Der Staat und seine gebildeten Frauen

Die russische Monarchie erwies sich dem System des aufgeklärten Absolutismus nicht gewachsen. 1887 schrieb Kaiser Alexander III. auf den Bericht Graf Deljanows seine berühmte Resolution:

„Räume mir mit der Bildung auf!“ Die Resolution kam zu spät: Alexander III. nannte nur mit der ihm eigenen törichten Offenheit einen Vorgang beim rechten Namen, der schon 15 Jahre gedauert hatte. Für die männliche Bildung war der Sieg des Tolstoischen klassischen Systems die entscheidende Ära. Für die weibliche — der gleichzeitige Erlass der Regierung gegen die russischen Studentinnen in Zürich vom 21. Mai 1873. Dieses merkwürdige Dokument wird, wenn es erhalten bleibt, bei den künftigen Generationen ein eben solch trauriges Erstaunen hervorrufen, wie „Malleus Maleficarum“ von Sprenger und „die Dämonologie der Hexen“ von Bodin: das unzerstörbare Mausoleum menschlicher Tyrannei und listigen Aberglaubens! Bekanntlich werden in diesem Dokument die Studentinnen mit Prostituierten verglichen und die Mädchen beschuldigt, dass sie die Geburtshilfe nur zum Zwecke von Fruchtabtreibungen usw. studierten. Da die Regierung nichts Gescheiteres zur Bestätigung dieser Verleumdungen vorzubringen wußte, berief sie sich auf die Wohnungsvermieterinnen in Zürich: Martha Schwerdtlein erscheint als Richterin und Gesetzgeberin der Sittlichkeit! Der politische Teil des Dokumentes lautet klar und deutlich: Ich will keine Studentinnen im Auslande haben, denn durch sie wird der revolutionäre Briefwechsel unterhalten und der Sturm der politischen Agitation erzeugt. Die Regierung kann absolut nicht einsehen, dass 2 — 3 Doktordiplome dieses Übel aufwiegen, und hält es daher für notwendig, dieser anormalen Bewegung ein Ende zu machen.


Der Staat schämte sich also nicht, seine gebildeten Frauen vor aller Welt zu verleumden. Allerdings hat er nebenbei auch sich selbst nicht geschont, da er sich buchstäblich und feierlich als „hinter den anderen Staaten zurückstehend“ erklärte. Diese Verleumdungen kamen den russischen studierenden Frauen teuer zu stehen — sogar im Auslande, geschweige denn im lieben Vaterland. Der unerhörte Zynismus der Regierung war von um so größerer Wirkung, als er in unmittelbarster Weise die literarische Hetze und die polemischen Ideen Ljeskows, Kluschnikows, Wsewolod Krestowskis, Boleslaw Markiewitsch, Avenarius, zum Teil Dostojewskis und andrer Gegner der geistigen Frauenbewegung sanktionierte, die sich als Hüter der Ehe aufspielten. Für die Zukunft stellte die Regierung das ganze Programm für die publizistische Pornographie eines Zitowitsch, für die Pasquille Djakow Neslobins und für die feuilletonistische Tätigkeit der Herren Mestscherski und Burenin auf, die sogar bis auf den heutigen Tag noch gedeiht. Es fehlt im Programm nur der verderbliche Einfluss der fremden Völkerschaften und besonders der Juden. So barbarisch der Erlass der Regierung auch ist, er datiert doch aus der Regierungszeit Alexanders II., als der Staat noch nicht zu solch gegenseitigen Metzeleien der Bürger — wie in Kischinew und Baku — vorgeschritten war. Aber auch diese kleine Lücke wurde erfolgreich durch den freiwilligen Eifer der literarischen Räuber und Preßbanditen ausgefüllt. Wenn man unparteiisch die Erzeugnisse des 25jährigen literarischen Regierungskrieges gegen die Frauenbildung liest, fallen zwei Eigentümlichkeiten auf: der pure Irrealismus, die vollkommene Unfähigkeit und Unlust, die Sachlage zu erfassen; und die geistige Verkommenheit all jener Phantastereien, die der Gesellschaft unter der Maske der Satire über Familie und Moral eine zügellose und raffinierte Pornographie vorsetzten. Am meisten aber litten unter dieser Verleumdung der Geschlechter und der Frauenbewegung die Ärztinnen. Nicht nur spätere Generationen, sondern auch die Jugend des XX. Jahrhunderts wird es kaum glauben wollen, dass man noch vor 15 Jahren eine Dorfschule als ein gemütliches, fast luxuriös ausstaffiertes Nest eines nicht mehr jungen Fräuleins, der Maitresse eines einflußreichen Semstwomannes schildern konnte; in der Schule spricht man französisch, genießt Armand Sylvestre und trinkt die feinsten Liköre. Und doch war das eine der harmlosesten Phantasien, die der verstorbene und — wie ich glaube — schon damals halb verrückte, unter dem Pseudonym „Schitel“ schreibende Journalist seinen Lesern vorsetzte.

Der ausländische Einfluss auf die russische Frauenfrage geht aus der Berührung des russischen Fortschritts mit der polnischen Freiheitsund der jüdischen Gleichberechtigungsbewegung hervor. Der polnische Einfluss auf die russischen Mädchen äußerte sich nur abstrakt als das allgemeine Beispiel eines rastlosen, nationalen Freiheitsdranges. Der erste russische politische Prozess, in den eine Frau verwickelt war, war der von Wosnizki und seiner Tochter 1855 wegen Verbreitung von Aufrufen zur Wiederherstellung des polnischen Königreiches im Gouvernement Tambow. 1863 standen die russischen Frauen mit ihrer Sympathie auf der Seite Polens, wie überhaupt der größte Teil der damaligen Intellektuellen. Viele beteiligten sich nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten an dem Aufstand. Die berühmte Anna Pustoswoitowa spricht hier nicht mit, denn sie war mütterlicherseits Polin, hatte eine polnische Erziehung genossen und verkehrte ausschließlich in polnischen Kreisen, so dass das einzig Russische an ihr der Name war. Aber im polnischen Lager gab es russische barmherzige Schwestern und Frauen, die für die Aufständischen energisch Geld sammelten. Darüber klagen einstimmig alle patriotischen Geschichtschreiber und Dichter jener Epoche: Ljeskow, Wsewolod Krestowski und besonders Kluschnikow, der zur Heldin seiner „Fata Morgana“ eine russische Amazone in einer polnischen Bande gewählt hat. Aber viel bedeutender als diese vereinzelten Erscheinungen ist die herzliche Sympathie und die Teilnahme, mit der russische Frauen gefangene polnische Freiheitskämpfer nach dem Bekanntwerden der Murawj ewschen Proskriptionslisten aufnahmen. Der Einfluß der verbannten Polen auf die russischen Intellektuellen begann bereits zu Katharinas Zeiten, hat aber nie eine so große Intensität erreicht wie im Jahre 1863. Schüler und Schülerinnen der polnischen Strafkolonien finden wir in jenem „Jungsibirien“, das stets in den ersten Reihen der russischen Freiheitskämpfer stand. Außer den geistigen und kulturellen Einflüssen waren noch von besonderer Bedeutung die polnisch-russischen Mischehen. Polnische Mütter schenkten der russischen Gesellschaft viele herrliche Söhne und Töchter. Nekrassows Mutter war eine Polin. Seit 1896 verfolge ich mit steter Aufmerksamkeit den vorläufig noch abstrakten und theoretischen Prozess der sogen. „polnisch-russischen Aussöhnung“. Niemand trägt in diese Bewegung so viel leidenschaftliches Wohlwollen hinein wie die Frauen der polnisch-russischen Familien, welche persönlich, durch die Spannung im eigenen Hause, den tiefen Kummer des „verdammten Streites der Slaven untereinander“ erfahren haben. Wir wollen hoffen, dass die kommende große Zeit auch diesen bekümmerten Herzen Beruhigung bringen wird: die Sache des freien Russlands wird es sein, das freie Polen zu verstehen; die Sache des freien Polen — dem freien Russland die brüderliche Hand zu reichen.

Die allgemeinen Schulen der Reformepoche Alexanders II. brachten das russische Mädchen dem jüdischen nahe. Der polnische Einfluß auf die russische Frau wurde gewissermaßen durch den Aristokratismus der polnischen Intellektuellen und den deutlich ausgesprochenen Nationalismus ihrer Bestrebungen paralysiert. Die russischen fortschrittlichen Bewegungen sind ihrer Natur nach immer demokratisch, und ich glaube, dass es auf der ganzen Erde kein zweites Volk gibt, das es so meisterhaft verstände, wie wir Russen, sich im Namen des Weltbürgertums von den nationalen Schranken zu befreien: das kosmopolitische Ideal geht uns zugleich mit der westeuropäischen Bildung in Fleisch und Blut über. Die Hoffnungen der nationalen Freiheit waren bei uns immer mit dem Traum einer Völkerverbrüderung verbunden. Die Freiheit Russlands schwebt uns immer vor als eine Stufe der allgemeinen sozialen Umwälzung, als ein Signal für die Befreiung der ganzen Welt. Und in der ganzen Welt gibt es keine Freiheitsbewegung, an der sich nicht russische Kämpfer beteiligt hätten. Die außerordentlich typische und markante Gestalt Bakunins ist unsterblich in der russischen Revolution. Aber noch mehr als die Männer reagieren die Frauen auf den Ruf nach Befreiung. Russische barmherzige Schwestern haben die Wunden der Garibaldianer und der herzegowinischen Aufständischen gepflegt; sie waren überall, wo Männer für die Freiheit kämpften. Die Barrikaden der Pariser Kommune kannten eine russische Mitkämpferin in der Person der Korwin-Krukowskaja, und an der Spitze der Organisation des mailändischen Aufstandes von 1897 steht eine russische Sozialistin, die Ärztin Anna Kulischowa. Dieser angeborene Demokratismus und Kosmopolitismus der russischen Natur brachte unsere jungen Mädchen den Jüdinnen näher. Trotz aller Schrecknisse und Verfolgungen, die sich während der letzten zwei Regierungen gegen Juden richteten, ist es klar, dass der Antisemitismus weder eine organische russische Krankheit ist noch war, sondern nur ein vorübergehend angeflogenes Übel. Er loderte im russischen Volke wie eine schlimme historische Eigenschaft auf, gefördert und geschürt durch eine noch schlimmere Politik der absolutistischen Bureaukratie der Ignatjew, Plehwe und Bulygin. Die Metzeleien in Kischinew haben mit verblüffender Deutlichkeit die geistige Einheit der russischen und jüdischen Gesellschaft an den Tag gebracht. Tiefe Scham ergriff damals das ganze denkende Russland, und für tausende und abertausende, die sich bis dahin um politische Fragen nicht gekümmert hatten, wurden die Tage von Kischinew zu Tagen der Einkehr in sich selbst, zu einem Signal für den Aufschrei: So geht es nicht weiter, es ist schimpflich so zu leben! Die Gleichberechtigung der Juden und die Sache der russischen Freiheit sind unzertrennlich; eins ist ohne das andere undurchführbar. Ein Zeichen dafür, wie künstlich der russische Antisemitismus ist, ist die Tatsache, dass er nur bei dem einen Geschlechte besteht: der russische Antisemitismus wird nur von Männern vertreten; bei den Frauen haben wir ihn niemals finden können und werden ihn hoffentlich auch jetzt nicht finden.

Einzelne Ausfälle einer alten Schulvorsteherin oder Lehrerin, die in der „Nowoje Wremja“ die Beweise des Herrn Menschikow gelesen haben, dass die Juden an dem unglücklichen japanischen Kriege schuld seien, gegen jüdische Mädchen, sprechen nur von dem schädlichen Einfluß der antisemitischen Demagogen auf einzelne schwache Köpfe einer noch dazu aussterbenden Generation. Der kameradschaftliche Verkehr russischer und jüdischer Knaben wird häufig durch die Aneignung der antisemitischen Vorurteile Erwachsener ernstlich gestört. In den Mädchenschulen kommt das nur selten vor, und wenn wir auf eine derartige Feindseligkeit stoßen, so kann man sicher sein: sie wurde erzeugt und groß gezogen durch die von oben herab diktierte Dressur. Dort aber, wo die Kinder sich selbst überlassen sind, ist das Gegenteil der Fall: ich habe z. B. oft russische Mädchen voll Empörung sagen hören: Fräulein Soundso ist die beste Schülerin und bekommt nur darum nicht den ersten Platz, weil sie eine Jüdin ist. In den Hochschulen nehmen die jüdischen Studentinnen verdientermaßen die ersten Stellen ein, so dass jede russische öffentliche Angelegenheit in ihnen die eifrigsten und tätigsten Vertreterinnen findet. Der Anteil, den die jüdischen Mädchen an dem modernen weiblichen Typus haben, liegt in der impulsiven Empfänglichkeit, dem mitteilsamen, feurigen und beharrlichen Temperament, das sie von sich aus hinzubrachten. Dabei ist eine gebildete russische Jüdin in der Regel eine begeisterte Anhängerin eben der russischen sozialen Fortschrittsbewegung. Die Typen der modernen jüdischen Jugend, die der talentvolle Juschkewitsch schildert, sind in dieser Hinsicht höchst bedeutsam. Sogar das verlockende nationale Ideal des Zionismus findet in diesem eigenartigen Patriotismus, wie es scheint, häufig einen Stein des Anstoßes. Und die Geschichte der russischen Revolution zählt während der kurzen Zeit ihrer Existenz so viele jüdische Opfer für die russische Sache, dass man mit ihren Grabhügeln den Weg von Paris bis nach Petersburg besetzen könnte. Die klassische These des Petersburger Konservativismus, „dass die Juden die Revolution machen“, ist zwar nur eine trostvolle Selbstberuhigung, aber freilich wäre der russische Freiheitskampf ohne die jüdische Energie in viel langsamerem Tempo vorwärts geschritten. Die Verquickung beider Temperamente haben ihn mannigfaltig, zäh und rastlos gemacht. Das jüdische Element ist die Hefe, die das reiche Material des talentvollen russischen Oblomowtums zur Gärung bringt.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Frau
M. A. Bakunin (1814-1876), russischer Revolutionär und Anarchist

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Aus dem russischen Volksleben

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