Die Bedeutung der Frauen in der Familie

Kehren wir zur Familie Larin zurück. In dem Jahrzehnt 1800 — 1810, welches Remy de Gourmont für die Entstehung des „gnädigen Fräuleins“ festsetzt, wurden dem glücklichen Ehepaar zwei Töchter, Tatjana und Olga, geboren. Ihnen widmet Puschkin später seine schöpferischen Verse und Tschaikowski seine Musik. Von jeher gilt Tatjana Larin in der russischen Literatur für etwas Ähnliches wie die Gottesmutter von Iversk. „Eugen Onjegin“ — als ihre Heiligenlegende und das berühmte

Doch ich gehöre nicht mehr mein,
Treu werd' ich meinem Gatten sein —


als der Hymnus auf sie. Vor ihr opferten Bjelinski, Turgenjew, b]Dostojewski[/b]; wer opferte nicht vor ihr! Pissarew ritzte ihr gleich einem wilden arabischen Bilderstürmer mit dem Schwerte seiner Kritik das Antlitz, so dass Blut aus der Wunde troff, aber — die Gestalt blieb unversehrt. Die Ehrfurcht vor Tatjana wirkte noch bis ins XX. Jahrhundert fort, das Moralprinzipien und Familiengesetze kennt, die von den Larinschen sehr verschieden sind. Kein vernünftiger Mensch wird es heutzutage wagen dürfen, eine Frau mit dem fürchterlichen Schwur aus dem Lobgesang auf Tatjana zu fesseln. Wir lehnen heute die qualvolle und unnütze Heldentat der Treue aus Pflichtgefühl mit Bewußtsein ab — als eine sittliche Selbstvergewaltigung und Verhöhnung, die dem Gefühle der menschlichen Würde zuwiderläuft. Schon die Möglichkeit, einem Manne wider den eigenen Willen zur Frau gegeben zu werden, empört uns um der Frau willen, für die wir Freiheit innerhalb der Familie sowie geschlechtliche Gleichberechtigung auf allen Wegen des individuellen, gesellschaftlichen und politischen Lebens leidenschaftlich fordern und erstreben. Zweifellos sind wir in unsern Ansichten über die Rolle der Frau in der Familie und in dem Staate dem Tadler Tatjanas, D. J. Pissarew weit näher, als ihrem begeisterten Schöpfer und ihren verliebten Interpreten, Bjelinski nicht ausgenommen. Warum hat aber dennoch „der Vernunft zum Trotz und im Streit mit den Elementen“ die zarte Gestalt Tatjanas bis auf den heutigen Tag ihre geheimnisvolle Macht auf das russische Gemüt bewahrt? Warum versuchen noch heute Tausende von russischen Mädchen mit Begeisterung, den Brief Tatjanas: „Jünger war ich damals und besser, wie es scheint“ auswendig zu lernen? Warum ist es der Traum jeder gebildeten Schauspielerin, auf ihrer Bühne die Tatjana zu kreieren? Als im Jahre 1800 der hysterische Dostojewski bei der Puschkinfeier, diesem Einigkeitstage der gesamten russischen Intellektuellen, Tatjana als den nationalen poetischen Typus proklamierte, der in unserem künstlerischen Schaffen unübertroffen dasteht und sich nur mit Lisa im „Adelsnest“ Turgenjews vergleichen lässt — warum erdröhnte da als Antwort auf diesen stürmischen Erguss des Dichters der Saal von donnerndem Beifall und vom Schluchzen dankbar gerührter Anerkennung?

Eine Antwort darauf darf man freilich nicht in Tatjana selbst mit ihrer an und für sich schon nicht großartigen, für uns aber mehr als zweifelhaften Heldentat suchen:

„Doch ich gehöre nicht mehr mein,
Treu werd' ich meinem Gatten sein.“


Die Antwort liegt in der historischen Perspektive, in jener Generation der russischen Frauen, zu der Tatjana gehörte, und deren allgemeinen, vornehmen Züge Puschkin in ihrer Persönlichkeit so genial zu vereinen wußte. Tatjana ist an und für sich nichts — eine der zahllos Vielen, ein bescheidenes, unbekanntes Mädchen. Aber sie bedeutet für unsere Literatur der 20er Jahre dasselbe, wie in der Malerei die Portraits von Velasquez, der durch das Bild eines uns unbekannten Granden oder Kardinals eine ganze Epoche vor uns erstehen läßt und erklärt. Wir lieben in Tatjana nicht das, was sie geleistet hat, sondern das, was sie hätte leisten können; wir lieben in ihr die ihr ähnlichen Zeitgenossinnen und Freundinnen, die ihr Schöpfer Puschkin, wie ein guter Kamerad, gut kannte und liebte, und vor denen sich alle in Gedanken ehrfurchtsvoll beugen, welche die Leidensgeschichte unseres Freiheitskampfes kennen. Die herrlichen Zeitgenossinnen Tatjanas stehen in den Annalen unserer Kultur unter dem historisch vielsagenden Namen „die russischen Frauen“ verzeichnet. Unter diesem Namen sang ihnen 40 Jahre später ein andrer großer Dichter begeisterte Lobgesänge, den Puschkin als eine Notwendigkeit des kommenden Jahrhunderts vorausahnte. Die Verse Nekrassows wandten sich mit der Liebe eines Sohnes an die Generation, die Puschkin als Zeitgenosse, Freund, Bruder und Liebhaber besungen hat, und er schuf gewaltige Dichtungen über die Trubetzkaja und Wolkonskaja. Die Frauen der Dekabristen! Unvergeßlich sind die Namen dieser herrlichen Tatjanas in ihrem Tätigkeitsdrange, von denen die einen ihre Jugend, die andern ihr ganzes Leben neben ihren Männern, jenen politischen Sträflingen aufopferten, hinter dem eisigen Altai, in Tschita und Nertschinsk. Orte, die noch heute darauf stolz sind, dass sie einst durch die Gegenwart der „verbannten Fürstinnen“ geweiht wurden. Die Fonwisin, Dawidowa, die Murawiews, Narischkina, die Rosen, Juschnewskaja, Jentalzewa, die Pol, die drei Schwestern Bestushew, die Mutter und Schwester Torsons — das sind die wenig bekannten Leidensgefährtinnen der laut verherrlichten Katharina Trubetzkaja und Marie Wolkonskaja. Puschkin träumte in seinen berühmten Versen an Tschaadajew von der Zeit, wo Russland,

„Vom Schlafe erwacht.
Auf Trümmern tyrannischer Macht
Unsre Namen schreiben wird.“


Im Jahre 1905 haben wir das Recht, fest daran zu glauben, dass diese Zeit kommt — dass sie gekommen ist. Ich hoffe lebhaft, dass ich noch mit eigenen Augen sehen werde, wie die prunkenden Bronzen von den Petersburger Monumenten absolutistischer Gewalttätigkeit durch die Künstler des freigewordenen Volkes in Denkmälern umgegossen werden zum Dank für die Märtyrer seiner Freiheit. Und sicher werden an den Wänden des künftigen russischen Pantheons, das „auf den Trümmern tyrannischer Macht“ erstehen wird, neben den strengen männlichen Gesichtern der Dekabristen die heiligen, sanften Portraits ihrer treuen Lebensgefährtinnen erstrahlen.

Wiederholt wurden Versuche gemacht — nicht die „russische Frau“ ihres Nimbus zu entkleiden, denn das ist unmöglich — wohl aber die politische Bedeutung ihrer Tat herabzusetzen, und ihr das Vorhandensein eines politischen Bewußtseins und folglich auch des Verständnisses für den Dienst, den sie der Gesellschaft leistete, abzusprechen. Man führte die Sache auf Familientugenden und Anhänglichkeit zurück, auf stürmische jugendliche Verliebtheit — kurz auf die Überlieferung des XVIII. Jahrhunderts von Natalie Scheremetjew und Iwan Dolgoruki, und auf die Mascha aus der „Hauptmannstochter“. Nachdem aber im vorigen Jahre, 1904, die glaubwürdigen Memoiren der M. N. Wolkonskaja erschienen sind, müssen alle derartigen Zweifel verstummen. Ich selbst habe noch vor kurzem in einem Artikel über die Dekabristen*) die Affektiertheit der 60er Jahre in den berühmten Versen Nekrassows über die Wolkonskaja beargwöhnt, als sie in den Minen der Sträflinge

*) Siehe mein „Literarisches Album“: „Andrej Bolkonski und Sergej Wolkonski.“

„Eh sie den Gatten umarmte,
Die drückenden Ketten ihm küßte.“


In den „Memoiren“ der Wolkonskaja fand ich zuletzt eine Bestätigung für diesen romantischen Augenblick des Wiedersehens, und, als ich das las, empfand ich die Begeisterung des ungläubigen Thomas — das seltsame entzückende Gefühl, mich schämen zu müssen, wegen des Mißtrauens meiner kalten Vernunft gegen das, was das Herz glauben sollte. Nein, die Frauen der Dekabristen folgten nicht nur ihren Männern nach Sibirien, sondern sie folgten auch der Sache ihrer Männer! Sie sind nicht nur brave, liebende, treu ergebene Gattinnen: sie sind Gesinnungsgenossinnen und moralische Mitschuldige ihrer Männer.

Darum sucht man vergebens im XVIII. Jahrhundert nach Parallelen für sie; sie gehören vollständig dem XIX. Jahrhundert an. Wie ihre Männer sind auch sie Kinder der großen französischen Revolution und des napoleonischen Sturmes. Jene Natalie Dolgorukaja, mit der man die Frauen der Dekabristen vergleicht, war noch ein altmodisches, halb barbarisches hochgeborenes Fräulein, herrisch durch die Tiefe ihres natürlichen Gefühls, aber jeder kulturellen geistigen Selbständigkeit fremd. Die Frauen der Dekabristen sind dagegen schon die „gnädigen Fräuleins“ nach jener idealistischen Metamorphose, die der Revolution folgte und die Remy de Gourmont in Frankreich entdeckt hat. Und es ist höchst lehrreich und charakteristisch, dass sich der ersten gesellschaftlichen Protestbewegung der russischen Frauen, ein echt französisches „gnädiges Fräulein“, anschloß: Emilie Ledantu, die ihrem Bräutigam nach Sibirien folgte und im Gefängnis mit ihm getraut wurde. Das rasche Dahinwelken dieser herrlichen Blume des Südens in der eisigen Kälte von Nertschinsk ist eine der rührendsten Episoden in der Tragödie der Dekabristen. Ein anderes französisches „gnädiges Fräulein“, die Gouvernante im Hause des Fürsten Trubetzkoi, schleuderte dem Diktator der misslungenen Revolution, der sich verbergen wollte, den bittern Vorwurf ins Gesicht: „Schämen Sie sich; Sie sitzen zu Hause, während Ihre Freunde unter den Geschossen der Kartätschen auf der Straße verbluten!“

Trubetzkoi ergriff seinen Hut und lief davon, um — sich an einem andern Orte zu verbergen, wo er keine Vorwürfe von Französinnen zu hören brauchte.

Das Wort „gnädiges Fräulein“ ist in Russland so sehr abgegriffen worden, dass man sich fast genieren muss, es auf so nationale Heiligtümer, wie die Frauen der Dekabristen, anzuwenden. Pomjalowski und Pissarew vernichteten den gesellschaftlichen Ruf des „gnädigen Fräuleins“ völlig durch die verächtliche Bezeichnung „Tüllfräulein“, und die fortschrittlichen russischen Mädchen bekreuzigen sich vor dem Titel „gnädiges Fräulein“ wie vor der ärgsten Beleidigung. Was tun? Die kulturgeschichtlichen Kategorien haben weder Festigkeit noch Dauer! Wenn man jetzt z. B. jemanden „liberal“ nennt, so bedeutet das bei weitem keine Schmeichelei; und nennt man jemanden gar „Patriot“, so ist das geradezu beleidigend. Völlig zweifellos ist es aber, dass es einen Zeitabschnitt gab — einen sehr langen Zeitabschnitt! — wo das „gnädige Fräulein“ die höchste Stelle in der dünnen Kulturschicht Russlands einnahm, und wo es in einer Reihe mit den „gnädigen Fräuleins“, die ihre leibeigenen Mägde ohrfeigten, andere, viel interessantere und vornehmere gab, deren Einfluss auf die russische Fortschrittsbewegung bereits aus dem Geständnis Puschkins und Fürst Wjasemskis zu ermessen ist:

„Das ist unser echtes Publikum!“

Ein „gnädiges Fräulein“ ist Natalia Nikoiajewna Gontscharow, die an dem Tode Puschkins schuld ist. Ein „gnädiges Fräulein“ ist Frau Ogarew, die ihre ganze kalte, hämische Bosheit und Energie aufwandte, um ihren Mann mit Alexander Herzen zu verfeinden; „gnädige Fräuleins“ sind aber auch Natalie Alexandrowna Herzen und Tatjana Passek, die „schwarzäugige“ Rossetti und die Lewaschow, die A. Herzen mit tragischer Schlichtheit am Grabe Wadim Passeks geschildert hat.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Frau
Fjodor Dostojewski (1821-1881), bedeutenster russischer Schriftsteller

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Remy de Gourmont (1858-1915), französischer Schriftsteller

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