Die Rolle der Frauen in Gesellschaft

Die ursprüngliche Heldin des „Muttersöhnchens“ und spätere Kammerjungfer Ihrer Majestät, Sophie, liegt also gelähmt da und stirbt, indem sie das neue Zeitalter verächtlich beschimpft und überzeugt ist, dass Bonaparte nur darum Kaiser wurde, weil das Mütterchen, die Zarin, Potemkin und Suworow nicht mehr am Leben sind. In der nächsten Nachbarschaft der alten Frau befinden sich einige mittelgroße Gutshöfe mit 3 — 500 Leibeigenen. Da ist z. B. das Dorf und Landhaus des Brigadiers Dmitri Larin, der in Moskau eine reiche junge Frau geheiratet hat, die kaum jemals eines der, von ihrer katharinaschen Mama so sehr geliebten Bücher, voll nüchterner, trockener Logik oder prickelnden gallischen Witzes in ihren zarten Händen hatte. Dafür — „liebte sie den Grandisson“ und schrieb die sentimentalen Verse Karamsins, Schalikows und Monologe aus den Trauerspielen Oserows in ihr Album. Später läßt b][Gogol[/b] seinen Chlestakow viel Lächerliches von diesen Damenalbums erzählen. Wir lesen darin:

Zwei Täubchen werden klagen
Auf meinem kalten Grab,
Dir leise girrend sagen,
Wie ich gelitten hab'.


Wir lesen darin die Ode von Lomonosow: „O Mensch, der du im Leid' vergebens mit Deinem Gotte haderst“, und daneben: „Laß uns beim Zephyrhauch scheiden“; wir lesen auch:

Verworfen vor dem Gesetze
Ist, was ich heiß geliebt,
Doch wer kann widerstehen,
O Herz, wenn du gebietest.


Puschkin verfluchte die Damenalbums der guten alten Zeit wie eine Seuche; Turgenjew verspottete sie, und Lermontow schrieb voll Bosheit unanständige Zweideutigkeiten hinein. Dennoch nützten diese Albums jenen Schriftstellern noch nachträglich, die bei Lebzeiten am meisten darunter zu leiden hatten. Ich erinnere mich z. B. aus meiner Kindheit noch sehr gut an das Album meiner Mutter mit dem ehrfurchtsvoll abgeschriebenen „Dämon“ von Lermontow, den verbotenen politischen Balladen Alexej Tolstois, den von der Zensur gemeuchelten Versen aus den „Unglücklichen“ von Nekrassow u. dergl. m. In einem Lande ohne Pressefreiheit ist die handschriftliche Literatur unausrottbar, und jede Art ihrer Verbreitung und Aufbewahrung verdient die warme Dankbarkeit der Nachwelt. Die verspotteten Damenalbums mit ihren „klagenden Täubchen auf dem kalten Grabe“[/b] und mit dem [i]„Menschen, der mit Gott hadert“ bewahrten der russischen Literatur einen großen und den besseren Teil von Puschkin, Lermontow, Poleshajew, Gribojedow, Ogarew — jawohl, diese Damenalbums, denn jener Teil des politischen Schaffens unserer großen Dichter, für dessen Erhaltung die Männer in ihren geheimen Heften gesorgt haben, konnte getrost vergessen werden, ohne viel Schaden für die Verfasser, ja sogar nicht ohne Gewinn für ihren Ruf. Puschkins Oden „die Freiheit“ und „der Dolch“ wanderten fast 70 Jahre lang durch die Albums! Wenn diese und ähnliche Gedichte von historischer Bedeutung nicht spurlos verschwunden sind, so ist es lediglich das Verdienst der Saffianbüchlein mit den Silberschlössern, in denen sie von zitternden Frauenhänden liebevoll verzeichnet wurden — und so von einer Freundin zur anderen und von Generation zu Generation übergingen.

Die Abschriften der Frauen unterscheiden sich von denen der Männer durch eine beneidenswerte Genauigkeit; sie reproduzieren den Text mit pedantischer Sorgfalt, die oft sogar die Fehler des Originals bewahrt. Ich sah wiederholentlich Manuskripte von Tschernischewskis „Was tun?“, die in verschiedenen Handschriften die gleichen Druckfehler wiedergaben, wie sie beim Abdruck im „Sowremennik“ (Zeitgenossen) vorgekommen waren.

Verzeihen wir also Frau Larin ihr Album — um so mehr, als jeder weiß, dass, nachdem sie mit ihrem Gatten aufs Land übergesiedelt war und in dem alltäglichen harten prosaischen Dasein Enttäuschungen über die schwärmerischen Poesien von Richardson, Sterne, Marmontel, Karamsin und Schalikow erlebt hatte, bald alles vergaß: „Korsett, Album, Fürstin Pauline, der Verse empfindsames Buch“; ihre frühere „Seline“ — „Akulka“ zu nennen begann und

Zog sich den warmen Schlafrock an zuletzt
Und hat die Wattenhaube aufgesetzt.


Freilich haben sich nicht alle Sentimentalen Russlands so leicht beruhigt. Nach einer noch frischen Überlieferung zeichnet Pissemski in seinen herrlichen „Russischen Lügnern“, die Karikatur jener sonderbaren Frauengeneration, die das müßige Zeitalter beschloss. Diese Generation schenkte der russischen Gesellschaft nicht wenig mittelmäßige und noch mehr schlechte Schriftstellerinnen, eine beträchtliche Zahl von alten Jungfern, denen die napoleonischen Kriege den Bräutigam genommen hatten, welche Ärmsten sich deshalb bis zur Selbstkasteiung in Pietismus und Mystizismus verrannten, sowie einige begabte scheinheilige Abenteuerinnen, die in ihren jungen Jahren am Hofe Alexanders I. oder an dessen Botschaften eine gewisse Rolle spielten, dann im Alter in der Regel, dank den Bemühungen der Jesuitenpater zum Katholizismus übertraten und irgendwo in Rom, Lissabon oder Modena, mit ihren Angehörigen zerfallen, starben und ihre Millionen den neuen Beichtvätern hinterließen. Aus dieser Generation stammt der berühmte weibliche Kavallerist, die N. Durow, die gegen Napoleon kämpfte und bei Borodino verwundet wurde. Ich erwähne sie absichtlich, denn die kriegerische Exaltiertheit dieses Mädchens ist eine Ausnahme. Wer Tolstois „Krieg und Frieden“ gelesen, der muss wohl bemerkt haben, wie wenig die Heldinnen des Romans während jener Epoche von den politischen Stürmen Russlands in Mitleidenschaft gezogen wurden; sie interessierten sich für die Schrecken des Krieges nur insofern, als ihr Bruder, Gatte oder Geliebter dabei beteiligt war. Ihr Patriotismus äußert sich nur selten, dann aber in albernen angelesenen gekünstelten Phrasen: derart ist der Briefwechsel zwischen Marie und Julie Karagin. Es fehlt ihnen jede soziale Idee und jeder Begriff vom Staate. Man fühlt, dass zwischen ihren Großmüttern, den Heldinnen der „ Petersburger Aktion“, ihren Müttern, den hochgeborenen Odalisken und Intrigantinnen des Potemkinschen Lagers, und zwischen ihnen die 90er Jahre liegen. Man spürt die launenhafte Reaktion der altgewordenen Katharina II., man spürt die Schrecknisse der Regierung Pauls. Die Generation der Fürstin Marie Bolkonski, des Fräuleins Bunin, der Iswekow, der Geschwister Popow, der Tatarinow, der Töchter Labzins und andrer Zeitgenossinnen — erscheint gedrückt, gehetzt und eingeschüchtert. Das sind die Töchter in Ungnade gefallener und darum reizbarer, beleidigter und keifender despotischer Väter, die Paul von seinem Hofe verbannt und nach den entlegensten Dörfern verschickt hatte; das sind Schwestern und Frauen harter Soldaten, von denen die besseren, aristokratische Krieger von naiver Geistesanlage, wie Tolstois Fürst Andrej Bolkonski, in Napoleon Bonaparte ihr Ideal sahen, während sich die schlimmeren, die Emporkömmlinge von Gatschino, den Schrecken von ganz Russland, den Grafen Alexe j Andrjewitsch Araktschejew zum Vorbild nahmen. Die reaktionären Epochen, die den politischen und sozialen Gedanken unterdrücken und verfolgen, treiben den schwachen Teil der Gesellschaft, gleichsam wie an eine letzte Zufluchtsstätte, auf die gefahrlosen Wege der subjektiven Selbstanalyse, die nach allen möglichen wunderlichen Irrungen in der Regel zum Mystizismus führen. Dieses war fatalerweise auch das Ende jener schwindsüchtigen Geister, die sich schon in früher Jugend im Froste des paulinischen Terrorismus erkältet hatten. Die Fürstin Marie, die von der Akademie der Wissenschaften gekrönten Dichterfräuleins, die berüchtigte „Jungfrau Anna“, die Tochter des Grafen Alexej Orlow und die erste Priesterin des wilden Fanatikers Photius, hochgeborene Nonnen, die geheimnisvoll hinter den Mauern eines entlegenen Klosters verschwanden; Awdotja Glinka, die poetische Abhandlungen über „die Milch der Gottesmutter“ schrieb; die Harfe der Malvine, die auf dem Grabe Edwins klagt, die Harfe der Zionsgesänge ; Prophetinnen, Wahrsagerinnen, die Kasteiung der Frau Krüdner, die Selbstpeinigung der Katharina Filipowna Tatarinow — das sind noch die besseren Früchte, die die Frauen auf den paulinischen Feldern gezeitigt haben und die nachher unter der Regierung Alexanders geerntet worden sind. Die andern — die zweite und dritte Sorte dieser Generation — zeigt uns Gribojedow in „Weh dem Gescheiten!“, Puschkin in den Strophen über die Larin, Gogol in der Dame, „die angenehm“, und die „die in jeder Beziehung angenehm“ ist, Tolstoi in Vera Rostowa und in Ellen Besuchow. Entweder ein vom Irdischen losgelöster Mystizismus, Ekstasen abstrakten Denkens, Verzückungen der Selbstbeschauung und Selbstvertiefung, eine auf sich selbst ruhende Religion, die an der Welt, den Menschen und allem Menschlichem vorüber zum Himmel emporlodert — oder eine verblüffende leere, müßige Seichtigkeit, die die Frau zu einem völligen tierischen Dahinleben herabwürdigt. Kein Wunder, dass unter diesen Verhältnissen die grandiose Epopöe des vaterländischen Krieges nicht nur ohne russische Deborahs und Judiths vorüberging, sondern auch fast ohne jene barmherzigen Taten, die in den späteren Kriegen des XIX. Jahrhunderts das Haupt der russischen Frau mit dem Lorbeer beispielloser Aufopferung krönten, und den Heroismus des Mitleids zu ihrem Symbol in der Literatur aller zivilisierten Länder und Völker machten. Der Versuch Puschkins, den Typus eines aristokratischen Mädchens von 1812 mit begeisterungsvoll flammendem Patriotismus zu schaffen (Pauline in der Erzählung „Roslawlew“) erwies sich als mehr denn misslungen. Übrigens — war Pauline auch etwas jünger als die Generation, um die es sich handelt, wie die meisten Heldinnen in den „Geschichten Belkins“.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Frau
Nicolas Gogol (1809-1852), russischer Schriftsteller

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