und die Friendly Societies entwickelten sich schon früh auch nach dieser Richtung zu großartigen Organisationen, die ihren Mitgliedern vor allem Krankenunterstützung und Begräbnisgelder gewährten. Die Gesellen- und Knappschaftskassen in Deutschland sorgten in ähnlicher Weise für die ihr Zugehörigen, ebenso die modernen freien Hilfskassen, deren Anfänge bis in das Revolutionsjahr zurückreichen. Die französischen Societés de Secours mutuels dehnten ihre Verpflichtungen vielfach noch weiter aus, indem sie ihren Mitgliedern in allen Notfällen des Lebens zu helfen suchten; die Syndikate, die verschiedenen Rentenkassen wirkten in derselben Richtung. Aber dieses ganze freiwillige Versicherungswesen krankte an demselben großen Uebel: es umfaßte immer nur einen äußerst beschränkten Kreis von Arbeitern und überließ gerade die Hilfsbedürftigsten der bittersten Not. Zu ihnen gehörten aber die Frauen. Nicht nur, daß sie schwer sich entschließen konnten, von ihrem geringen Einkommen regelmäßige Beiträge zu den verschiedenen Vereinen und Kassen abzuziehen, sie sind auch, wie wir schon gesehen haben, äußerst schwer zu organisieren. Die Unverheirateten sehen die Fürsorge für Alter und Gebrechlichkeit als überflüssig an, weil sie meinen, daß die Ehe ihnen beides sichern wird, die Verheirateten darben sich jeden Pfennig lieber für ihre Kinder ab. In England allein traten schon Mitte des 19. Jahrhunderts Frauen in größerem Umfang den Friendly Societies bei oder gründeten für sich allein selbständige freie Hilfskassen; in Deutschland entstand die erste Kasse der Art auf Anregung der Gräfin Guillaume-Schack erst im Jahre 1884 in Offenbach a.M.; Frankreich kannte nur einen sehr kleinen Verein derselben Art, während seine Unterstützungs- und Versicherungsvereine entweder nur wenige weibliche Mitglieder hatten oder sie sogar statutenmäßig ausschlossen. Nur in Bezug auf Witwenunterstützung geschah hie und da etwas Nennenswertes für die Frauen.


Der Gedanke der staatlichen Zwangsversicherung für alle Arbeiter, wie er sich zuerst in Deutschland Bahn brach, war daher, vom Standpunkt der weiblichen Arbeiter aus betrachtet, ein außerordentlich fruchtbarer. Daran ändert die für die Geschichte der Arbeiterversicherung bezeichnende Thatsache nichts, daß ihre Urheber, wie es die kaiserliche Botschaft vom 17. November 1881 erklärte, die Schaffung der Arbeiterversicherung lediglich als eine Ergänzung zur "Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen", d.h. des Sozialistengesetzes, betrachteten.

Nacheinander wurden die Krankenversicherung, die Unfallversicherung und schließlich die Alters- und Invaliditätsversicherung eingeführt. Oesterreich, Frankreich und die Schweiz folgten langsam dem Beispiel Deutschlands, ohne indessen bisher die Versicherungsgesetzgebung so weit auszudehnen.

Eine Darstellung des geltenden Rechts in Bezug auf die Arbeiterinnen-Versicherungsgesetzgebung bringt nebenstehende Tabelle.

Wie die Tabelle zeigt, ist die obligatorische Arbeiterversicherung in Deutschland, dem Mutterland der Idee, am ausgiebigsten zur Durchführung gekommen. Aber wie es bei der Neuheit des ganzen Gedankens, dem Fehlen jeglichen Vorbilds und der Mangelhaftigkeit der statistischen Unterlagen nicht anders möglich war, leidet die Gesetzgebung auch hier an Mängeln sowohl in Bezug auf die Leistungen, als in Bezug auf das Bereich ihrer Ausdehnung.

Zuerst wurde die Krankenversicherung geordnet und für Arbeiter und Angestellte in Gewerbe und Handel zu einer obligatorischen gemacht. So segensreich sie sich aber auch im Vergleich zu jener Zeit erwies, wo sie selbst als private und freiwillige Versicherung nur für kleine Gruppen von Arbeitern existierte, so stellte sie sich doch bald als unzulänglich heraus. Eine ihrer schwächsten Seiten ist die Frage der Geldunterstützung. Wenn eine kranke Arbeiterin wöchentlich zwischen 4 und 5 Mark bekommt, so ist dadurch der Lohnausfall für die Familie natürlich nicht gedeckt, noch weniger aber ist sie in den Stand gesetzt, sich gehörig zu pflegen und gut zu ernähren. Dazu kommt, daß die schlecht bezahlten, überanstrengten Kassenärzte sie nur schablonenhaft behandeln können, und diesen dabei in jeder Hinsicht die Hände gebunden sind, weil die Kassenvorstände Verordnungen von Milch, Bädern, Wein etc. der hohen Kosten wegen meist nur sehr ungern sehen. Meines Erachtens müßte das Krankengeld bis zur Höhe des vollen Lohnes erhoben werden können, vor allem aber müßte die Krankenhauspflege in erweitertem Maße als bisher in Anwendung gebracht werden.

Diese Forderung stößt zunächst auf den Widerstand der Arbeiterinnen selbst und man pflegt sich nicht genug darüber zu empören, daß sie sich so energisch gegen die Aufnahme im Krankenhaus sträuben. Wer aber einmal die Säle und Krankenzimmer der Aermsten gesehen hat, wer sich erzählen ließ, wie Frauen und Mädchen zu Studienzwecken einer ganzen Reihe von Studenten sich darbieten müssen, wer sieht, mit welchem Entsetzen manche Arbeiterin an das Zusammensein mit vielen Kranken in einem Zimmer, deren Stöhnen und Jammern ihre Nächte zu qualvollen macht, zurückdenkt, der wird ihre Abneigung gegen das Spital durchaus berechtigt finden. An der Reorganisation der Krankenhäuser und der Krankenpflege muß daher der Hebel angesetzt werden, sollen sie wirklich der arbeitenden Bevölkerung zum Heil gereichen.

Die Krankenkassen haben aber auch nächst der Sorge für die Erkrankten die Pflicht, der Erkrankung vorzubeugen. Um die Möglichkeit hierzu zu gewinnen, müßten sie zunächst die Lebensbedingungen ihrer Mitglieder kennen lernen und im Auge behalten, was einerseits durch enge Fühlung mit den Gewerkschaften unterstützt werden könnte, andererseits dadurch am leichtesten geschähe, daß ihnen das Recht zustände, Sanitäts- oder Wohnungsinspektoren männlichen und weiblichen Geschlechts zu erwählen. Die Berliner Ortskrankenkasse der Kaufleute, die ihre Krankenkontrolleure dazu verwendet, hat damit gute Erfahrungen gemacht. Wie viel hygienisches Wissen, an dem es leider überall mangelt, könnte durch diese Organe der Krankenkassen verbreitet werden. Oft genügt ja ein verständiger Wink, um arme Arbeiterfrauen über Kinderpflege und Ernährung, über Lüftung, Alkoholgenuß etc. aufzuklären. In den weitaus meisten Fällen allerdings, wo Not und Elend die einzigen Ursachen von Krankheit und Siechtum sind, werden gute Ratschläge und Arzneien nichts helfen können, aber wenigstens sollte versucht werden, die Kinder von diesen Einflüssen einigermaßen frei zu machen: die Einrichtung von Ferienaufenthalten, die Gründung von Kinderasylen wäre eine weitere Aufgabe der Krankenkassen, deren Thätigkeitskreis sich mit Erfolg nach allen Richtungen erweitern ließe. Eine vernünftige Regierung sollte ihnen dabei in jeder Weise Vorschub leisten. Einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf die Verwaltung der Krankenkassen könnten in Deutschland die Arbeiterinnen gewinnen, wenn sie eines der wenigen Rechte, das sie besitzen, das aktive und passive Wahlrecht für die Krankenkassen-Verwaltungen in ausgiebigerer Weise noch als bisher benutzen wollten. Es wäre das zugleich eine Erziehung zum besseren Verständnis öffentlicher Angelegenheiten.

Diese Teilnahme der Frauen ist um so wichtiger und notwendiger, als die Krankenkassen auch die Trägerinnen der Wöchnerinnenunterstützungen sind. Der ganze Wöchnerinnenschutz wäre eine Phrase oder eine Grausamkeit, wenn man der Frau die Arbeit verbieten, sie aber zu gleicher Zeit mit ihrem Kinde dem Hunger preisgeben wollte. Die deutsche Krankenversicherung und mit ihr alle Versicherungen ähnlicher Art im Auslande, haben die Bestimmung getroffen, daß Wöchnerinnen bis auf die Dauer von sechs Wochen durch die Ortskrankenkassen, denen sie seit mindestens sechs Monaten angehören, eine Geldunterstützung erhalten müssen, die mindestens die Hälfte, oder auch bis zu drei Viertel des durchschnittlichen Tagelohnes betragen soll. Die ganze Halbheit der Maßregel ist auf den ersten Blick einleuchtend. Schon unter normalen Verhältnissen reicht der volle Lohn der Arbeiterin nicht aus, um die notwendigsten Bedürfnisse zu decken, wie viel weniger kann die Hälfte oder drei Viertel davon sich als genügend erweisen, wenn nicht nur die Wöchnerin, sondern auch das Kind davon gepflegt werden soll. Ist schon eine größere Familie vorhanden, für die gesorgt werden muß, so wird der Wöchnerinnenschutz und die Wöchnerinnenversicherung völlig illusorisch, weil die geringe Unterstützung nicht dazu ausreicht, für die Führung des Haushaltes einen Ersatz zu schaffen, und die arme Mutter gezwungen ist, so schnell als möglich das Bett zu verlassen, um selbst nach dem Rechten zu sehen. Das ist um so häufiger der Fall, als die Kassen nicht befugt sind, die Aufnahme der Schwangeren in eine Entbindungsanstalt oder der Wöchnerinnen in Reconvalescentenheimen zu veranlassen, denn im Sinne des Gesetzes gelten die Entbindung und ihre Folgen nicht als Krankheit, und freier Arzt und freie Verpflegung wird nur den Kranken zugesichert. Die völlige Unzulänglichkeit der Wöchnerinnenversicherung ist im wesentlichen auf ihre Verquickung mit der Krankenversicherung zurückzuführen, mit der sie, wie das Gesetz selbst anerkennt, im Grunde nichts zu thun hat. Die Krankenversicherung, die den Versicherten auf längstens 13 Wochen freien Arzt und Apotheke oder entsprechende Behandlung im Krankenhaus gewährt, die ferner berechtigt ist, die Krankenunterstützung bis auf ein Jahr zu verlängern, oder die Kranken in Reconvalescentenheimen unterzubringen, ging bei der Festsetzung der Höhe der Geldunterstützung von der Rücksicht auf eine mögliche starke Zunahme der Simulanten aus und sah sich deshalb verhindert, über den üblichen Lohn hinauszugehen, oder ihn auch nur zu erreichen.

Diese Besorgnis fällt bei der Frage der Wöchnerinnenunterstützung fort. Trotzdem sie nun aber eine, wie wir gesehen haben, völlig ungenügende ist, belastet sie die Ortskrankenkassen sehr erheblich. Nach den Jahresberichten der Berliner Allgemeinen Ortskrankenkasse waren im Jahre 1900 die Einnahmen pro Kopf der männlichen Mitglieder um 6,09 Mk. höher als die Ausgaben, während die Ausgaben pro Kopf der weiblichen Mitglieder die Einnahmen um 3,12 Mk. überstiegen. Die Ursache hiervon liegt nun zwar wesentlich in der allgemeinen traurigen Lage der weiblichen Arbeiter, zum großen Teil aber auch in der Vernachlässigung und mangelhaften Pflege der Schwangeren und Wöchnerinnen, die zahllose Unterleibserkrankungen im Gefolge haben. Was also die Kassen auf der einen Seite ersparen, das setzen sie auf der anderen wieder zu. Der Schutz der Frau als Mutter stellt an die Versicherungsgesetzgebung so weitreichende Anforderungen, daß sie im Rahmen der Krankenversicherung unmöglich erfüllt werden können. Sie müßten einer besonderen Mutterschaftsversicherung übertragen werden.

Die Mutterschaft ist eine gesellschaftliche Funktion, daher müßte der Staat sie ganz besonders unter seinen Schutz stellen und allen bedürftigen Müttern des Volks die beste Pflege in weitestem Maße zusichern. Dazu gehört eine Geldunterstützung während vier Wochen vor und acht Wochen nach der Entbindung in der vollen Höhe des durchschnittlichen Lohnes, freier Arzt, freie Apotheke, freie Wochenpflege einschließlich der Pflege des Säuglings und der Sorge für den Haushalt, die Errichtung von Asylen für Schwangere und Wöchnerinnen und von Entbindungsanstalten, eventuell auch die Errichtung von Krippen, wie wir sie im Interesse der Kinder schon gefordert haben. Die Mittel hierzu müßten, neben den Beiträgen der Versicherten, aus einer allgemein zu erhebenden Steuer hervorgehen, zu der vielleicht die Unverheirateten und kinderlosen Ehepaare besonders herangezogen werden könnten. Das entbehrt nicht eines komischen Beigeschmacks, weil es an die Hagestolzensteuer erinnert, die vielfach gewissermaßen als Strafe für das Ledigbleiben vorgeschlagen wurde, hat aber doch einen ernsten Hintergrund, da die Alleinstehenden und Kinderlosen unter den heutigen Verhältnissen thatsächlich ein weit sorgenloseres Leben führen, als die Verheirateten und Kinderreichen.951 Jedenfalls sollte die Frage der Aufbringung der Mittel bei einer Sache von so weittragender Bedeutung keine Rolle spielen. Ein Blick auf die Proletarierinnen und ihre Kinder müßte genügen, um die Notwendigkeit einer durchgreifenden Maßregel jedem vor Augen zu führen, daß sie noch nirgends in der hier befürworteten Ausdehnung zur Durchführung kam, beruht einmal auf der Neuheit des ganzen Versicherungswesens, und dann auf der Einsichtslosigkeit und Rechtlosigkeit der Frauen, die kein Mittel haben, ihre persönlichen Interessen wirkungsvoll zur Geltung zu bringen.

Auf die Krankenversicherung folgte die Einführung der Unfallversicherung, die in Deutschland, Oesterreich, der Schweiz, Norwegen und Finland obligatorisch ist. Sie wird nur von den Unternehmern aufgebracht, und hat daher den großen Vorteil gehabt, zur Sicherheit der Betriebe sehr viel beizutragen und so die Unfälle möglichst zu verhüten. Da aber der Begriff der Betriebsunfälle durchaus kein feststehender ist und auch ihre "vorsätzliche" Herbeiführung, die die Entschädigung ausschließt, sich nicht immer mit unbedingter Sicherheit feststellen läßt, die Renten überdies ganz unzureichende sind, so werden ihre Vorteile dadurch erheblich eingeschränkt. Das gilt in noch höherem Maße für die Invaliditäts- und Altersversicherung.

Deutschland gebührt der Ruhm den wahrhaft großen Gedanken, den Arbeiter, der im Dienst der Allgemeinheit seine Arbeitskraft verlor oder ein Alter erreichte, das ihm Ruhe gebietet, nicht der Armenpflege anheimfallen zu lassen, sondern ihm das Recht auf eine gesicherte Existenz zuzuerkennen. Nur traurig, daß die praktische Ausführung des Gedankens so weit hinter dem Ideal zurückblieb. Zunächst hat nur derjenige auf Invalidenrente Anspruch, der nicht mehr ein Drittel seiner normalen Erwerbsfähigkeit besitzt. Eine Arbeiterin also, die in gesunden Zeiten etwa 700 Mk. jährlich zu verdienen vermochte, nunmehr aber nicht mehr als 350 Mk. verdienen kann,—denken wir z.B. an Konfektionsarbeiterinnen, die durch jahrelanges Maschinennähen ihre Arbeitskraft soweit einbüßen,—hat, auch wenn sie dem größten Elend gegenübersteht, keinerlei Anspruch auf eine Rente. Sie muß nach wie vor, sei es durch Betteln oder durch die Schande der Prostituierung, einen Nebenerwerb sich zu verschaffen suchen, wenn sie nicht verhungern will. Ist aber ihre Erwerbsfähigkeit so weit vermindert, daß sie zum Empfang der Invalidenrente berechtigt ist, so ist sie dadurch weder von Sorge und Not, noch von der Notwendigkeit, um Armenunterstützung nachzusuchen, befreit. Die Invalidenrenten betragen nämlich:
Nach Beitragswochen In Lohnklasse
I II III IV V
Mk. Mk. Mk. Mk. Mk.
200 116 132 146 160 174
300 119 138 154 170 186
500 125 150 170 190 210
1000 140 180 210 240 270
1500 155 210 250 290 330
2000 170 240 290 340 390
2500 185 270 330 390 450

Bei der Niedrigkeit der Arbeiterinnenlöhne wird die dritte Lohnklasse (550-850 Mk. durchschnittliche Jahreseinnahme) im allgemeinen die höchste sein, für die Einzahlungen durch die Frauen geleistet werden können. Und nach fünfzig arbeitsreichen Jahren wird eine Rente von 330 Mk. erreicht! Wie aber, wenn die Invalidität früher und für Angehörige einer niedrigeren Lohnklasse eintritt?! Soll ein armes, vom Kampf ums Dasein vorzeitig zerriebenes Geschöpf mit 116, 150, 220 Mk. leben können?! Man hat bei der Festsetzung der Invalidenrente vielfach gefürchtet, die Arbeiter würden den Empfang dieses Goldregens gar nicht abwarten wollen und sich auf alle Weise die erforderliche Invalidität künstlich zuziehen. Bei der Aussicht auf diese Sätze wird das selbst der ärmsten Näherin nicht einfallen. Man glaubte ferner darauf Rücksicht nehmen zu müssen, daß durch die Gewährung der Renten nicht etwa die Verpflichtung der Familienangehörigen, sich gegenseitig zu unterstützen, aufgehoben würde, und hat nicht daran gedacht, daß die Möglichkeit dazu in der Arbeiterbevölkerung eine seltene ist. Trauriger noch steht es um die Altersrenten. Siebzig Jahre muß die Arbeiterin alt werden, ehe sie auf eine Rente von 110-230 Mk. rechnen kann! Hat sie das Glück, bei ihren Kindern wohnen zu können, so bedeutet die Summe immerhin eine erfreuliche Erleichterung für die meist trostlose Abhängigkeit der Alten von den Jungen, steht sie allein, so genügt sie auch nicht, um davon in irgend einem Altfrauen-Stift unterzukommen. Mit Darben und Arbeiten fing ihr Leben an, mit Darben und Betteln hört es auf.

Ein für die Frauen besonders wichtiger Versicherungszweig, dessen erste schüchterne Ansätze im deutschen Versicherungswesen zu finden sind, ist die Witwen- und Waisenversorgung. Während auf Grund der Krankenversicherung den Hinterbliebenen nur ein Sterbegeld zusteht und die Invalidenversicherung zur Rückerstattung der Hälfte der für den verstorbenen Versicherten gezahlten Markenbeiträge an die Witwe oder die Waisen verpflichtet ist,—eine Summe, die im besten Fall 200-300 Mk. beträgt,—gewährt die Unfallversicherung ihnen eine Rente bis zu 60% des Arbeitsverdienstes des Verstorbenen, ein Satz, der um so mehr als billig anerkannt werden muß, als er durch die etwaige Erwerbsfähigkeit der Witwe nicht geschmälert werden kann. Aber der Kreis derjenigen, die in den Genuß der Rente gelangen, ist ein äußerst geringer. Die große Masse der Arbeiterwitwen und -Waisen geht leer aus, und hat, nach dem Tode des Haupternährers, unter den schwierigsten Umständen für sich selbst zu sorgen. Zu dem notwendigsten Ausbau der Arbeiterversicherung würde daher eine allgemeine Witwen-und Waisenversicherung gehören, die durch allgemeine Steuern gedeckt werden müßte. Es scheint mir wenigstens eine selbstverständliche Forderung zu sein, daß die gesamte Gesellschaft überall dort einzutreten hat, wo die Interessen der Kinder, auf denen die Zukunft des Staates beruht, auf dem Spiele stehen.952

Krankheit und Unfall, Erwerbsunfähigkeit und Alter sind aber nicht die einzigen finsteren Mächte, die das durch niedrige Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen schon genug gefährdete Leben der Arbeiterin bedrohen. Denn selbst auf die Zeiten gewinnbringender Thätigkeit fällt verdüsternd der Schatten jener anderen Macht, in deren Bann sie immer wieder gerät, der Arbeitslosigkeit. Die Gewalt, die sie besitzt, der Schrecken, den sie verbreitet, ist zuerst von den Gewerkschaften anerkannt worden; durch Unterstützung der arbeitslosen Mitglieder, durch Arbeitsnachweis für sie suchten sie ihr zu begegnen. Besonders in Frankreich ist es der Verband der Gewerkschaften,—die Confédération générale du Travail,—und der Verband der Arbeitsbörsen,—die Föderation des Bourses du Travail,—die sich um die Organisation der Stellenvermittlung verdient gemacht haben. Der Gedanke aber, daß die Arbeitsvermittlung eine öffentliche Angelegenheit von höchster Wichtigkeit ist und daher vom Staat und von den Kommunen geregelt werden müsse, hat sich erst seit kurzem Geltung verschafft. Zuerst waren es schweizerische Gemeinden, die durch Gründung kommunaler Arbeitsnachweise mit dem guten Beispiel vorangingen, dann folgten deutsche, vor allem süddeutsche Städte, die sich schließlich zu einem "Verband deutscher Arbeitsnachweise" untereinander verbunden haben, um eine noch regere Arbeitsvermittlung zu ermöglichen.953 Mit Unterstützung der Arbeitsbörsen hat der französische Handelsminister die Einrichtung eines Zentralarbeitsnachweises unternommen, der die Bestimmung hat, alle Börsen miteinander in Verbindung zu bringen, also ungefähr dasselbe Ziel verfolgt, wie der deutsche Verband. Für die brennende Frage der Arbeitslosigkeit ist diese ganze Entwicklung von größter Bedeutung und diejenigen, die sie am nächsten angeht, müßten sie besonders lebhaft unterstützen. Erst eine vollkommen einheitliche Organisation des Arbeitsnachweises kann zu ersprießlichen Resultaten führen, kann zu einem klaren Bild des Arbeitsmarktes gelangen und Angebot und Nachfrage, soweit es möglich ist, miteinander in Einklang bringen. Die notwendige Voraussetzung dafür aber ist die völlige Unterdrückung der privaten Stellenvermittlung. Sie ist, besonders für die Arbeiterin, eine Quelle der Ausbeutung, und birgt Bakterienherde sittlicher Fäulnis. Von ihrer Vernichtung sollte man sich nicht durch sentimentale Rücksichten auf die Inhaber der privaten Bureaus abhalten lassen, die, soweit sie sich tüchtig genug erwiesen haben, im Bureaudienst der öffentlichen Vermittlung vielfache Verwendung finden können. Vor allem die arbeitsuchenden Frauen werden, bei der Beschränktheit ihres Gesichtskreises und ihrer Scheu vor jeder Berührung mit Organen der öffentlichen Verwaltung, immer wieder den Winkelagenten und Vermittlern aller Art in die Hände fallen, und niemals zum Genuß kommunaler oder staatlicher Stellennachweise gelangen, solange eine private Vermittlung daneben besteht. Daß diese Forderung keine utopische ist, beweist nicht nur die uns etwas weit abliegende und daher schwer kontrollierbare staatliche Stellenvermittlung Ohios, Neu-Seelands und der australischen Staaten, sondern vor allem das im November 1900 von der französischen Kammer angenommene Gesetz, das die allmähliche Beseitigung der privaten Stellenvermittlung zum Ziele hat und an deren Stelle ein Netz von unentgeltlichen Arbeitsnachweisen über das ganze Land verbreiten will. Ob der Senat es bestätigen wird, bleibt freilich noch abzuwarten. Seine Durchführung würde jedenfalls für die ganze Frage des Arbeitsnachweises einen großen Fortschritt bedeuten.

Aber selbst der vollendetste Arbeitsnachweis könnte die Arbeitslosigkeit nur mildern, aber nicht beseitigen, da er auf das Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage ganz ohne Einfluß bleiben wird. Je mehr der Saisoncharakter der Industrien sich entwickelt, desto häufiger werden die Arbeiter wochen- und monatelang aufs Pflaster geworfen werden; jede wirtschaftliche Krise vor allem beraubt Hunderte und Tausende der Grundlagen ihrer Existenz. Die Kommunen suchten dem neuerdings in erweitertem Maße durch Notstandsarbeiten zu begegnen, wobei aber vor allem die Männer Berücksichtigung finden. Wo man den Frauen helfen wollte, geschah es meist in verkehrer Weise durch Einführung von Heimarbeit aller Art. In Lille z.B. wurden sie mit der Anfertigung von Kinderkleidern beschäftigt, die in kleineren Geschäften ihre Abnehmer fanden. Als ausreichend erwiesen sich die Notstandsarbeiten nirgends. Die Versicherung gegen unverschuldete Arbeitslosigkeit muß daher die Ergänzung des geregelten Arbeitsnachweises sein.

Alle Versuche auf diesem Gebiet sind bisher entweder in den ersten Anfängen stecken geblieben, wie die fakultativen Winterversicherungen der Städte Bern und Köln, oder völlig fehl geschlagen, wie die obligatorische allgemeine Versicherung von St. Gallen. Diese Mißerfolge auf einem so schwierigen Gebiet dürften Sozialpolitiker und Gesetzgeber aber nicht davon abschrecken, auf andere Mittel und Wege zu sinnen, um die Arbeitslosen nicht dem Elend preiszugeben, oder der Armenpflege und der Privatwohlthätigkeit zu überlassen.

Die ideelle Bedeutung der Arbeiterversicherung beruht nicht zum mindesten darauf, daß der Begriff des Almosens durch sie immer mehr eliminiert wird, und an seiner Stelle der Gedanke an Boden gewinnt, daß jeder Mensch auf die Sicherstellung seiner Existenz ein Anrecht hat. Um ihn zum herrschenden zu machen, bedarf es aber nicht nur der Versicherung gegen jede drohende Not und Gefahr, sondern vor allem der Ausdehnung der Zwangsversicherung auf das ganze Volk, zunächst wenigstens auf alle Lohnarbeiter, wie es durch die deutsche Invaliditätsversicherung bereits geschehen ist. Diese Ausdehnung würde neben den direkten Vorteilen, indirekte von großer Tragweite mit sich führen. So wäre sie eines der Mittel, die Heimarbeit einzuschränken, da der Unternehmer, der die Heimarbeiter versichern muß, weniger Ersparnisse als bisher durch ihre Beschäftigung machen und der Zwang zur Unfallversicherung ihn geneigter machen dürfte, eigene Werkstätten einzurichten. Die statutarische oder gar die freiwillige Versicherung haben ihre Wirkungslosigkeit überall erwiesen. Hat doch z.B. die Berliner Hausindustrie, deren traurige Zustände durch eine Reihe von Untersuchungen und nicht zuletzt durch den großen Konfektionsarbeiterstreik jedermann bekannt waren, fast ein Jahrzehnt warten müssen, ehe auch nur die Krankenversicherung auf sie ausgedehnt wurde. Und die Dienstboten, für die zwar die Herrschaften auf die Dauer von 6 Wochen zur Verpflegung und ärztlichen Behandlung,—sofern nicht "grobe Fahrlässigkeit" die Krankheitsursache ist,—verpflichtet sind, spüren von den Segnungen der Versicherung noch fast gar nichts.

Uebersicht der Arbeiterinnenversicherung.

Deutschland

Krankenversicherung: Umfang:

Zwangsversicherung: für Arbeiter und Angestellte in Gewerbe und Handel.

Statutarisch: für Landwirtschaft und Hausindustrie.

Freiwillig: für Dienstboten.

Krankenversicherung: Leistungen:

Freie ärztliche Behandlung und Arznei längstens für 13 Wochen oder Krankengeld: 50-75% des zu Grunde zu legenden Lohns. Wochenbettunterstützung: bis auf die Dauer von 6 Wochen. Sterbegeld: das Zwanzig- bis Vierzigfache des Tagelohns (letzteres beides nur durch Orts-, Betriebs-, Bau-, oder Innungskassen). Rekonvalescentenfürsorge bis auf die Dauer eines Jahrs.

Unfallversicherung: Umfang:

Zwangsversicherung für: Arbeiter und Betriebsbeamte in Gewerbe und Landwirtschaft. Statutarisch: für Betriebsbeamte mit Jahresgehalt über 2000 Mk., Kleinunternehmer in Baugewerbe und Landwirtschaft. Freiwillig für Unternehmer und nicht versicherungspflichtiges Personal.

Unfallversicherung: Leistungen:

Freie Kur und Unfallrente bis 66-2/3% des Jahreslohns, oder freie Anstaltspflege nebst Angehörigenrente von der 13. Woche an bis 60% des Jahreslohns. Sterbegeld in der Höhe des zwanzigfachen Tagelohns, Hinterbliebenenrente bis 60% des Jahreslohns. Schadenersatz bei Verletzungen.

Invaliden- und Altersversicherung: Umfang:

Zwangsversicherung für alle Lohnarbeiter und Angestellte. Durch Beschluß des Bundesrats Ausdehnung auf Kleinunternehmer und Hausindustrielle.

Invaliden- und Altersversicherung: Leistungen:

Freie Kur nebst Angehörigenunterstützung zur Verhütung der Invalidität. Beitragserstattung bei Tod oder Heirat. Nach vollendetem 70. Lebensjahr eine Altersrente nach Lohnklassen abgestuft von 110 bis 230 Mk. jährlich. Nach eingetretener Invalidität eine nach der Zahl der Beitragswochen und der Lohnklassen abgestufte Rente, deren unterste Grenze 116,40 Mk. beträgt, deren oberste bis 450 Mk., nach 50 Jahren Beitragszahlung in der obersten Lohnklasse, betragen kann.

Oesterreich

Krankenversicherung: Umfang:

Zwangsversicherung für Arbeiter und Betriebsbeamte im Gewerbe.

Freiwillig: für Landwirtschaft und Hausindustrie.

Krankenversicherung: Leistungen:

Wie in Deutschland aber: Unterstützungsdauer bis zu 20 Wochen. Krankengeld 60% des ortsüblichen Lohns.

Unfallversicherung: Umfang:

Zwangsversicherung für Arbeiter und Betriebsbeamte in der Industrie, im Baugewerbe, in maschinellen Betrieben der Landwirtschaft. Freiwillig für Unternehmer und nicht versicherungspflichtiges Personal.

Unfallversicherung: Leistungen:

Unfallrente bis 60% des Lohns von der 5. Woche ab. Hinterbliebenenrente bis 50% des Jahreslohns. Sterbegeld. Schadenersatz wie in Deutschland.

Invaliden- und Altersversicherung: Umfang:

Zwangsversicherung nur für Bergarbeiterinnen, Witwen- und Waisenversicherung im Bergbau. Zwangsversicherung in Vorbereitung.

Invaliden- und Altersversicherung: Leistungen:



Frankreich

Krankenversicherung: Umfang:

Freiwillig für Arbeiter aller Berufszweige.

Krankenversicherung: Leistungen:

Nur Kranken- und Sterbegeld, nicht Arzt und Anstaltspflege.

Unfallversicherung: Umfang:

Freiwillig für Arbeiter und Betriebsbeamte im Gewerbe.

Unfallversicherung: Leistungen:

Unfallrente vom 5. Tage ab bis 50% des Lohns. Invalidenrente bis 66-2/3% des Jahreslohns. Rente bis 60% des Lohns für Hinterbliebene. Begräbniskosten.

Invaliden- und Altersversicherung: Umfang:

Freiwillig für alle Staatsbürger, Zwangsversicherung in Vorbereitung.

Invaliden- und Altersversicherung: Leistungen:

Altersrente für mindeste Fünfzigjährige; Invalidenrente für Erwerbsunfähige, Beitragserstattung im Todesfall.

Großbritannien

Krankenversicherung: Umfang:

Freiwillig für Arbeiter aller Berufszweige.

Krankenversicherung: Leistungen:

Freiwillig.

Unfallversicherung: Umfang:

Freiwillig für Arbeiter und Betriebsbeamte im Gewerbe. Haftpflichtgesetz.

Unfallversicherung: Leistungen:

Unfallrente bis 50% des Lohns von der 3. Woche ab, oder Kapitalabfindung, Auszahlung eines Kapitals bis zum dreifachen, Jahreslohn an die Hinterbliebenen.

Invaliden- und Altersversicherung: Umfang:

Freiwillig für alle Staatsbürger.

Invaliden- und Altersversicherung: Leistungen:

Leibrenten von durchschnittlich 350 Mk.