Die Freiheitsbewegung und die Beteiligung der Frauen

„Viele, sehr viele Beschuldigungen hat der Staatsanwalt gegen uns geschleudert. Von den Tatsachen will ich hier nicht mehr sprechen, ich habe sie beim Verhör anerkannt. Und nur darauf will ich etwas erwidern, dass man mich und andre der Unsittlichkeit, Grausamkeit und der Verachtung der öffentlichen Meinung zeiht — ich berufe mich darauf, dass jeder, der unser Leben und die Verhältnisse, unter denen wir wirken, kennt, uns weder Unsittlichkeit noch Grausamkeit vorwerfen wird.“ Diese ruhigen, bescheidnen Worte der russischen Revolutionärin wurden beinahe unter dem Galgen gesprochen: es sind die letzten Worte, die Sophia Perowskaja als Antwort auf die Anklage Murawjews in Sachen des 1. März (der Ermordung Alexanders II.) gesprochen hat. In der Mitte der 90er Jahre hatte ich Gelegenheit, einen alten General, von der Kaiserlichen Suite kennen zu lernen, der die Perowskaja verhört hat. Dieser Mann, durch dessen Hände Hunderte, wenn nicht Tausende von Kämpfern der russischen Freiheitsbewegung gegangen waren, betrachtete diese von der Höhe seiner Beamtenstellung mit Gleichgültigkeit und Bosheit, nur als einen wehrlosen Feind, der, wie er sich auch winden und drehen mochte, um jeden Preis zertreten und vernichtet werden musste; die Perowskaja aber achtete er.

„Weshalb?“


Der General schwieg lange, darauf aber gestand er:

„Sie hat uns zu sehr verachtet. Die andern haßten, — sie aber verachtete uns.“

Der Mut einer bewussten Kampfbegeisterung und Verachtung des Feindes verließ die Perowskaja nicht bis zum verhängnisvollen Strange. Die entsetzliche Prüfung der Todesstrafe bestand sie mit beispiellosem Heldenmut. Etwas beinahe Unerhörtes ereignete sich: Alle Menschen, die hingerichtet werden sollen, so tapfer sie auch ihrem Ende entgegensehen, erbleichen auf dem Schafott; das Antlitz der Sophia Perowskaja aber überzog sich plötzlich mit einer leichten Röte wie das einer Braut vor dem Altare.

Sophia Perowskaja bildet mit ihrer gewaltigen Energie das Schlußwort des politischen Enthusiasmus, der die Frau der 70er Jahre beseelte. Die beste Charakteristik dieses Enthusiasmus gab 1874 der Bericht des erschrockenen Feindes, der allerhöchste Bericht des Justizministers, des Grafen Pahlen. Dieser schreibt den Haupterfolg der revolutionären Propaganda der Tatsache zu, dass sich unter den Revolutionären „viele Frauen und Mädchen befinden“, die mithelfen „die Hälfte von Russland mit einem Netz revolutionärer Organisationen zu bedecken“. Von 23 Centren der Propaganda, die Pahlen aufzählt, befanden sich 5 unter der Leitung der Frauen: Leschern von Herzfeld, Subotina, Zwetkowa, Andrejewa, Kolesnikowa, Breschkowskaja, Ochremenko. Pahlen weist mit unverhohlenem Entsetzen auf die Tatsache zahlreicher Siege der Revolution in vielen und, wie man hätte meinen sollen, aoiverlässigen und monarchisch gesinnten Familien hin. „So“, klagt er, „hat die Frau des Gendarmerieobersten Golouschew in Orenburg ihren Sohn nicht nur nicht von der revolutionären Bahn zurückgehalten, sondern ihn noch mit Rat und Tat gefördert. So hat eine sehr reiche und schon bejahrte Frau, die Gutsbesitzerin Subotina aus Kursk, nicht nur persönlich Propaganda unter den benachbarten Bauern getrieben, sondern noch dazu ihr Pflegekind Schatilowa mit dazu veranlaßt und selbst ihre minderjährigen Töchter zur Vollendung ihrer Bildung nach Zürich geschickt. So gingen die Töchter der wirklichen Geheimräte Natalie Armfeld, Barbara Batjuschkow und Sophia Perowskaja, die Tochter eines Generals, Sophia Leschern von Herzfeld und viele andere „ins Volk“ , verrichteten Feldarbeiten und verdingten sich gegen Tagelohn, hausten zusammen mit ihren Arbeitsgenossen, den Bauern; und für alle diese Handlungen fanden sie nicht etwa den Tadel ihrer Verwandten, sondern vielmehr Sympathie und Beifall.“ Nach Pahlens Berechnung kamen auf 620 Männer in 37 Gouvernements, die wegen politischer Vergehen angeklagt waren, 158 Frauen. Dieses Verhältnis, von 1: 4, ist sehr charakteristisch; ja es ist national, wenn wir uns daran erinnern, dass bei den Volksaufständen der Nikolaischen Zeit 25% Frauen beteiligt waren und ebenso viele wegen Ungehorsams gegen die gutsherrliche Gewalt in die Verbannung geschickt wurden.

Die Frauen der Tschaikowzy, die Frauen der Dolguschinzy, die Frauen des Netschajew-Prozesses. . . Der erste politische Prozeß aber, der die Gesellschaft durch das Schauspiel der eigentlichen weiblichen revolutionären Opferwilligkeit erschütterte, bleibt doch der „Prozess der Fünfzig“ mit den 16 angeklagten Frauen. Von ihnen wurden 6 zu Zwangsarbeit verurteilt, 2 kamen ins Arbeitshaus und die übrigen nach Sibirien in die Verbannung.

Ich traue meinen Augen nicht:
Zum Schafott gehen und Hymnen singen
Und der hungrigen Bestie furchtlos ins Auge sehen ! —


Diese düstere Frage des Maikowschen Decius beherrschte das gesamte alte Russland, als, wie Stepniak begeistert erzählt, „die lichten Gestalten der Mädchen mit ruhigem Blick und kindlich unschuldigem Lächeln auf den Lippen dahingingen, von wo es keine Rückkehr und wo es keine Hoffnung gibt“. Ihnen sandte der sterbende Nekrassow ein Gedicht — den letzten Seufzer seiner gequälten Seele nach. Erschüttert, verwirrt verlieh Polonski der allgemeinen Bestürzung einen schlichten Ausdruck und schrieb sein vielleicht bestes und feurigstes Gedicht:

„Was ist sie mir? Weder Gattin, noch Geliebte,
noch meine eigene Tochter.
Warum also raubt ihr hartes Los
mir die Ruhe meiner Nächte?“


Und Turgenjew eilte tief betroffen nach Petersburg, um dem Prozesse des südrussischen Arbeiterbundes beizuwohnen, der zwei Monate nach dem „der Fünfzig“ stattfand. Es ist höchst charakteristisch, dass der serbische Übersetzer des „Neuland“ diesem politischen Roman keinen besseren Kommentar beizufügen wußte, als die letzte Rede der S. J. Bardina, die er dem Roman als Vorwort vorausschickte.

Jede politische Bewegung hat ihre Mystiker. Ein solcher Mystiker versicherte mir — es war in einem sibirischen Städtchen — dass für die Evolution der russischen Frau überhaupt und für die Revolution insbesondere der Name „Sophia“ ein apokalyptischer Name sei. Und in der Tat, derselbe kehrt sehr häufig in der revolutionären Chronik wieder: Sophia Perowskaja, Sophia Leschern, Sophia Bardina, Sophia Ginsburg, ebenso wie in den Annalen der Frauenbewegung auf dem Gebiete der Wissenschaft: Sophia Kawelina, Sophia Kowalewskaja. — Sophia Perowskaja war es beschieden, als Terroristin die höchste Stufe der revolutionären Skala zu erklimmen. Sophia Bardina durfte die Beweggründe aussprechen, die die russische Frau zur Seele der Revolution machten. Ihre berühmte letzte Rede vor den Richtern ist das Evangelium jener „friedlichen Kulturpropaganda“, die die russische Freiheitsbewegung bis zu jenem Wendepunkt betrieben hatte, der durch den Schuß der Vera Sassulitsch herbeigeführt wurde. Ich will zwei Stellen aus dem allgemeinen Programme anführen, wo Sophia Bardina als Frau für die Frauen spricht.

„Was die Familie betrifft, so weiß ich nicht: untergräbt sie jene Gesellschaftsordnung, welche die Frauen zwingt, die Familie zu verlassen und für einen Hungerlohn in die Fabrik zu gehen, wo sie und ihre Kinder unvermeidlich verdorben werden; jene Ordnung, die das Weib nötigt, sich aus Armut der Prostitution in die Arme zu werfen, die diese Prostitution sogar als eine gesetzliche und notwendige Erscheinung in jedem wohleingerichteten Staate sanktioniert; oder untergraben wir die Familie, die wir bestrebt sind, die Armut auszurotten, die die Hauptursache alles sozialen Elends und so auch der Familienzerrüttung ist?“

Und der Schluss der Rede, der auch noch für unsere Zeit seine Bedeutung hat.

Der Tag wird kommen, wo sogar unsere schläfrige und träge Gesellschaft erwachen und sich schämen wird, dass sie sich so lange mit Füßen treten, sich ihre Brüder, Schwestern und Töchter entreißen und sie für das freie Bekenntnis ihrer Überzeugungen zu Grunde richten ließ! Und dann wird sie für uns Rache nehmen . . . Verfolgt uns nur! — Ihr, meine Herren, habt vorläufig die rohe Gewalt; wir besitzen jedoch die sittliche Macht, die Macht des historischen Fortschritts, die Macht der Ideen; Ideen lassen sich nicht durch Bajonnette umbringen!“

Die Bardina hätte noch ohne falsche Bescheidenheit hinzufügen können:

Und zwar lassen sich Ideen darum nicht durch Bajonnette umbringen, weil wir uns selbst für die Ideen in die Bajonnette stürzen. Und nicht nur einmal, nicht zufällig, nicht in augenblicklicher Aufwallung, in leidenschaftlichem Drange — sondern tagaus, tagein, jahraus, jahrein, das ganze Leben hindurch !

Alle diese Frauen teilen, so lange sie sich in Russland befinden, ihr Leben zwischen rastloser Tätigkeit und dem Gefängnis. Sind sie nicht im Gefängnis, so agitieren sie; agitieren sie nicht, so sind sie im Gefängnis. Welcher phantastische Roman kann sich mit der Biographie der Perowskaja vergleichen, wie sie verhaftet wurde, wie sie floh, wie sie sich verkleidete, wie sie verzweifelt in den unterirdischen Minen arbeitete, wie sie gefangen saß und wie sie Russland gleich einem Vogel von einem Ende bis zum andern durchstreifte. Allein die Perowskaja ist typisch: so oder ungefähr so lebten alle ihre Gesinnungsgenossinnen. Ihr Fanatismus, ihr Freiheitsdrang ist durch seine unendliche Biegsamkeit so unheimlich wie eine toledische Klinge. Als 1878 der Versuch misslungen war, Wojnaralski mit Waffengewalt den Händen der Gendarmen zu entreißen, da fürchteten die Attentäter lange nicht so die Polizei wie das, was die Frauen der Partei sagen würden. Was wird die Perowskaja sagen? Hartmann und Genossen beschlossen, sich im Falle einer Haussuchung nicht lebendig auszuliefern, sondern sich selbst und die Gendarmen unter den Trümmern des Hauses zu begraben. Aber welche Hand wird ohne Zittern die selbstmörderische Explosion herbeiführen? Auf allgemeinen Beschluß wurde die Perowskaja gewählt. Bei Sophia Leschern wandelte man die Todesstrafe in lebenslängliche Zwangsarbeit um. Sie erkrankte an Hysterie und weinte den ganzen Tag, dass man ihr die Ehre geraubt habe, mit ihren Kameraden zu sterben. Die Leschern war bei einem bewaffneten Widerstandsversuch festgenommen worden. Wo in der Revolution Frauen beteiligt waren, da kam es seit dem Schusse der Sassulitsch stets zu bewaffnetem Widerstand. Sie fürchteten keine Angriffe, keine Gefängnisse, keine Hinrichtungen. Sie sind „unverbesserlich“. Die Kutilowskaja flüchtet aus Nertschinsk. Um frei zu sein? Nein — nur, um auf den Generalgouverneur Iljaschewitsch zu schießen. Der Name Vera Sassulitsch tauchte gelegentlich schon im Netschajew-Prozess auf; wer sich einmal auf dem verhängnisvollen roten Hintergrund gezeigt hat, der verschwindet nie mehr von ihm, sondern taucht bald hier, bald dort wie ein fliegender Leuchtkäfer auf. Männer erschlaffen, Männer wechseln ihre Anschauungen, Männer wollen zuweilen ausruhen und kapitulieren unter günstigen Umständen vor der Gnade einer Amnestie. Der Prozentsatz der an der Revolution beteiligten Frauen, die sich ergeben, ist hingegen so gering, dass man sich nicht leicht der wenigen Namen erinnert. In den organisatorischen Kongressen von 1879, die das Schicksal Alexanders II. besiegelten, waren Männer und Frauen vertreten, aber aus der Gruppe der Frauen ging kein Tichomirow und Goldenberg hervor. Wenn die Frau der früheren russischen Revolution müde wurde und ihren Kräften nicht mehr zutraute, das Kreuz der Rache und Trauer weiter tragen zu können, dann kannte sie nur einen Ausweg — das Grab. Es gab Jahre, wo die Frauen derart verzweifelt waren, dass die Selbstmorde fast epidemisch wurden. Besonders schrecklich ist in dieser Hinsicht das Jahr 1883. In diesem Jahre erschoss sich Sophia Bardina in Genf, vergiftete sich Eugenia Sawadskaja in Bern, die Kolotilowa in Krasnojarsk und Lydia Klein in Jeniseisk, erhängte sich Nastasja Ossinskaja, die Schwester des berühmten Valerian Ossinski, der 1879 in Kiew hingerichtet wurde, im Gefängnis, und endlich erwürgte der Arbeiter Bogin in Jakutsk die Helene Juschakow, was zwar das Ende einer Liebesgeschichte war, aber immerhin zu den Selbstmorden gezählt werden muss. Trotzdem muss man sagen: die Nerven der Frauen sind im Kampfe ausdauernder als die der Männer. Als ich in dem Buche Burzews die Totenberichte der Revolution von 1875 — 1896 durchblätterte, da zählte ich 48 Selbstmorde von Männern auf 15 von Frauen. Die Fälle von Wahnsinn bei Frauen verhalten sich zu denen bei Männern wie 5:12. Diese Zahlen sind freilich gewiß nicht genau und sprechen auch nur von den Führern oder sozusagen von der Aristokratie der Bewegung: dabei bleibt die große Masse unberücksichtigt und ist auch kaum zu berechnen, aber das Schema des Verhältnisses geben sie in jedem Falle und zwar beredt genug an. Die größere physische Leistungsfähigkeit ermöglicht es, wie zu erwarten ist, den Männern unvergleichlich länger im Gefängnis und in der Verbannung auszuhalten, und macht es ihnen leichter, zu entfliehen. Für die Frau kommen Ostsibirien und die Zwangsarbeit einem Todesurteil gleich, das in 2, 3 oder höchstens 5 Jahren vollstreckt ist. Der Fall der Figner, die 20 Jahre Haft in Schlüsselburg weder umbringen noch verändern konnten, bestätigt nur als Ausnahme die allgemeine Regel. Die Frau, die Revolutionärin wurde, wußte sicher, dass sie sich einem schnellen und unvermeidlichen Tode entweder durch die Regierung oder durch die eigene Hand aussetzte; sie wußte, dass die revolutionäre Tätigkeit der sicherste und kürzeste Weg ist, sein Leben zu verlieren. Aber selten schrak eine davor zurück. Starke Frauencharaktere erstanden einer nach dem andern in ununterbrochener Reihenfolge, nicht nur vereinzelt, sondern gruppenweise, in ganzen Familien. Die Revolution hat ihre weiblichen Dynastien: die Geschwister Figner, die Geschwister Ljubatowitsch, die Subbotins. Wenn wir die Selbstmorde der Frauen in der Revolution betrachten, so ist leicht zu sehen, dass die meisten wirklich durch eine hoffnungslose Lage erzeugt wurden, in den ihnen nichts weiter übrig blieb als sich, wie die Ginsburg in Schlüsselburg, mit einer Scherbe die Pulsader zu durchschneiden, oder sie sind die Folge einer nur allzu verständlichen Verzweiflung in frühem Jugendalter. 1881 erhängte sich in Krasnojarsk die 17jährige Viktoria Gukowskaja, die 1879 im Odessaer Prozess, im Alter von 14 Jahren, zu Verbannung verurteilt wurde. Nicht das ist merkwürdig, dass ein Kind sich das Leben nimmt, sondern man muss sich darüber wundern, dass es dieses Leben zwei Jahre lang ertragen konnte.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Frau
Iwan Turgenjew (1818- 1883), russischer Schriftsteller

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Leo Tolstoi

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Russisches Kaiserpaar in historischen Kostümen

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Russischer Geistlicher

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Iwan der Schreckliche

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Russisches Bauernmädchen

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