Die Landwirtschaft: Die Gliederung der ländlichen Arbeiterschaft.

Das landwirtschaftliche Gesinde. — Die Instleute, Scharwerker, Deputanten und Heuerlinge. — Die Tagelöhner. — Die Wanderarbeiter. — Die Arbeitsbedingungen der landwirtschaftlichen Arbeiterinnen. — Die ländlichen Arbeiterwohnungen. — Die Sittlichkeit auf dem Lande.

Während die Industriearbeiterin und die Handelsangestellte Erscheinungen sind, die in den Augen der meisten feste Gestalt gewonnen haben, die das Interesse der Nationalökonomen, der Politiker und der Gesetzgeber erregen, ist die Landarbeiterin bisher ein ziemlich vager Begriff geblieben. Man ereifert sich höchstens über ihre Landflucht und wundert sich, daß sie ihr gesundes, gesichertes Leben so leichten Herzens preisgiebt. Wie dies Leben sich in Wirklichkeit abspielt, das machen sich nur Wenige klar und diese wenigen müssen sich teils auf ihre eigenen beschränkten Beobachtungen, teils auf Privat-Untersuchungen stützen, die auch immer nur unzulänglich bleiben können. Aber noch durch einen anderen Umstand wird die Kenntnis der Lage der Landarbeiterinnen erschwert.


Sie bilden keine durch gleiche Arbeitsbedingungen gekennzeichnete Masse, sie gliedern sich vielmehr in zwei Kategorien von Arbeitern: die kontraktlich gebundenen und die freien, und in eine ganze Anzahl von Unterabteilungen beider. Zu den ersteren gehören zunächst die in festem Jahreslohn stehenden Mägde, die Wohnung und Nahrung von der Herrschaft empfangen und deren Arbeit eine teils häusliche, teils landwirtschaftliche ist. Zu ihnen gehören ferner im ostelbischen Deutschland die Instleute, die vom Gutsherrn Wohnung und ein Stück Land, außerdem einen gewissen Anteil am Ertrage des Gutes erhalten, dafür aber nicht nur ihre eigene und die Arbeitskraft ihrer Frau in seinen Dienst stellen, sondern auch eine Anzahl, gewöhnlich zwei, andere Arbeiter für den Gutsherrn halten müssen; es sind das die Scharwerker, meist Angehörige des Instmanns, seine Töchter und Söhne, auch seine Mutter oder sein Enkelkind, sehr oft aber auch fremde Mägde und Knechte, die der Instmann zu dem Zweck dingt.729 Im Westen Deutschlands nehmen die Heuerleute eine ähnliche Stellung ein, nur daß ihnen Wohnung und Land nicht geliefert wird, sondern daß sie es gegen geringes Entgelt pachten müssen, dafür aber verpflichtet sind, für eine bestimmte Reihe von Tagen um die Hälfte des ortsüblichen Lohns für den Besitzer Arbeit zu leisten.730 Eine breite Schicht der Landarbeiter sind in Ostelbien auch noch die Deputanten, die neben dem Lohn rohe Lebensmittel geliefert bekommen. Im übrigen Deutschland wiederholt sich häufig den Tagelöhnern gegenüber eine gleiche Art der Entlohnung. Neben diesen Arbeiterkategorien finden sich noch die Tagelöhner mit selbständigem Landbesitz, von dessen Ertrag sie jedoch nicht leben können, so daß sie gezwungen sind Lohnarbeit zu suchen. Sie gehören ebenso zweifellos zu den Proletariern, wie ihre Frauen, obwohl diesen zumeist die Bearbeitung und Bestellung der eigenen kleinen Landwirtschaft obliegt. Auch der Bauer und die Bäuerin, die keine Lohnarbeiter beschäftigen, sondern sich von früh bis spät allein abrackern, um sich vom Ertrage ihrer Mühen zu ernähren, sind, trotzdem sie auf eigenem Grund und Boden stehen, nichts anderes als Proletarier.731

Die eigenartigste Klasse unter dem ländlichen Proletariat ist die der Wanderarbeiter. Unter dem Namen Sachsengänger begegnen wir ihnen in Deutschland; in England war es das Gangsystem, das ihre Beschäftigung beförderte; in Frankreich sind es zum großen Teil belgische Arbeiter, die sich saisonweise verdingen; auch in Amerika zeigt sich je nach den Erfordernissen der landwirtschaftlichen Betriebe eine innere Wanderung der Arbeiter. Während das landwirtschaftliche Gesinde und die Instleute die älteste Art der Landarbeiter, gewissermaßen die Nachkommen der Hörigen und Leibeignen, darstellen, repräsentieren die Wanderarbeiter die modernisierte Landwirtschaft. Sie nimmt durch das Eindringen der Maschinen, besonders der Dreschmaschinen, die in kurzer Zeit eine Arbeit verrichten, durch die sonst wochenlang viele Arbeiter Beschäftigung fanden, mehr und mehr den Charakter des Saisongewerbes an. Die intensivere Kultur der landwirtschaftlichen Betriebe,—dabei sei nur an die Molkereien und an die Zuckerrübenpflanzungen erinnert,—zu der die zu geschäftlichen Unternehmern sich umwandelnden Landwirte notwendig gedrängt werden, unterstützt gleichfalls die allmähliche Umwandlung des ländlichen Proletariats.732 In England, das zwar im allgemeinen noch alle Arten landwirtschaftlicher Arbeiter beschäftigt: mit eigenem Land, mit Allotment, mit Haus- und Gartenüberlassung oder mit bestimmtem Deputat, hat sich diese Umwandlung besonders im Osten, wo nur mit wöchentlich oder täglich engagierten freien Tagelöhnern gearbeitet wird, schon vollzogen.733 Bezeichnend dafür ist, daß der Begriff des Landarbeiters im modernen Sinn erst im 19. Jahrhundert entstand, denn der Bedarf an Landarbeitern wurde früher durch die zum Dienst verpflichteten Bauern, in Preußen auch durch die zum Zwangsgesindedienst genötigten Bauernkinder734, in außereuropäischen Ländern, besonders in Amerika, durch die Sklaven gedeckt.

Aus dem Gesagten geht hervor, daß es sehr schwierig ist, die Einnahmen der Landarbeiter festzustellen, die sich aus Geld und Naturallohn, aus freier oder pachtweiser Ueberlassung von Wohnung und Land, aus Anteilen am allgemeinen Gutsertrag zusammensetzen. Was zunächst das ländliche Gesinde betrifft, so variiert allein in Deutschland sein Jahreslohn ungemein. Er ist am niedrigsten, wo die Frauenarbeit am stärksten ist; je weiter nach Osten, desto tiefer sinkt er. In Ostpreußen kamen Mägdelöhne von 50 Mk. vor; Kuhmägde pflegen 75 bis 80 Mk. jährlich zu verdienen, sogenannte Leuteköchinnen 90 Mk. Im Westen und Süden, z.B. in Oldenburg, Hannover, Hessen und Württemberg, variieren die Frauenlöhne zwischen 50 und 150, 75 und 150, 60 und 100, 50 und 150 Mk.735 Die höchsten Lohnsätze finden sich in Schleswig-Holstein und im Jeverlande, wo der Mangel an Mägden schon zu einer großen Kalamität geworden ist. Hier beträgt der niedrigste Lohn 90 Mk., die Großmägde kommen zu einem Verdienst von 200 bis 230 Mk., Löhne von 250 Mk. werden auch zuweilen gezahlt.736 Neben diesem Geldlohn wird Verpflegung und Wohnung selten berechnet; für Württemberg werden die Ausgaben für eine Magd einschließlich des Versicherungsgeldes und der Geschenke mit 120 bis 230 Mk. angegeben, so daß ihre Gesamteinnahme 295 bis höchstens 400 Mk. jährlich beträgt.737 So begegnet uns hier wieder die beinahe typische Jahreseinnahme aller schlecht gestellten Proletarierinnen. Die französischen Landmägde stehen sich, was den Lohn betrifft, der 150 bis 200 fr. zu betragen pflegt, noch schlechter, ihre Beköstigung dagegen wird im allgemeinen höher veranschlagt werden dürfen.738

Bedeutend schwieriger ist es, die Jahreseinnahme der ostelbischen Instleute und ihrer Scharwerker, und der westdeutschen Heuerlinge festzustellen, da sie von der Beschaffenheit dessen, was ihnen geliefert wird, von ihrer eigenen Geschicklichkeit, etwa im Aufziehen und Verkaufen von Vieh und Geflügel, und von dem jeweiligen Anteil an dem Ertrag des Gutes abhängig ist. Der Geldlohn der Frauen beträgt gewöhnlich im Sommer 30 bis 50, im Winter 20 bis 35 Pf. täglich. Dieser Lohn wird jedoch niemals der Frau direkt, sondern stets dem Instmann, als dem Familienoberhaupt, mit dem der Arbeitsvertrag zugleich für seine Frau und seine Scharwerker abgeschlossen wurde739, ausgezahlt. Für seine Frau, noch mehr aber für die Scharwerksmädchen, die er natürlich bei der eigenen Armut nur auf das notdürftigste unterhält, bedeutet das eine große Benachteiligung. Ihr sauer verdienter Lohn fließt nur zu oft in die Tasche des Schankwirts. Kein Wunder daher, wenn nur sehr niedrig stehende, physisch oder moralisch herabgekommene Mädchen sich zum Scharwerksdienst verstehen wollen. Weit besser ist die Lage der westdeutschen Heuerlingsfrauen, obwohl auch sie von den Männern vollständig abhängig sind. Sie sind jedoch nur zu einem geringeren Maß von Arbeit verpflichtet und ihre Pachtung wirft ihnen mehr ab, als der dürftige Boden des ostelbischen Instmanns. Die bevorzugteste Schicht der kontraktlich gebundenen Landarbeiter sind aber diejenigen, die nicht wie die Instleute zum großen Teil abhängig sind von den schwankenden Erträgnissen des herrschaftlichen Gutes, noch wie die Heuerlinge von denen der eigenen Pachtung, sondern die neben dem Lohn ein festes Deputat erhalten. Da aber auch dieses ein Familieneinkommen darstellt, so ist damit auch die Frau zur Arbeit verpflichtet. In allen drei Fällen, bei den Instleuten, einschließlich der Scharwerker, den Heuerlingen und den Deputanten, wiederholt sich demnach dasselbe eigentümliche Bild einer völligen Abhängigkeit auch der arbeitenden Frau von ihrem Ehemann. Die Stellung einer selbständigen Lohnarbeiterin ist für sie nur ein toter Begriff, sie ist nichts als der dritte Arm des Mannes, von einem bestimmten ihr zufallenden Lohn kann nicht gesprochen werden.

Eine Stufe höherer Entwicklung in Bezug auf die Selbständigkeit des weiblichen Landarbeiters bedeutet daher die freie Tagelöhnerarbeit. Auch sie wird teils nur durch Geld, teils durch Geld und Beköstigung entlohnt, und zwar ist der Lohn nicht nur niedriger als der des Mannes,—obwohl die Arbeitsteilung nicht immer dazu berechtigt,—sehr häufig wird den Frauen auch eine geringere Menge an Nahrung gewährt, wodurch die Ersparnis des Gutsbesitzers durch weibliche Arbeit noch erhöht wird. Ueber die Lohnverhältnisse in Deutschland giebt folgende Tabelle einige Aufklärung:740
Land ohne Kost Pf. mit Kost Pf.
Posen 30- 50 --
Regierungsbezirk Magdeburg 60-130 40- 90
Regierungsbezirk Merseburg 60-125 40- 90
Regierungsbezirk Erfurt 70-130 50-120
Provinz Hannover 70-150 40- 80
Regierungsbezirk Kassel 60-150 30-100
Provinz Hessen-Nassau 80-150 50-100
Großherzogtum Hessen 80-175 30-100
Provinz Schleswig-Holstein 50-150 20-120
Herzogtum Anhalt 70-150 40- 75
Thüringische Staaten 60-150 40-100
Königreich Sachsen 60-150 40- 80
Bayern 60-120 30-100
Hohenzollern 70-220 30-160

Die höchsten Löhne werden im Sommer, hauptsächlich zur Erntezeit gezahlt, die niedrigsten im Winter. Eine ununterbrochene Arbeit zu allen Jahreszeiten hat keine Tagelöhnerin. Rechnen wir, daß sie etwa 250 Tage voll beschäftigt ist, davon während 125 Tagen den höchsten täglichen Durchschnittslohn (ohne Kost) mit 1,43 Mk., also im ganzen 178,75 Mk., während weiterer 125 Tage den täglichen Mindest-Durchschnittslohn mit 63 Pf., also im ganzen 78,75 Mk. erhält, so erreicht sie einen Jahresverdienst von 257,50 Mk. Berechnen wir ihre Einnahmen mit Beköstigung nach demselben Schema, so beträgt ihre Jahreseinnahme nur 172,50 Mk. Daß diese Summen noch viel zu hoch gegriffen sind, geht z.B. aus der Berechnung der Einnahme einer Tagelöhnerfamilie in Holstein hervor, wo Mann und Frau zusammen bei fleißigster Arbeit nur 450 bis 600 Mk., jährlich verdienen.741 Uebersteigt die Zahl der Familienglieder vier Personen, sind womöglich alte Eltern oder kränkliche Angehörige mit zu versorgen, so ist eine Existenz auf Grund solcher Einnahmen eine äußerst kümmerliche. Hat der Tagelöhner eigenen Landbesitz, zieht er Schweine oder Geflügel, so kann seine Einnahme sich auf 700 bis 800 Mk. steigern742, dann ist aber auch die Arbeitskraft der Frau eine bis an die Grenze des Möglichen ausgenutzte, da ihr fast ganz allein die Bewirtschaftung des eigenen Landes und die Zucht der Tiere zufällt.743 In der schlimmsten Lage aber befindet sich die Alleinstehende, um so schlimmer, wenn sie Kinder hat. Selbst auf dem Lande läßt sich das Leben mit einem Einkommen von 150 bis 250 Mk. nicht fristen. Die Kinderarbeit mit all ihren Schrecken, das Hütekinderwesen mit seinen traurigen Folgen an physischer und sittlicher Verwahrlosung sind die nächsten selbstverständlichen Resultate solcher Lohnverhältnisse.

In Frankreich sind sie kaum besser. Der Durchschnittsverdienst der Frauen beträgt im Winter ohne Kost 1,42 fr., mit Kost 79 c.; im Sommer 1,87 fr. resp. 1,14 fr.744; in einzelnen Landstrichen, z.B. in der Bretagne, sinken die Löhne bis auf 50 c. resp. 1 fr. täglich, während sie andererseits freilich zuweilen, z.B. in der Normandie, bis auf 2 und 3 fr. steigen745; im allgemeinen übersteigt die Jahreseinnahme der französischen Tagelöhnerin höchst selten 229 fr., während 300 fr. das mindeste ist, womit ein Existenzminimum ihr gesichert wird.746 Ihre deutsche Arbeitsgenossin im fernen Osten, wo in kurzer Sommerszeit mühsam der Erde ihre Früchte abgerungen werden, hat also keinen Grund, die Schwester in dem sonnigen, reichen Frankreich zu beneiden. In einer etwas besseren Lage befindet sich die englische Landarbeiterin. Sie nimmt, wie wir gesehen haben, an Zahl rapide ab, infolgedessen steigen ihre Löhne und ermöglichen ihr ein erträgliches Leben.747 Mehr und mehr aber beschränkt sie sich auf die ausschließliche Bewirtschaftung des eigenen kleinen Eigentums, während ihr Mann als Tagelöhner in Arbeit geht. Mit ihr auf gleicher Stufe steht die Frau und die Tochter des kleinen selbständigen Landwirts, nur daß ihre Einkommen lediglich vom Ertrage ihrer Besitzung abhängen. Sie sind fast immer wahre Arbeitssklaven, sehr häufig tüchtiger als die Männer, die nur zu oft dem Alkoholteufel zum Opfer fallen. Trotzdem sind diese armen Proletarierinnen von ihnen abhängiger, als irgend eine Lohnarbeiterin von ihrem Arbeitgeber. Ihre Arbeit wird als eine ebenso selbstverständliche angesehen, wie die der Instmannsfrau, und ihr klingender Ertrag fließt allein in die Tasche des Familienoberhauptes. Dies Verhältnis vollkommener Abhängigkeit drückt sich in der Picardie noch heute dadurch aus, daß die Frau ihren Mann nicht anders nennt als mon maître, und der Mann sein Weib in der Vendée nicht anders als ma créature.748

Eine ganz andere Stellung nimmt die Wanderarbeiterin ein. Nichts fesselt sie an die Scholle, weder ein Anteil am Ertrag des Herrengutes, noch der eigene Besitz, noch der Jahreslohn der Dienstmagd. Wie die Fabrikarbeiterin ist sie nichts als Arbeitsmaschine, jede Spur eines persönlichen Verhältnisses zwischen Herr und Knecht hat aufgehört. Die Ausbreitung landwirtschaftlicher Maschinen, die Ablösung ländlicher Winterarbeiten durch die Fabriken, wodurch es mehr und mehr an Beschäftigung für die seßhaften Arbeiter fehlt, die Ausdehnung schließlich des Eisenbahnnetzes, die den Verkehr erleichtert, hat die Wanderungen ländlicher Arbeiter überall begünstigt. Oft, wie z.B. in Frankreich, handelt es sich um nicht organisierte innere Wanderungen, oft werden aber auch Ausländer, wie in Frankreich Belgier, in Oesterreich Italiener, in Deutschland Italiener, Oesterreicher und russische Polen eingeführt. In größerem Umfange organisierte Wanderungen finden sich aber nur in Deutschland und England. Agenten, wahre Sklavenhalter, treiben hier wie dort die Menschenherde zusammen und führen sie truppweise ihrer Bestimmung zu. Sie stehen als Aufseher mit der moralischen, oft aber auch mit einer sehr materiellen Peitsche bei der Arbeit hinter ihnen, denn häufig richtet sich ihr Lohn nach der Arbeitsleistung der Arbeiter. Wanderungen englischer Landarbeiter waren noch ganz besonders berüchtigt deshalb, weil fast ausschließlich Kinder dazu angeworben, und, infolge ihrer völligen Wehrlosigkeit dem Gangmeister gegenüber, auf das äußerste ausgenutzt und in ihren Einnahmen benachteiligt wurden. In dieser schlimmsten Form ist das System heute überwunden, ohne daß die Wanderungen deshalb aufgehört haben. In Deutschland haben sie unter dem Namen der Sachsengängerei den größten Umfang angenommen.

Ihre Entstehung und ihren Namen hat sie der Rübenzuckerkultur in Sachsen zu verdanken, die während bestimmter Zeiten die Anstellung zahlreicher Arbeitskräfte notwendig machte. Nach und nach fanden die Wanderarbeiter auch zu jeder Art anderer Landarbeit Verwendung. Sie rekrutieren sich aus den östlichen Provinzen Preußens und bestehen großenteils aus jungen Mädchen. Für das Jahr 1890 wurden 75000 Personen gezählt, die sich von Brandenburg, Pommern, Westpreußen, Posen und Schlesien aus auf die Wanderschaft begaben.749 Auf sächsischen Gütern kommen auf 150 Männer 337 Mädchen.750 Der normale Lohn für sie beträgt 1 Mk., während die Männer durchschnittlich 50 Pf. mehr zu verdienen pflegen.751 Es kommen aber auch Löhne von 1,50 bis 3 Mk. vor.752 Außerdem wird Wohnung, zum Teil auch Beköstigung,—natürlich bei niedrigeren Lohnsätzen,—gewährt. Charakteristisch ist, daß der Unterschied zwischen der Bewertung der Männer- und der Frauenarbeit sich bis auf die Reisevergütung ausdehnt, die für Frauen ein Drittel weniger beträgt als für Männer.753 Der Gesamtverdienst einer Sachsengängerin ist bei einer Beschäftigungszeit von 34 Wochen im Minimum auf 369 Mk., im Maximum auf 424 Mk. geschätzt worden.754 Das würde jedoch einem Tagesverdienst von 1,80 bis 2 Mk. entsprechen, der,—besonders wo in Akkord gearbeitet wird,—nur von den tüchtigsten, mit der Arbeit vertrauten Mädchen erreicht wird. Saisonverdienste von 200 bis 250 Mk. sind durchaus keine Seltenheit. Trotzdem sind infolge äußerster Sparsamkeit und wahrhaft trostloser Unterernährung fast alle Mädchen im stande, Ersparnisse zu machen, die die Höhe von 120 bis 180 Mk. erreichen. Möglich ist das nur, wenn die Wochenausgaben für die Kost 3,50 bis 4,50 Mk. nicht übersteigen.755 Nun wird aber auch, obwohl die Sachsengängerinnen eine starke Abneigung dagegen empfinden, neben dem Lohn vielfach die Beköstigung geliefert. Die Lohnabzüge jedoch stehen zur Qualität und Quantität der dafür gegebenen Nahrung in keinem Verhältnis; auf einem Gute im Kreise Halle z.B. betrug die Ausgabe des Besitzers für die Ernährung der Sachsengänger pro Person und Woche 1,20 Mk., auf einem anderen gar nur 75 Pf., d.h. in dem einen Fall täglich 17, in dem anderen 11 Pf.756,—Summen, die gewiß das Ideal der Volksernährung repräsentieren!—Nach beendigter Saison pflegen die Sachsengänger in ihre Heimat zurückzukehren, wo sie zumeist von ihren Ersparnissen oder, wenn diese nicht zureichen, von den Erträgnissen hausindustrieller Thätigkeit zu leben pflegen. Mädchen, die nur 200 Mk. verdient haben, also bei größter Sparsamkeit kaum 70 bis 80 Mk. zurücklegen konnten, wären natürlich nicht im stande, während 18 Wochen davon zu existieren, wenn sie nicht bei ihren Angehörigen, die sie in der Regel dafür entschädigen müssen, ein Unterkommen fänden. Bringen sie, wie es häufig geschieht, von einer ihrer Wanderfahrten eine lebendige Erinnerung mit nach Hause, so reicht auch die Einnahme einer gutgestellten Sachsengängerin nicht aus, um sich und das Kind zu erhalten. Sie muß auch während der Winterwochen, die sie so dringend nötig hat, um sich nach der übermäßigen Anstrengung des Sommers zu erholen, Arbeit suchen, die, wenn sie überhaupt zu finden ist, nur kärglichen Lohn abwirft.

Nach alledem dürften es kaum die Löhne sein, die den immer wieder behaupteten Vorteil der Landarbeit vor der Industriearbeit ausmachen können. Ihr niedriger Stand wird von den Lobrednern der landwirtschaftlichen Thätigkeit auch vielfach nicht geleugnet, wohl aber damit erklärt und entschuldigt, daß die Arbeits- und Lebensbedingungen unvergleichlich bessere seien, als in anderen Berufssphären, und der Nachteil des geringeren Einkommens dadurch zehnfach aufgewogen würde. Diese Auffassung rief auch jenes Märchen von den drallen Landmägden und den blühenden Landkindern hervor, das von der Zeit her, als die Dorfgeschichten grassierten, den Menschen noch besonders fest im Kopfe sitzt. Für diejenigen, die nicht die Wirklichkeit zu sehen verstehen, hat die moderne Malerei, die gerade nach dieser Richtung besonders wahrhaftig ist, angefangen, ihren Märchenglauben zu erschüttern. Versuchen wir es an der Hand der Thatsachen. Die schwerwiegendste ist die der ungeregelten Arbeitszeit. Bei allen landwirtschaftlichen Arbeiterkategorien dauert sie in der Zeit der Bestellung und besonders während der Ernte vom ersten Morgengrauen bis zum Sonnenuntergang. Für das festangestellte Gesinde giebt es dabei kaum Saisonunterschiede; denn alle Arbeiten, die ihm obliegen, im Viehstall, im Hühnerhof und im Haus, erleiden keine Unterbrechung. Die Sachsengänger repräsentieren auch nach dieser Richtung einen leisen Fortschritt, indem ihre Arbeit auf die Zeit von früh fünf bis abends sieben Uhr, mit Unterbrechungen von im ganzen zwei Stunden, festgesetzt zu sein pflegt.757 Das schließt aber natürlich Ueberstundenarbeit nicht aus, die noch dazu, wo es sich nicht um Akkordlohn handelt, keinerlei Vergütung erfährt. Eine zwölf- bis vierzehnstündige Arbeit in frischer Luft mag nun manchen als etwas ganz Erträgliches erscheinen, der nicht weiß, worin sie besteht, oder sich bei dem Gedanken daran nur ein jodelndes "Diandl" vorstellt. Betrachten wir die Thätigkeit der Landarbeiterin mit nüchternen Augen, so wird sie schnell jeder Poesie entkleidet sein. Eine anstrengende ist schon die Arbeit der Mägde im Kuhstall, und nicht aus bloßem Uebermut gehen jetzt schon viele ihr aus dem Wege. Ganz abgesehen von der schlechten Luft und dem Schmutz, denen sie dauernd ausgesetzt sind,—die meisten Ställe sprechen den geringsten Anforderungen der Hygiene Hohn,—ist das Melken anstrengend und gesundheitsschädlich. Geschwüre an den Händen sind keine Seltenheit und eine Arbeitsunterbrechung in diesem Fall, die sowohl im Interesse der Arbeiterin als der Milchkonsumenten liegen würde, wird nur selten für notwendig erachtet. Niemand wird sich des Schauderns erwehren können, der in die dunklen, stickigen Ställe tritt und sieht, wie sich die Kuh vom schmutzigen Lager erhebt, die Magd ihren Schemel neben sie stellt und nun den vom Mist beschmierten Euter zu bearbeiten anfängt, während der Schweif des Viehs ihr um das Gesicht fährt! Auch das Ausmisten der Ställe, das nicht immer den Knechten überlassen bleibt, verlangt große Körperkraft, ebenso wie das Schleppen des Futters und der gefüllten Milch- oder Wassereimer. Die Schweinezucht, die stets den Mägden obliegt, ist eine noch weit widerwärtigere Arbeit; ich habe Mädchen gesehen, die auf allen Vieren in die engen Ställe hineinkriechen mußten, um sie zu reinigen, und triefend vom ekelhaftesten Schmutz wieder daraus hervorkamen. Nicht minder schwer, trotz ihrer Reinlichkeit, ist die Verarbeitung der Milch zu Butter und Käse. Wie bei den vorhergehenden muß auch in diesem Fall von den wenigen Musterwirtschaften abgesehen werden, wo neben hellen und luftigen Ställen die Milchwirtschaft im großen mit Hilfe von Maschinen und motorischen oder Pferdekräften betrieben zu werden pflegt. Im Dorf, im Bauernhof, auf dem kleinen Gut ist es immer noch die Magd, die stundenlang am Butterfaß steht und den schweren Schwengel auf- und niederbewegt, die all die vielen Gefäße täglich scheuert und putzt, die keine Sonntags- und keine Feiertagsruhe kennen darf. Keine Arbeit darf ihr zu schwer und zu schlecht sein, von früh bis spät ist sie auf den Beinen. Und doch ist ihre Thätigkeit noch jeder anderen vorzuziehen, weil sie eine vielseitige ist und eine gewisse Bewegungsfreiheit zuläßt. Stellen wir ihr z.B. das Setzen, Behacken und Ernten der Kartoffeln oder gar der Zuckerrüben gegenüber: im glühenden Sonnenbrand oder im kalten Herbstwind steht die Arbeiterin zwölf und mehr Stunden mit gekrümmtem Rücken über die Arbeit gebeugt; oft sinkt sie, wie bei der Zuckerrübenkultur, bis über die Knöchel in den Schlamm; oder sie kniet und hockt etwa wie beim Unkrautjäten, auf durchfeuchteter Erde. Zur Erntezeit f?llt ihr das schwere Garbenbinden regelmäßig zu, sie muß aber auch vielfach mähen wie der Mann und den Wagen aufladen wie er, ohne daß ihr Lohn deshalb dem seinen gleichkommt. In der Ebene ist immerhin ihre Arbeit noch leichter, als in den Gebirgsländern. Von den abgelegensten Bergwiesen, die weder Wagen noch Pferd erreicht, schleppen Frauen jeden Alters Zentnerlasten an Heu zu Thale, so daß ihr Rücken sich krümmt unter der Last. Schwere Milcheimer tragen sie bergauf und -ab. Für die ganz Armen und Alten gilt es noch als eine besondere Vergünstigung, wenn sie Kiepen mit trockenem Holz aus den Wäldern meilenweit nach Hause tragen können.

Je weiter nach Osten und Süden, desto härter ist die Arbeit; die russische Landarbeiterin muß es sich selbst gefallen lassen, den Pflug durch die Erde zu ziehen. Und wenn die Sonne über Italien wahre Fieberhitze ausströmt, arbeitet die Tagelöhnerin Schulter an Schulter mit dem Mann in den Maisfeldern oft bis zu den Knieen im Schlamme steckend.

Und ebenso, ja oft noch mehr, wie die Magd und die Tagelöhnerin, deren Ausdauer doch vielleicht einmal eine Grenze findet, arbeitet die Frau des armen Bauern oder die selbständige Besitzerin eines kleinen Landguts. Die französische Bäuerin z.B., die tagsüber ihren Gemüsegarten allein bearbeitete, fährt oft schon früh um drei Uhr in die Stadt, um ihre selbstgezogenen Waren feil zu bieten. Ist die Landarbeiterin,—die selbständige sowohl wie die abhängige,—verheiratet, hat sie Kinder, so ist ihr Los ein doppelt hartes, denn die Arbeit beginnt für sie aufs neue, wenn sie abends todmüde nach Hause kommt. Ist sie Tagelöhnerin mit eigenem kleinen Besitz, dessen Ertrag zur Erhaltung der Ihren unumgänglich nötig ist, so ist ihre Arbeit gar eine dreifache: auf dem Gute des Herrn, auf dem eigenen Gute und in der Hauswirtschaft. Für sie giebt es keinerlei Schutzzeit; hochschwangere Frauen stecken Kartoffeln oder jäten Unkraut, arme Wöchnerinnen binden Garben oder führen den Rechen. Die früh gealterten welken Frauen mit krummem Rücken und zerfurchtem Gesicht, die uns auf dem Lande auf Schritt und Tritt begegnen, sprechen deutlicher als irgend eine Schilderung für die "naturgemäßen", "gesunden" Bedingungen ihrer Arbeit. Freilich bereiten die meisten schon in früher Jugend diese rasche Zerstörung vor. Die Wanderarbeiterinnen sind zum großen Teil ganz junge Mädchen; auf sächsischen Gütern waren nicht weniger als 48 % unter zwanzig Jahren alt.758 In einer Zeit also, wo sie der Schonung bedürften, werden sie den Einflüssen einer Arbeit ausgesetzt, die sie zu ständigem gebückten Stehen zwingt! Dabei vergehen die roten Wangen, eckig und knochig werden die runden Mädchenglieder, Unterleibserkrankungen aller Art legen den Grund kommender endloser Leiden. Wer sich noch jenes Idealbild des frischen Landkindes bewahrt hat, der gehe einmal zur Frühlingszeit auf einen der Bahnhöfe Berlins, wo man die Sachsengänger wie das liebe Vieh in enge Wagen verpackt,—er wird auf alle Zeiten von seinem Wahn befreit werden!

Aber auch auf die Ernährungs- und Wohnungsverhältnisse treffen die vorgefaßten Meinungen nicht zu. Der Landarbeiter schwelgt nicht, wie man sich's gerne vorstellen möchte, in Milch und Butter, in Schweinefleisch und Hühnerbraten, in saftigem Obst und frischen Gemüsen. Er produziert nicht für den eignen Verbrauch, sondern für den Verkauf. Schon aus der Summe, die die Sachsengänger für ihre Beköstigung anlegen, läßt sich auf die Art derselben schließen; thatsächlich besteht sie in schwarzem Kaffee mit Schmalzbrot, in Kartoffeln mit Hering oder Speck. Nur die besser Gewöhnten gönnen sich Reis oder Erbsen oder Mehlklöße.759 Die Güte der Nahrungsmittel wird dadurch nicht gehoben, daß sie häufig vom Aufseher gehalten und bei ihm eingekauft werden müssen!760 Die kontraktlich gebundenen Tagelöhner leben kaum besser; die kleinen Besitzer sparen, so viel sie können, am Essen. Dabei entzieht die Ausdehnung der großen Molkereien den Landleuten in steigendem Maß ihr wichtigstes und gesündestes Nahrungsmittel.761 Der Anblick bleicher, aufgedunsener Landkinder, die mit Mehlsuppe gefüllte Flasche im Mund, während Wagen um Wagen voll Milchkannen der Stadt entgegengeführt werden, genügt allein, um diese Zustände zu illustrieren.

Am besten noch ist die Magd versorgt. Oft freilich bekommt auch sie nur den Abfall vom Herrentisch, meist aber geht es ihr wie den Sklaven: sie wird gut gefüttert, weil ihre Arbeitskraft unentbehrlich ist. Am schlimmsten daran ist die Scharwerkerin des deutschen Ostens, die Hofgängerin des Westens: was der arme Instmann und seine Familie übrig läßt, das ist gewöhnlich ihr Teil. Die Zunahme des Alkoholismus unter den Landarbeiterinnen ist daher weniger die Folge sträflicher Genußsucht, als grimmigen Hungers.

Und nun die Wohnungen! Es ist noch nicht allzu lange her, daß die deutschen Wanderarbeiter allgemein ohne Unterschied des Geschlechtes in leeren Ställen und Scheunen untergebracht wurden.762 Noch heute ist es vielfach Usus.763 Wo besondere Baracken zur Unterbringung der Sachsengänger erbaut werden, fehlt es darin oft am Notwendigsten; Musterhäuser, in denen von der eigens dazu angestellten Verwalterin auch die Herstellung der Mahlzeiten besorgt wird, giebt es nur auf einzelnen großen Gütern Sachsens. Die häufige Unlust der Arbeiter darin zu wohnen, ihre Abneigung gegen die gemeinsame Beköstigung wird oft zum Vorwand genommen, dergleichen Einrichtungen für überflüssig zu erklären, während doch im Gegenteil gerade solche Erfahrungen, die für den trostlosen Tiefstand physischer und moralischer Kultur Zeugnis ablegen, alles fördern sollten, was eine Arbeiterbevölkerung, die nach hunderttausenden zählt, nach und nach aus ihrem Sumpf herausheben könnte. Aber freilich ist es von jeher das Bequemste gewesen, den Stumpfsinn des Sklaven für bewußte Befriedigung zu halten!

Die Wohnungen der ostelbischen Instleute sind kaum weniger gefährlich für die physische und moralische Gesundheit ihrer Bewohner. In einem Haus pflegen zwei Familien untergebracht zu werden; jede von ihnen hat eine meist ungedielte Stube, die zugleich als Kochraum dient, und eine Kammer. Diese beiden Räume werden außer von der meist kinderreichen Familie auch noch von Scharwerkern bewohnt, gleichgültig ob es junge Burschen, Mädchen mit Kindern, Krüppel, kränkliche, verdorbene, eben der Schule entwachsene Stadtkinder sind.764 Häufig sind drei und vier Personen auf ein Bett angewiesen; Kinder schlafen mit Erwachsenen zusammen und sind von früh an Zeugen nicht nur des ehelichen Umgangs ihrer Eltern, sondern auch der Liebschaften aller übrigen Mitbewohner.765 "In einer Stube und in einem Bett spielen sich oft alle Akte des menschlichen Lebens ab;"766 häufig genug teilen Hühner, Gänse und Ziegen, besonders im Winter, denselben Raum mit den Menschen. Wer solch eine Höhle betritt, prallt zurück vor dem unbeschreiblichen Gestank, der ihr entströmt, vor dem Bild des Elends und der Verwahrlosung, das sich ihm darbietet. Und die Entschuldigung lautet vielfach auch hier, daß es die Leute nicht anders haben wollen, daß neue Wohnungen mit gedielten Fußboden von ihnen verschmäht werden. Neben dem tiefen Stand der Gesittung, auf der diese Armen durch solche Wohnungsverhältnisse gewaltsam zurückgehalten werden, ist es die Not, die sie an sie fesselt: ihre Hühner und Gänse und Ziegen bilden einen wichtigen Teil ihrer Einnahme, sie haben keine Möglichkeit sie in strenger Winterkälte zu erhalten, außer wenn sie ihnen ihr Zimmer öffnen; sind da Dielen statt festgestampften Lehmbodens, so sind sie gezwungen, ihre Tiere anderswo unterzubringen. Oder sollten nur deshalb gegen 6000 Instwohnungen in Ostpreußen leer stehen767, weil ihre Schönheit die Bewohner vertrieben hat?! Es macht übrigens nur einen geringen Unterschied aus, um welche Gegenden Deutschlands es sich handelt; die westfälischen Heuer wohnen nicht besser, als die ostpreußischen Instleute768, die Tagelöhner wohnen sogar vielfach noch schlechter. In Südwestdeutschland wurden z.B. ländliche Haushaltungen mit nur einem Wohnraum gezählt769:
mit 4 bis 5 Personen bewohnt 8297
mit 6 bis 10 Personen bewohnt 4757
mit 11 und mehr Personen bewohnt 53

Strohdach und Lehmboden, hohes Grundwasser, schlechte Oefen, kein Abort oder einer in nächster Nähe des Brunnens, Fenster, die häufig aus Sparsamkeit fest eingesetzt wurden,—das ist die typische Behausung norddeutscher Landarbeiter.770 Es giebt ihrer freilich noch schlimmere: in Schlesien fand sich ein Haus aus Lehmfachwerk mit einer einzigen niedrigen dunklen ungedielten Stube und einigen fensterlosen Kammern von 8 qm Grundfläche, es war von neun Familien bewohnt.771 Und im Kreise Inowrazlaw giebt es Erdhöhlen, 1 m in, 1 m über der Erde, deren Grundfläche 12 qm beträgt und deren Wände und Decken aus mit Sand und Rasen beworfenen Rundhölzern bestehen. Die Reicheren unter den Bewohnern haben zwei Fenster 1/2 qm groß, die anderen haben statt dessen nur Löcher in den Wänden. In diesen Räumen wohnen Tagelöhnerfamilien mit Schweinen, Ziegen und Hühnern zusammen. Vor den Thüren liegt der Misthaufen, ein Brunnen fehlt ebenso wie ein Abort.772 Man glaube nun aber nicht, daß Deutschland allein solche Vorzüge aufzuweisen hat. Im reichen Frankreich haben manche Landarbeiterhäuser als einzige Oeffnung die Thür, die bloße Erde zum Fußboden und, um den Raum auszunutzen, die Betten zu drei und vier übereinandergestellt.773 Die Bretagne weist vielfach Fachwerkhäuser mit nassem Boden und feuchten Wänden auf, die nur einen einzigen Raum enthalten774, und sowohl die Landarbeiter, wie die kleinen Besitzer wohnen häufig mit dem Vieh zusammen.775

Auf großen Gütern und in reichen Bauernwirtschaften pflegen im allgemeinen die Mägde etwas besser zu wohnen. Oft freilich liegt ihre Kammer unter dem Dach, wird von mehreren bewohnt, die zu zweien je ein Bett teilen müssen und ist nicht verschließbar. In ärmeren Wirtschaften ist die Unterkunft des Gesindes eine ganz menschenunwürdige: in unzureichender Weise oder auch gar nicht voneinander getrennt schlafen Mägde und Knechte in oder dicht neben den Ställen. Um in ihre Kammer zu gelangen, müssen die Mägde häufig den Schlafraum der Knechte passieren und umgekehrt. In den Berggehöften Tirols wird ihre Lagerstatt meist auf dem Ofen oder in einem dunklen Winkel der Wohnstube aufgeschlagen, in den Sommerfrischen, wo jeder Raum zu Geld gemacht wird, verweist man sie auch wohl einfach auf die Heuboden.

Die Folgen dieser elenden Wohnungsverhältnisse liegen auf der Hand. Schon die Kinder sind an den Anblick des geschlechtlichen Verkehrs gewöhnt, die bei den Knechten schlafenden Hütekinder werden früh in die dunkelsten Tiefen der Ausschweifungen eingeweiht.776 Die Geschichte von der "Unschuld vom Lande" ist ebenso ein Märchen, wie die von den gesunden Lebens- und Arbeitsverhältnissen der Landarbeiter. Nicht nur, daß der voreheliche Geschlechtsverkehr vielfach eine eingewurzelte Sitte ist,—vielleicht ein Erbteil aus der Zeit, wo es galt, den Herrn um das jus primae noctis zu betrügen,—und die Heirat erst erfolgt, nachdem die "Prüfung der Braut" zu ihren Gunsten ausschlug, es sich nämlich erwies, daß sie zur Mutterschaft fähig ist777, auch die wüsteste Sittenlosigkeit wird auf dem Lande großgezogen. Die meisten Mädchen, die Scharwerkerinnen, die Sachsengängerinnen, die Mägde kommen zuerst durch Vergewaltigungen zu Fall.778 In den Augen der Knechte ist das nichts als ein Spaß. Sind sie Soldaten gewesen, so bringen sie aus der Stadt noch niedrigere sittliche Begriffe mit, als sie vorher schon hatten.779 Besonders diejenigen zeichnen sich dadurch aus, die als Burschen bei jungen Offizieren im Dienste waren.780 Die widerlich gemeinen Soldatenlieder würden allein schon ausreichen, das Gesagte zu beweisen. Und doch wäre die ländliche Sittenlosigkeit noch nicht so verdammenswert, wenn sie sich zwischen Knechten und Mägden allein abspielte, weil die Heirat die gewöhnliche Folge zu sein pflegt; daß sie oft erst nach Jahren stattfindet, ist weniger die Folge der Korruption, als die der äußeren Verhältnisse. Die Gründung des Hausstandes hängt von den zurückgelegten Ersparnissen ab, und wie gering diese selbst beim besten Willen nur sein können, haben wir aus den Löhnen gesehen. Handelt es sich um festangestellte Tagelöhner, besonders Instleute, oder das ländliche Gesinde im allgemeinen, so giebt die Erlaubnis des Guts- oder Hofbesitzers den Ausschlag. Sie wird versagt, sobald eine Familienwohnung nicht frei ist, oder die Furcht besteht, daß die weibliche Arbeitskraft durch die Heirat geschwächt wird. Weit bedenklicher, weil von den traurigsten Folgen für die Mädchen begleitet, ist es, wenn sie die armen Opfer der Gelüste ihrer Herren werden. In der Enquete der evangelischen Pastoren über die Sittlichkeit auf dem Lande werden die Gutshöfe "Hauptherde ländlicher Unzucht" genannt781, und das sittliche Verhalten der Gutsbesitzer, ihrer Söhne und Gäste, besonders aber das der Inspektoren wird durch drastische Beispiele grell beleuchtet.782 Sie schonen kein Mädchen, heißt es vielfach; sie sehen in ihnen eine wohlfeile Beute, die aus Angst und Abhängigkeit sich leicht ihrem Willen fügen. So kommt es, daß selten ein Landmädchen als Jungfrau in die Ehe tritt, so kommt es aber auch, daß die Korruption der Landbevölkerung kaum eine geringere ist, als die der städtischen.

Ein Vergleich der Landarbeiterin mit der Industriearbeiterin zeigt, daß die Lage beider eine gleich schlechte, ja daß die der Landarbeiterin vielfach eine noch elendere ist, als die ihrer städtischen Leidensgenossin, denn sie genießt keinerlei gesetzlichen Schutz, sie hat in Deutschland wenigstens nicht die Möglichkeit sich durch Organisation selbst zu verteidigen und sie ist von allem abgeschlossen, was die Stadt an Kultur, an Abwechselung und Freude bietet. In grauem Einerlei liegt, wenn sie sich ihr ununterbrochenes ländliches Dasein vorstellt, ihre Zukunft vor ihr. Zu verwundern ist's daher nicht, wenn sie alledem freudig den Rücken kehrt, erstaunlich ist vielmehr nur, daß es überhaupt noch Mädchen giebt, die auf dem Lande bleiben. Wenn man behauptet, die Vergnügungssucht triebe sie in die Städte, so ist zweifellos viel Wahres daran, es ist aber eine berechtigte Vergnügungssucht, denn ein unklares Bedürfnis nach der Kultur der modernen Welt liegt ihr zu Grunde. Mehr aber als dies ist es der Wunsch, dem drückenden Elend und der quälenden Unfreiheit zu entfliehen. Alle diese Gefühle aber, die zur Landflucht den Anstoß geben, und die stumpfe Resignation der Landarbeiter durchbrechen, tragen die Keime der Emanzipation des ländlichen Proletariats in sich. Auch die ostelbische ländliche Arbeitsverfassung, die jene in der Tradition der Unfreiheit gebundene Arbeiterbevölkerung zur Voraussetzung hat, wird durch sie erschüttert; selbst die Instleute opfern mehr und mehr ihre immerhin gesicherte Lage der persönlichen Ungebundenheit.783 Dasselbe erwachende Selbstbewußtsein läßt eine rapide zunehmende Zahl ländlicher Arbeiter der Arbeit außerhalb ihrer eigentlichen Heimat den Vorzug geben. Das Bedürfnis der von der einheimischen Arbeiterschaft verlassenen Gutsbesitzer kommt ihnen dabei entgegen. Die Wanderarbeiter werden von ihnen in immer entschiedenerer Weise bevorzugt, weil sie für fleißiger, sparsamer und bescheidener gelten784, weil so gut wie kein Aufwand für Unterbringung und Ernährung notwendig ist, und jede verwaltungs- und armenrechtliche Verantwortung fortfällt.785 Erst die Zukunft wird zeigen, daß die Gutsbesitzer selbst die "Mobilmachung zum Klassenkampf"786 innerhalb des ländlichen Proletariats dadurch gefördert haben, ebenso wie jeder Fabrikant, dessen Betrieb sich zum Großbetrieb ausweitet, dem Klassenkampf der Industriearbeiter unfreiwillig Vorschub leistet. Je mehr die Saisonarbeit in der Landwirtschaft an Boden gewinnt, desto leichter wird es auch möglich sein, ihre Arbeiter gesetzlich zu schützen. Die Landflucht und die Wanderarbeit sind daher nicht, wie die Agrarier es mit Vorliebe behaupten, als ein auszurottendes Uebel, sondern als ein Fortschritt anzusehen, der die Landarbeiter aus ihrer elenden Lage befreien helfen wird. Aber auch die wachsende Einführung der Maschinen, die Ursache und Folge der Saisonarbeit zugleich sind, werden trotz ihrer momentan grade für die Arbeiter sehr empfindlichen Folgen,—die Dampfdreschmaschine schmälert z.B. ihren Verdienst um ein Bedeutendes787,—die Lage der ländlichen Arbeiter schließlich wesentlich umwandeln und verbessern. Für die Frauenarbeit kommen dabei vorzugsweise die in der Milchwirtschaft anzuwendenden Maschinen in Betracht, so z.B. die Melkmaschine, die den Mägden eine der unangenehmsten Arbeiten abzunehmen bestimmt ist. Aber alle diese von innen herauswachsenden Verbesserungen haben Aussicht auf eine durchgreifende Wirkung nur dann, wenn die Erkenntnis sich mehr und mehr Bahn bricht, daß die Landarbeiter, speziell die weiblichen, sich in einer Lage befinden, die geeignet ist, die körperliche und sittliche Gesundheit des Volks bedenklich zu gefährden, und daß es Märchen, und nichts als Märchen sind, die man geflissentlich über sie verbreitete, und mit denen man es verstanden hat Vernunft und Gewissen zu betäuben.