Recht auf Liebes- und Eheleben.

Die Reformation hatte, soweit sie zur Geltung kam, die Geistlichkeit von dem unnatürlichen Cölibatszwang befreit, die Klöster aufgehoben, und dadurch Vielen ein natürliches und sittliches Geschlechtsleben möglich gemacht. Aber die Reformation hatte auch zur Folge die Stärkung der Fürstenmacht, die Gründung des absoluten Staats, und unter seiner Herrschaft und der zunehmenden Verknöcherung der Erwerbszustände bildete sich der Glaube immer mehr aus, dass der eigentumslose Arme kein Recht auf Liebes- und Eheleben habe, dass ihn heiraten lassen nur bedeute, ihn und seine Familie dem Staat oder der Gemeinde zur Last fallen zu lassen. So steigerten und verschärften sich die Ehebeschränkungen, ebenso die moralischen und physischen Strafen gegen ihre Übertretungen.



Wie immer waren es die Frauen, welche die sichtbaren Folgen eines durch Willkür und Zwangsgesetze verbotenen Verkehrs am härtesten zu tragen hatten. Aber alle Gesetze der Welt können die Natur des Menschen nicht unterdrücken, und so bildete sich in den einsichtsvolleren Kreisen nach und nach eine scharfe Opposition, welche für die Freigabe der Eheschließung eintrat, weil ihre Verbote nur die Befriedigung des Geschlechtstriebes in der Wildnis beförderten und die Unsittlichkeit steigerten. Ein anderes sehr gewichtiges Moment kam hinzu. Trotz der Zwangs-, Zunft- und Bannrechte des absoluten Staats hatte sich mit der Zeit die Großindustrie entwickelt, die viel Arbeitskräfte und möglichst billige brauchte um sich rasch in die Höhe zu bringen. Die alten gewerblichen und staatlichen Schranken standen ihrer freien Bewegung und Entwickelung im Wege, sie mussten fallen und sie fielen. Mit der Gewerbefreiheit und der Freizügigkeit hielt auch die Vereheligungsfreiheit ihren Einzug. Verzopfte Reaktionäre sahen bereits die Auflösung und Vernichtung der Ehe voraus, und kein Geringerer als der verstorbene Bischof Ketteler von Mainz verkündete schon 1865, also zu einer Zeit wo alle jene Fragen für den größeren Teil Deutschlands erst theoretisch erörtert wurden, ,,dass die Niederreißung der vorhandenen Schranken der Eheschließungen die Auflösung der Ehe bedeute, denn nunmehr sei es den Ehegenossen möglich, nach Belieben auseinanderzulaufen.“ Ein schönes Eingeständnis übrigens, das zugibt, dass die moralischen Bande der Ehe unter den heutigen Verhältnissen so geringe seien, dass nur der Zwang sie zusammenhalten könne. Das mögen sich auch unsere Liberalen merken, die in dem Tone des Bischofs Ketteler heute gegen die Sozialisten wettern.

Die polizeilichen Hindernisse der Eheschließungen sind seit zehn Jahren in Deutschland gefallen, seit drei Jahren besteht auch das Civilehegesetz, dass die Ehe zu einem rein bürgerlichen Vertrag erklärt

— eine Auffassung, die, beiläufig bemerkt, auch schon Luther besass

— und auch Angehörigen verschiedenen Glaubens die Eheschliessung ohne Hinderniss ermöglicht. Die angekündigten Gefahren und schlimmen Folgen sind nicht eingetreten*); aber haben diese Gesetze die Lage der Frau im wesentlichen verbessert? Die Thatsachen werden es zeigen.

Nach der Lehre Kants bilden Mann und Frau in der Ehe erst den ganzen Menschen; auf der Verbindung der Geschlechter beruht die normale Entwickelung und Vermehrung des Menschengeschlechts. Die naturgemäße Ausübung des Geschlechtstriebs ist eine Notwendigkeit für die gesunde physische und geistige Entwickelung des Mannes wie der Frau. Da aber der Mensch kein Vieh ist, sondern eben ein Mensch, so genügt ihm für die sittliche Befriedigung seines energischsten und ungestümsten Triebes nicht die bloße physische Befriedigung bei irgend einem beliebigen Wesen andern Geschlechts seiner Rasse; er verlangt vielmehr auch die geistige Anziehungskraft und die seelische Übereinstimmung mit dem Wesen, mit dem er jene Verbindung eingeht. Ist diese nicht vorhanden, so vollzieht sich die geschlechtliche Vermischung rein mechanisch und man nennt eine solche Verbindung mit Recht eine unsittliche. Sie genügt nicht den Anforderungen der Sittlichkeit, die in der gegenseitigen persönlichen Zuneigung zweier Geschlechtswesen die geistige Veredelung eines auf rein physischen Gesetzen beruhenden Verhältnisses erblickt. Sie verlangt, dass die gegenseitige Anziehungskraft der beiden Geschlechtswesen auch über die Vollziehung des Geschlechtsaktes hinaus dauere, um die sittliche und veredelnde Wirkung auch auf die aus der beiderseitigen Verbindung entsprießenden Lebewesen ausdehnen zu können.



*) Herr Professor Ad. Wagner ist allerdings in Übereinstimmung mit Leuten streng konservativer Richtung, die sonst in andern Fragen schwerlich mit ihm an demselben Strang ziehen dürften, anderer Meinung. Ihm schwebt die, seit Malthus allen bürgerlichen Ökonomen in den Gliedern liegende Furcht vor Übervölkerung vor, und er hält darum eine Beschränkung des Eherechts für zweckmäßig. Natürlich nur für die Arbeiter, die nach seiner Meinung einen zu frühen Gebrauch davon machen. Was die Furcht vor Übervölkerung betrifft, so werde ich am Schlusse dieser Schrift darauf zu sprechen kommen. Dagegen muss ich schon hier aussprechen, dass jeder unnatürliche Zwang in Bezug auf Eheschließung notwendig die Unsittlichkeit vermehrt, wie das aus meinen bisherigen Ausführungen schon zur Genüge hervorgegangen sein dürfte. Und zwar die Unsittlichkeit nicht in dem Sinne, dass die unehelichen Kinder vermehrt werden, hierin linde ich von meinem Standpunkt nichts unsittliches, da jeder Mensch das Recht und die Pflicht hat im reifen Alter seinen intensivsten Naturtrieb zu befriedigen, und ich in einem freien Liebesverhältnis zweier Menschen, dessen formelle eheliche Verbindung der Staat verweigert, etwas viel sittlicheres sehe als in einer formell gültigen geschlossenen Ehe, die auf niedrigster Berechnung, auf Eigennutz basiert. Die Unsittlichkeit, die ich meine, besteht vielmehr in der Förderung der Prostitution und der unnatürlichen Befriedigung des Geschlechtstriebs durch geheime Laster.
Glaubt Professor Wagner auf diese Gefahr hin die Beschränkung der Ehefreiheit befürworten zu können, so verzichtet er darauf, die Sittlichkeit als Grundlage der Gesellschaft anzusehen. Gestalten die sozialen Verhältnisse heute, wie unzweifelhaft ist, die Ehe für den Arbeiter ungünstig, so ist nicht der logische Schluss das Eherecht zu beschränken, sondern die sozialen Verhältnisse gründlich zu ändern; aber man glaube nicht zwischen Menschen und Naturrecht einerseits und unsern faulen ökonomischen Zuständen andererseits ein befriedigendes juste milieux (die richtige Mitte) finden zu können. Der Rath vieler bürgerlichen Ökonomen an die Arbeiter, es der Mittelklasse nach zu tun und nicht zu früh zu heiraten, schließt eine Anweisung auf die Prostitution in sich; findet man diese als bequemes Auskunftsmittel in der Ordnung, dann spreche man es offen aus, man sorge aber auch dafür, dass die Arbeiter dazu die Mittel haben. Übrigens ist diese Auffassung ein beredtes Zeugnis für die Moral in der National Ökonomie.



Die Rücksichten auf und die Verpflichtung gegen die Nachkommenschaft sind es also in erster Linie, welche das Liebesverhältnis zweier Geschlechtswesen unter allen gesellschaftlichen Formen zu einem dauernden machen werden. Es wird jedes Paar, welches in geschlechtliche Verbindung treten will, moralisch verpflichtet, sich die Frage vorzulegen, ob seine gegenseitigen physischen und moralischen Eigenschaften sich zu einer solchen Verbindung eignen. Um diese Prüfung zu ermöglichen und die richtige Antwort sich geben zu können ist aber zweierlei notwendig. Erstens: die Fernhaltung jedes andern Interesses, das mit dem eigentlichen Zweck der Verbindung, Befriedigung des Naturtriebs und Fortpflanzung des eignen Wesens in der Fortpflanzung der Rasse nichts zu tun hat; zweitens ein Maß von Einsicht und Bildung, das die blinde Leidenschaft zügelt. Da beide Bedingungen in der gegenwärtigen Gesellschaft in den meisten Fällen fehlen, so ergibt sich daraus, dass die heutige Ehe vielfach entfernt ist ihren wahren Zweck zu erfüllen und insofern weder als ,,heilig“, noch als „sittlich“ gelten kann.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Frau und der Sozialismus.