Ascetischer Fanatismus.

Ist eine Gesellschaft einmal auf einer solchen Stufe des sittlichen Verfalls und der Versunkenheit angekommen, so kann der Rückschlag in das andere Extrem naturgemäss nicht ausbleiben. Der Menge der Ausschweifenden trat eine Minderheit der streng Enthaltsamen gegenüber. Wie früher die Ausschweifung, so nahm jetzt die Ascese religiöse Formen an und suchte in schwärmerischem Fanatismus für sich Propaganda zu machen. Das war in keinem Zeitalter mehr der Fall, als beim Beginn der römischen Kaiserzeit, als eine alle Schranken niederreißende Ausschweifung die ganze Gesellschaft vergiftete, und sich zugleich in ihrer wahnsinnigen Verschwendung in grellsten Gegensatz zu der Not und dem Elend von Millionen und aber Millionen von Menschen stellte, die aus allen Ländern der Welt und aus allen Lebensstellungen gerissen, nach Rom und Italien in die Sklaverei geschleppt wurden. Zudem hatte im jüdischen Volke die Eroberung Jerusalems und des jüdischen Reiches durch die Römer, wie die vollständige Vernichtung jeder politischen Selbstständigkeit die Geistesverfassung der ascetischen Schwärmer auf die höchste Spitze des Fanatismus getrieben. Von hier ging nun jene menschenfeindliche, die gänzliche Enthaltsamkeit und die Vernichtung des Fleisches predigende Lehre aus, die sich Jahrzehnte später als Christentum entpuppte und in dem damaligen sozialen und geistigen Zustande des römischen Reiches einen furchtbaren Boden fand, auf dem sie üppig emporwucherte.



Das Christentum ist nicht schuld, wenn heute die Stellung der Frau eine höhere ist, als sie zur Zeit seiner Entstehung war. Das Christentum hat nur widerwillig sein wahres Wesen in Bezug auf die Frau verleugnet und es tat dies nur gezwungen. Die urwüchsigen, physisch gesunden und geistig noch unverdorbenen Völkerschaften, die in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung von Osten und Norden, wie ungeheure Meereswogen, herauffluteten, und das erschlaffte römische Weltreich, in dem das Christentum allmählich sich zum Herrn aufgeworfen, überschwemmten, widerstanden mit aller Kraft den ascetischen Lehren der christlichen Prediger, und wohl oder übel musste es diesen gesunden Naturen Rechnung tragen. Mit Überraschung sahen die Römer, als jene Völkerschaften begannen heran zu fluten, dass deren Sitten so ganz andere wie die ihrigen waren. Der berühmteste römische Geschichtsschreiber Tacitus zollte dieser Thatsache seine unverhohlene Bewunderung, der er in Bezug auf die Deutschen also Ausdruck gab: „Ihre Ehen sind sehr strenge und keine ihrer Sitten ist mehr zu loben als diese, denn sie sind fast die einzigen Barbaren, welche sich mit Einem Weibe begnügen; sehr wenig hört man bei diesem zahlreichen Volke von Ehebruch, der aber auch auf der Stelle bestraft wird, welches den Männern selbst erlaubt ist. Mit abgeschnittenen Haaren jagt der Mann die ehebrecherische Frau nackt vor den Verwandten aus dem Dorfe, denn verletzte Sittsamkeit findet keine Nachsicht. Weder durch Schönheit, noch durch Jugend oder Reichtum findet eine solche Frau einen Mann. Dort lacht Niemand über das Laster; auch wird dort das Verführen oder Verführtwerden nicht als Lebensart bezeichnet. Spät verheiraten sich die Jünglinge und daher behalten sie ihre Kraft; auch die Jungfrauen werden nicht eilfertig verheiratet, und bei ihnen findet sich dieselbe Jugendblüte, die gleiche körperliche Größe. Von gleichem Alter, gleich kräftig, vermählen sie sich und die Stärke der Eltern geht auf die Kinder über.“

Es darf hier nicht verkannt werden, dass Tacitus, um den Römern ein Muster und Vorbild zu geben, die ehelichen Zustände, der alten Germanen etwas zu rosig malte, oder auch nicht genügend kannte. Wenn es auch richtig ist, dass die Ehebrecherin so strenge bestraft wurde, so lässt sich dasselbe nicht von dem ehebrecherischen Manne sagen. In diesem Punkte haben die Männer zu allen Zeiten und unter allen Völkern verstanden durch ihre Macht der Frau die Geschlechtsbeschränkung aufzuerlegen, ohne sich selbst im geringsten daran zu binden. Sie gingen dabei wohl zunächst von der in den sozialen Zuständen begründeten Ansicht aus, dass der Mann als Haupt und Ernährer der Familie, nicht Familienzuwachs zu erhalten verpflichtet sei, der nicht vom ihm stamme. Aber gerade der Zustand sozialer Abhängigkeit, wodurch die Frau eine Art Eigentum des Mannes wird, ist es, welcher sie ewig zur Sklavin des Mannes machen würde, wenn kein Gesellschaftszustand möglich wäre, der sie ökonomisch vollkommen emanzipierte.

Da bei den alten Germanen die Sklaverei bestand, so waren auch die weiblichen Sklaven den Lüsten ihrer Herren preisgegeben, wohingegen die geschlechtliche Vermischung einer freien Frau mit einem Sklaven als entehrend galt.




Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Frau und der Sozialismus.