Die Fortschritte des nationalen Prinzips in Deutschland

Autor: Buchner, Karl Friedrich August (1800-1872) Jurist und Schriftsteller, Erscheinungsjahr: 1842
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Deutschland, Gesellschaft, Fortschritt, Vaterland, Nationalinteressen, materielle und soziale Verhältnisse
Aus: Deutsche Monatsschrift für Literatur und öffentliches Leben. Erster Band. 1842. Januar bis Juni. Herausgegeben von Karl Biedermann (1812-1901) deutscher Politiker, Publizist und Professor für Philosophie.

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Indem wir unsern Blick, bevor wir ihn in die einzelnen Verhältnisse unsres Nationallebens versenken, zuerst auf dem Ganzen ruhen lassen, begegnen wir einer Tatsache, welche wohl geeignet ist, uns mit Freude und Stolz zu erfüllen. Diese Tatsache ist das wiedererwachte Nationalbewusstsein der Deutschen, das wiedergewonnene Band der innern Einheit für die bisher nur äußerlich verbundenen deutschen Stamme.

Ja, wir stehen auf dem Punkte, wieder eine Nation zu werden, nachdem wir Jahrhunderte lang nur ein Aggregat von Völkerschaften waren, die zerstreuten Glieder eines zerstörten Organismus, eine tote Masse ohne belebendes und beseelendes Prinzip. Wir dürfen uns wieder als eine Nation fühlen und behaupten; wir dürfen uns des Namens: Deutsche nicht mehr schämen, denn wir haben ihn wieder zu Ehren gebracht; wir dürfen nicht mehr die Augen niederschlagen, wenn der Fremde uns höhnend fragt, wo denn unser Vaterland, wo denn Deutschland eigentlich sei? ob in Preußen, oder in Bayern, oder in Österreich? ob zu Berlin oder zu Frankfurt? sondern wir können ihm stolz erwidern, dass es wohl da ein Deutschland geben müsse, wo mehr als 30 Millionen laut und wie mit einer Stimme den deutschen Namen bekennen und dies Bekenntnis mit ihrem Gut und Blut zu vertreten entschlossen sind.

Eine lange, trübe Zeit der Schmach, der Schwäche, der Zerstückelung liegt hinter uns, eine Zeit, deren Andenken um so schwerer auf uns lastet, als wir jetzt endlich klar erkennen, wie töricht die Freude war, die wir selbst über diese Vereinzelung der deutschen Staaten, über diese politische Ohnmacht Deutschlands empfanden; mit wie unverständigem Hochmute wir auf die politischen und materiellen Verbesserungen anderer Nationen herabsahen, stolz im Gefühle vermeintlicher geistiger Überlegenheit; wie kindisch kurzsichtig wir jeden Versuch abwiesen, uns aus diesem trägen Wahne aufzuschütteln und zum Wettlaufe mit unsern Nachbarn anzuspornen.

Doch werfen wir diese drückende Erinnerung von uns, denn sie könnte uns entmutigen; verzehren wir uns nicht in unfruchtbarer Reue über das, was wir gefehlt und versäumt, sondern suchen wir das Versäumte nachzuholen und die Fehler unsrer Nationalentwicklung wieder gut zu machen. Noch ist es Zeit! eine entschlossene, kräftige Anstrengung, und wir werden den Platz unter den Nationen wieder einnehmen, den uns andere Staaten nur darum entreißen konnten, weil wir selbst, in beklagenswerter Verblendung, ihn aufgaben; das deutsche Volk wird auch auf der neuen Bahn das erste sein, wie es das erste war im Gebiete der Wissenschaft und Gelehrsamkeit.

Aber sorgen wir auch, dass dieser Aufschwung sich nicht ins Haltlose verliere, dass er den einzig richtigen Weg nicht verfehle, der zum Ziele führt. Schon einmal, in den denkwürdigen Jahren 1813—1815, haben wir ein solches Aufstreben des deutschen Nationalgeistes erlebt; aber die Flamme, die damals so hoch aufloderte, sank doch wieder in die tote Asche zurück, weil ihr die Nahrung und die Lebenslust zum Weiterbrennen fehlte; und selbst diejenigen, welche von den Wogen jener Aufregung am Höchsten getragen wurden, müssen, wenn sie wahr sein wollen, bekennen, dass jene glorreichen Tage mehr der Gipfelpunkt einer gewaltigen Bewegung, als der Anfangspunkt einer fortschreitenden und sich steigernden Entwicklung unsres Nationallebens gewesen sind.

Und woher doch dies? Fragen wir die Geschichte jener Zeit, die Geschichte unsres Volks um Belehrung; sie wird uns sagen, wo wir damals, wo wir früher gefehlt; sie wird uns unterweisen — zwar nicht, wie wir jetzt handeln müssen — denn dies kann nur ein lebendiges Bewusstsein der Gegenwart und ihrer Bedürfnisse — aber wie wir nicht handeln dürfen, um nicht wieder fehlzugehen.

In welchem Zustande fand uns die große Bewegung der europäischen Staatenverhältnisse, deren Anfang durch die französische Revolution bezeichnet ward?

Die Einheit Deutschlands bestand schon lange nur noch dem Namen nach. Das österreichische Kaiserhaus strebte nach Befestigung und Vergrößerung seiner Hausmacht, welche ebensowohl außerdeutsche, slawische, magyarische, italienische, als deutsche Elemente in sich schloss. Der durch den großen Kurfürsten neu erstandene, jugendlich kräftige preußische Staat war zwar seinen wesentlichen Bestandteilen nach deutsch, aber durch seine feindliche Stellung gegen das Kaisertum und überhaupt durch sein Verhältnis als Teil des deutschen Reichs und doch zugleich als selbstständiger Staat zu einer Politik genötigt, welche die Zersplitterung und Schwächung Deutschlands vollenden musste. Dem Krebsgange der Politik des deutschen Reichs zu folgen, war für Preußen unmöglich, denn diese Politik war die eines absterbenden Staatskörpers; Deutschland mit sich emporzureißen, ihm seinen eignen frischen Lebensodem einzuhauchen, vermochte es ebenso wenig, denn um dies zu können, hätte es sich an die Spitze des Reichs stellen, hätte der preußische König sich die Kaiserkrone aufs Haupt setzen müssen, was ihm vielleicht gelungen wäre, was er aber weislich verschmähte, weil er wohl einsah, dass er als Kaiser von Deutschland der ohnmächtige Gebieter eines zerfallenden Reichs sein würde, während er als König von Preußen das Oberhaupt eines in sich fest geschlossenen und durch seine Einheit innerlich erstarkenden Staates war. Gleichwohl bedurfte Preußen einer Gebietsvergrößerung, um seine selbstständige Stellung mit Würde zu behaupten, und so war es genötigt, eine Politik der Eroberung anzunehmen, seine Macht auf den kriegerischen Geist seiner Nation zu gründen.

Während also Österreich und Preußen als zwei selbst, ständige, abgeschlossene Staaten aus der Gesamtheit des deutschen Reichsverbandes heraustraten, nur dem Namen nach noch damit zusammenhängend, was blieb da von Deutschland übrig? Eine verworrene Masse kleiner, durch Gesetze, Sitten und den Geist der Bevölkerungen, besonders aber der Höfe von einander geschiedener, auf ihre Souveränität stolzer Länder und Ländchen. Zwar gab es auch unter ihnen einige nicht unbedeutende Staaten zweiten Ranges, allein diese waren zum größeren Teil durch ein fremdartiges, undeutsches Interesse in Anspruch genommen, so Sachsen durch die Bemühungen seiner Dynastie um die polnische Krone, Hannover durch seine Beziehungen zu England, Bayern durch die Eifersucht auf Österreich, welche es zum Bundesgenossen Frankreichs machte. Wie denn überhaupt in allen diesen kleineren deutschen Staaten das persönliche Interesse und die persönlichen Zwecke, Neigungen und Launen der Fürsten einen überwiegenden Einfluss ausübten, und Land und Volk fast nur als ein Besitztum, als eine Domäne der Machthaber erscheinen ließen, welche, in Gemeinschaft mit ihren Höfen und dem an sie sich anschließenden Adel, das Mark ihrer Staaten verprassten. So im Innern unfrei, nach Außen macht- und ruhmlos, verlernten diese Bevölkerungen sich als selbstständige, stimmfähige Mitglieder der großen europäischen Völkerfamilie fühlen; ihr politischer Gesichtskreis schrumpfte zusammen, ihre ganze Tätigkeit zog sich in die Enge kleinbürgerlicher Lebensinteressen zurück, während ihre Fürsten in ausländischer Sitte und ausländischem Luxus schwelgten.

Anders in Preußen, dessen Fürsten, von dem großen Kurfürsten an, ihren Ehrgeiz in die Vergrößerung des Gebietes und der Macht ihres Staates setzten, — ein Ehrgeiz, welcher ihr Interesse nicht von dem Interesse ihrer Nation trennte, sondern vielmehr beide aufs Innigste verschmolz. Hier war eine Nation, hier war ein Nationalleben und ein Nationalgeist, und zwar ein sehr lebendiger, selbstbewusster, hochstrebender Nationalgeist, aber freilich kein deutscher, sondern ein preußischer, und je fester sich dieser preußische Nationalgeist in sich abschloss, je stärker er sich geltend machte, desto scheuer zogen sich die übrigen deutschen Stämme vor ihm zurück, da sie weder sich ihm anzuschließen, noch ihm gegenüber eine eigne, selbstkräftige Nationalität zu behaupten im Stande waren.

So trafen uns die Rückschläge der französischen Revolution. Beim Anblick einer Nation, die sich im gewaltigen Aufschwunge wie ein Mann erhob, alle Schranken niederriss, die im Innern Provinz von Provinz, Stand von Stand getrennt hatten, und nach Außen, überall siegreich, durch die Macht der Einheit und der Vaterlandsliebe alle Feinde niederschlug, bei diesem Anblicke begannen die Deutschen zu ahnen, dass es noch ein höheres Motiv der Verbrüderung für Völker geben müsse, als die Grenzen, welche die Politik der Kabinette um sie gezogen hatte. Die Ideen der Freiheit, des Fortschritts, der politischen Reformen wurden der Vereinigungspunkt für die strebenden Geister unter den Deutschen und zogen diese zugleich in unwillkürlicher Sympathie zu der neugebornen französischen Nation hin.

Bald aber änderte sich von Neuem die Gestalt der Verhältnisse. Die Revolution, im Innern zum militärischen Despotismus verknöchert, trat nach Außen erobernd auf. Das deutsche Reich brach vor dem ersten Andrange der französischen Waffen machtlos zusammen; Österreich und Preußen hatten um ihre eigne Existenz zu kämpfen; die kleinern deutschen Staaten fielen größtenteils freiwillig dem Sieger zu, welcher die Fürsten durch persönliche oder dynastische Interessen, die Völker durch Umgestaltung der veralteten Formen des Staatslebens oder durch einzelne materielle Begünstigungen an sich zu fesseln wusste. Das war eine schmachvolle Zeit, die Zeit der größten Erniedrigung Deutschlands, ein Schandfleck in unsrer Geschichte, eine Wunde, die so lange in dem Herzen jedes ächten Patrioten fortbluten wird, bis auch die letzten Spuren jener unseligen Zerspaltung der deutschen Nation ausgetilgt sind und die Rückkehr solcher Ereignisse selbst den Schein der Möglichkeit verloren hat. Anklagen wollen wir aber Niemand wegen des Geschehenen, weder einzelne Völker, noch einzelne Fürsten, sondern jene Schuld als eine gemeinsame, als eine Schuld unsrer gesamten Nationalentwicklung tragen und bekennen, denn das war sie in der Tat. Gewiss ist es als ein höchst beklagenswertes Ereignis anzusehen, dass deutsche Fürsten sich dem fremden Unterdrücker anschließen und gegen ihre eignen Brüder kämpfen konnten; aber dies Ereignis hätte nie stattgefunden, wäre nicht die Einheit Deutschlands schon lange vorher verloren gegangen, wären nicht alle die kleineren deutschen Staaten, durch das abgeschlossene und selbstständige Heraustreten Preußens und Österreichs aus dem Gesamtverbande, auf eine solche Politik der Vereinzelung, auf ein solches macht- und ruhmloses Dasein verwiesen gewesen. Darum ist der erste Schritt, den wir zur Austilgung jener Schmach, zur Sühnung jener alten Schuld tun können, allgemeines Vergessen jeder Feindschaft, jeder gehässigen Anklage, durch welche so leicht jene traurige Spaltung der Gemüter genährt und fortgepflanzt wird.

Dass man dies damals nicht genug bedachte, ward Ursache, dass die große, ewig glorreiche Nationalerhebung, welche jener Zeit der Schmach ein Ende machte, nicht alle die Folgen entwickelte, die man sich davon versprach. Preußen konnte allerdings nicht wohl anders als mit Misstrauen und einer gewissen Selbsterhebung die Staaten betrachten, welche seine Sache, die es als die deutsche ansehen durfte, verlassen und sich sogar zum Teil auf seine Kosten vergrößert hatten; diese letztern dagegen fühlten sich durch jenen, wenn auch nicht ungerechten Stolz der Preußen verletzt und schlossen sich nur mit halber Seele einer Bewegung an, deren beste Früchte doch immer wieder nur Preußen zufallen mussten, weil dieses, einmal im Besitze einer selbstkräftigen Nationalität und dadurch der bevorrechtete Repräsentant der deutschen Interessen, bei jeder Wiederherstellung der deutschen Verhältnisse die Initiative und den ersten Rang ansprechen durfte.

Doch war dies mehr die Stimmung der Kabinette als die der Völker. Diese huldigten vielmehr in rückhaltlosem Enthusiasmus dem erhebenden Beispiele Preußens, an dessen Sieg sich für sie die Ehre des deutschen Namens und — die Sache der Freiheit knüpfte, und hätte damals Preußen, diese Sympathien benutzend, sich an die Spitze eines deutschen Völkerbundes gestellt, gegründet auf dasselbe System des Fortschritts, durch welches schon die innere Regeneration des preußischen Staats so glücklich bewerkstelligt worden war, wer weiß, ob nicht ein solcher Versuch gelungen und Deutschland schon damals zu einer Einheit gelangt wäre, welcher es erst jetzt, nach mehr als einem Vierteljahrhundert, auf einem andern Wege entgegenstrebt.

Es kam anders. Preußen und Österreich, durch bedeutende Gebietsvergrößerungen in ihrer Macht befestigt und erweitert, nahmen ihre frühere Stellung als europäische Großmächte wieder ein; die Staaten zweiten und dritten Ranges wurden von Neuem zu einer politischen Untätigkeit und Ohnmacht verdammt. Die hierdurch wieder auflebende Spannung zwischen Preußen und dem übrigen Deutschland erhielt aber auch noch von einer andern Seite her bedenkliche Nahrung. Die durch die französische Revolution erweckten, durch die gewaltigen Aufregungen des heiligen Kriegs verstärkten und ermutigten Freiheitsideen lebten in einem großen Teile des deutschen Volkes fort und erzeugten mannigfache Wünsche und Versuche einer allgemeinen Regeneration des deutschen Staats- und Nationallebens. Die preußische Regierung schien anfangs nicht abgeneigt, diesen Wünschen durch zeitgemäße Zugeständnisse entgegenzukommen; allein ängstlich gemacht durch den Ungestüm, womit die liberale Partei ihre Anforderungen erhob, und durch einzelne Beispiele von gefährlichem Missbrauch jener Freiheit in andern Staaten, hielt sie sich für verpflichtet, jedem weitern Vordringen der liberalen Ideen mit Ernst entgegenzutreten und die Integrität des monarchischen Prinzips, in welchem sie die einzige Schutzwehr für die Sicherheit und Stärke der deutschen Nationalität, gegenüber dem Auslande, zu erblicken glaubte, mit größter Strenge aufrecht zu erhalten.

Die Regierungen der kleinern Staaten, welche eine solche Rücksicht nicht in gleichem Umfange geltend zu machen vermochten, konnten sich der Aufnahme der neuen Prinzipien nicht wohl entziehen, und so entstanden nach und nach in den meisten derselben Verfassungen, fast insgesamt nach französischem Muster.

Hierdurch war der Grund zu einer neuen Spaltung der deutschen Nation gegeben, die, indem sie sich durch die alte Eifersucht der kleinern und besonders der süddeutschen Staaten gegen Preußen verstärkte, einen höchst bedenklichen Charakter annahm. Die liberale Partei gab Preußen schuld, dass es die gemeinsame Sache Deutschlands und der Freiheit an Russland verrate, und preußischerseits ward den Liberalen ihre Hinneigung zu Frankreich zum Vorwurfe gemacht.

Diese Spannung und Erbitterung erreichte ihren höchsten Grad in und nach dem verhängnisvollen Jahre 1830, und wäre es damals nicht den vereinten Anstrengungen der Kabinette gelungen, den allgemeinen Frieden zu erhalten, so hätten wir leicht eine Wiederholung der frühern Ereignisse und den abermaligen Abfall eines großen Teils von Deutschland zu der Sache Frankreichs erleben können. So sehr überwog damals die Gleichheit der politischen Prinzipien den Gegensatz der Nationalitäten.

Preußen sah dies wohl ein und ergriff deshalb die Initiative zu einer neuen Vereinigung der so getrennten deutschen Stämme, zu einer Vereinigung, bei welcher sich ebensowohl die Regierungen als die Völker beteiligt und befriedigt finden mussten; es gründete den deutschen Zollverein. Der Zollverein drängte die politischen Parteikämpfe in den Hintergrund durch die großen nationellen Fragen, die er ins Leben rief; er bezeichnete den Weg zur Verschmelzung der Interessen Preußens mit denen des übrigen Deutschlands, ohne Aufopferung der einen oder der andern.

Preußen hatte sich bis dahin als eine bloße Militärmacht behauptet. Diesem Zwecke seiner äußern Politik war seine ganze innere Verfassung und Verwaltung, waren seine finanziellen und seine Verkehrsverhältnisse untergeordnet. Die Strenge, womit das preußische Kabinett an dem unbeschränkt monarchischen Prinzipe festhielt und die Wünsche der konstitutionellen Partei zurückwies, hatte ihren Grund, wenn nicht ausschließlich, doch hauptsächlich in jenen Rücksichten auf eine starke Regierung, wie sie für einen militärischen Staat, zumal von der Beschaffenheit Preußens, unentbehrlich erschien. So lange daher Preußen auf jenem Wege einer kriegerischen Politik verharrte, war eine Verständigung zwischen ihm und der liberalen Partei in Deutschland unmöglich. Ebenso wenig konnten aber auch die kleinern Regierungen sich mit rückhaltloser Sympathie dem preußischen Systeme anschließen, da sie, bei einer solchen Verbindung, doch immer Nichts waren als die Vasallen des mächtigeren Staates, auf welchen aller Glanz und Vorteil dieses Bündnisses zurückfallen musste, während sie selbst nur die Lasten einer solchen stets gerüsteten und kriegerischen Stellung zu tragen hatten.

Dies Verhältnis erfuhr durch den Zollverein eine folgenreiche Umgestaltung. Zwar gab Preußen durch denselben keineswegs seine militärische Stellung und seinen Anteil an der Entscheidung der großen europäischen Fragen auf; allein, folgend dem allgemeinen Zuge, der die gesamte moderne Staatenpolitik in neue Bahnen fortriss, wendete es eine erhöhte Aufmerksamkeit der Erweiterung und Befestigung seiner kommerziellen Macht zu. Von dieser Seite her trat es eben sowohl den liberalen Prinzipien, als auch dem Interesse der kleinern Staaten näher. Die liberale Partei, welche zu lange nur um politische Ideen und Theorien gekämpft hatte, musste endlich einsehen, dass die politische Freiheit nicht Zweck, sondern Mittel sei, dass sie einer reellen, praktischen Unterlage bedürft, und dass diese keine andre sein könne, als die Freiheit des produktiven Schaffens, der industriellen und kommerziellen Tätigkeit; sie musste einsehen, dass, um eine freie Nation zu bilden, allererst eine Nation da sein müsse, und dass diese durch den bloßen Kampf um Verfassungsformen doch nimmer ins Leben gerufen werde. Die liberale Partei, bis dahin auf die engen Grenzen kleiner Gemeinwesen beschränkt, lernte jetzt ihren Blick auf ein größeres Ganzes richten; ihr Gesichtspunkt erweiterte sich, ihre Ideen gewannen, durch die Anwendung auf einen umfassenderen Kreis von Interessen und Verhältnissen, eine günstige Umgestaltung und Entwicklung. Das Streben nach größeren Garantien der Freiheit und nach ausgebildeteren politischen Formen ward zwar keineswegs aufgegeben, allein man überzeugte sich, dass auch die vorhandenen Einrichtungen ein ziemliches Maß von Freiheit des Schaffens und Werdens gestatten, und dass man dies erst nach allen Seiten hin auszubeuten und auszufüllen suchen müsse, bevor man neue Forderungen stelle. Auf der weiten Rennbahn, welche der Zollverein dem nationellen Gewerbefleiße aufschloss, fand die freie Tätigkeit der Privaten den unbegrenztesten Spielraum; ein ausgebreitetes Assoziationswesen, die natürliche Folge des erweiterten Verkehrs, sicherte den Einzelnen eine nachdrückliche und gern geduldete Einwirkung auf die gemeinsamen Angelegenheiten der Nation, und selbst die öffentliche Meinung, die Presse, erstarkte und erhob sich zu einer hohen und einflussreichen Stellung durch die freie Besprechung der wichtigen nationalökonomischen Fragen, welche die rasche Entwicklung der deutschen Industrie ins Leben rief.

So hat sich denn allmählich, in dem gemeinsamen Verfolgen eines großen nationalen Zwecks, der Gegensatz zwischen dem preußischen Systeme und der liberalen Partei in Deutschland insoweit ausgeglichen, dass eine Verständigung zwischen Beiden wohl zu hoffen steht. Denn auch die preußische Regierung hat die Hand zur Annäherung geboten und der öffentlichen Meinung, als der Vertreterin der Nationalinteressen und ihrer Entwicklung, Zugeständnisse gemacht, welche sie der nur auf Verfassungsreformen dringenden Fortschrittspartei hartnäckig verweigerte. Sie hat das freie Zusammenwirken der Privaten für Zwecke der Industrie gutgeheißen und gefördert; sie hat die Strenge ihrer Polizei- und Verwaltungsmaßregeln zu Gunsten des Verkehrs gemildert; sie hat sogar die rückhaltloseste Kritik über die von ihr verfolgte Handelspolitik nicht nur gestattet, sondern auch beachtet, und sich somit in den wichtigsten Beziehungen unter die Kontrolle der öffentlichen Meinung gestellt.

Aber auch die Stellung Preußens zu den kleinem Regierungen ist durch den Zollverein eine andere, günstigere geworden. Auf dem Gebiete kommerzieller und industrieller Fragen, welches die Basis dieses Volkerbündnisses ist, vermag auch der kleine Staat selbstständiger und selbstbewusster dem größeren gegenüberzutreten, als dies bei einer Verbindung möglich ist, welche nur politische Zwecke verfolgt und auf politischen Machtbedingungen beruht. Die Vorteile der Lage eines Landes, der Gewerbefleiß seiner Bevölkerung und viele andre natürliche Verhältnisse ersetzen hier häufig, was demselben an Flächengehalt und Einwohnerzahl ab geht, und machen sein Bündnis auch größeren Staaten wichtig und wünschenswert. So sehen wir denn in der Tat die im Zollverein verbundenen deutschen Staaten über ihre gemeinschaftlichen Interessen auf der Basis vollkommener Rechtsgleichheit unterhandeln; und wenn in einzelnen Fällen die Stimme der größeren Staaten einen überwiegenden und oftmals bedenklichen Einfluss auszuüben scheint, so würde deshalb weniger die Natur der Verhältnisse, als die Lauheit oder Unselbstständigkeit der übrigen Vereinsmitglieder anzuklagen sein.

Die Bedingungen sind somit gegeben, um die Einheit, Macht und Unteilbarkeit der deutschen Nation dauernd zu begründen; der Punkt ist gesunden, in welchem die verschiedenen Teile Deutschlands, in welchem Regierungen und Völker sich begegnen; die Schranken beginnen zu fallen, welche bisher die kleineren deutschen Staaten von dem großen preußischen, den Süden von dem Norden, die konstitutionellen Gemeinwesen von der absoluten Monarchie trennten. Der Gang der Ereignisse hat uns mit wunderbarer Gewalt in diese Bahn fortgerissen, und fast überraschend, wie mit einem Zauberschlag hervorgerufen, tritt uns ein deutscher Gemeingeist, ein deutsches Nationalleben entgegen, kräftig, bewusst, und selbst dem Auslande, das uns eben noch verspottete, Achtung gebietend. Schon blickt England mit Unruhe auf die raschen Fortschritte des deutschen Handelssystems und fürchtet einer neuen Hanse auf den Meeren und den Märkten zu begegnen, die es bisher fast allein beherrschte; schon vermochte die deutsche Nation, durch die Energie und Würde, womit sie den Übermut französischer Eitelkeit in seine Schranken zurückwies, den gefährdeten Frieden Europas zu sichern; schon wird die Wichtigkeit dieses Einflusses, den das wieder enger verbundene Deutschland auf die politische und kommerzielle Gestaltung der Staatenverhältnisse ausübt, nicht nur von den fremden Nationen, sondern auch von den einzelnen Gliedern der großen deutschen Familieselbstgefühlt und erzeugt in denselben den Trieb nach immer innigerer Vereinigung. Von den Staaten des deutschen Bundes sucht einer nach dem andern den Anschluss an den Zollverein, und bald wird dieser mit seinen Grenzen das ganze Bundesgebiet, soweit es nicht dem Kaiserstaate zugehört, umspannen, wird sich an die Nordsee, das eigentlich deutsche Meer, lagern und von dort aus seine Flagge (das friedliche Banner der Neuzeit) weithin über den Ozean wehen lassen. Die deutschen Stämme im Norden, von dem Vaterlande, dem sie durch Abstammung, Sprache und Sitten angehören, losgerissen und einem fremden Staatsleben einverleibt, streben einer Wiedervereinigung mit Deutschland zu, und auch bei den westlichen, deren Rückkehr zur politischen Einheit mit den verwandten Bevölkerungen durch die bestehenden Verhältnisse unmöglich gemacht oder doch auf entferntere Zeiten hinausgeschoben wird, zeigt sich wenigstens eine erhöhte Teilnahme an der Bewegung des geistigen Lebens der Deutschen, ein stärkeres Festhalten an germanischer Sitte und Sprache.

Eine reiche Zukunft liegt vor uns aufgeschlossen; sorgen wir dafür, dass sie uns nicht entgehe! der erste Schritt auf der neuen Bahn ist getan, die Richtung ist bezeichnet; haben wir Acht auf jeden folgenden Schritt! heften wir das Auge unverwandten Blicks auf das hohe Ziel, welches uns entgegenleuchtet! Es ist ein großes, ein erhabenes Wort, das Wort: Nationalität; suchen wir es recht zu verstehen und recht zu gebrauchen! Die Kraft dieses Wortes ruht auf zwei mächtigen Säulen; sie heißen: Einheit und Fortschritt. Eine Nation ohne Einheit, ohne einen festen Zusammenhalt im Innern und eine starke Widerstandsfähigkeit nach Außen, ist Nichts als eine kraftlose Masse von Elementen, von der jeder Nachbar ein Stück abreißt, die jeder kühne Abenteurer nach seinen Zwecken gestaltet und benutzt. Deshalb hinweg mit dem kosmopolitischen Liberalismus, der nur von einer Propaganda der Freiheit, von einer Gemeinde der politisch Gleichgesinnten träumt, aber darüber die näheren Bedürfnisse und Verhältnisse des Nationallebens vernachlässigt; der nicht eher für das Vaterland wirken und kämpfen möchte, als bis alle seine Forderungen erfüllt wären; der gern dem Nationalfeinde die Hand böte, wenn er Hoffnung hätte, durch diesen das zu erreichen, was ihm allein des Strebens wert erscheint. Die Zeiten dieses Liberalismus sind, dem Himmel sei Dank! in Deutschland vorüber und werden hoffentlich niemals wiederkehren. Wir haben einsehen gelernt, dass das keine wahre politische Freiheit ist, welche nicht zugleich und vor allen Dingen das Vaterland, die Nation groß, einig und frei macht; wir haben die Täuschungen der französischen Freiheitssympathien in ihrer ganzen Gefährlichkeit und Heimtücke erkannt.

Aber von der andern Seite ist auch die Einsicht gewonnen worden, dass es keine Einheit und keine Stärke gibt ohne stetigen Fortschritt, und dass die Bedingungen des Zusammenhaltens der Nation zugleich die Bedingungen ihrer Entwicklung, ihres freien Wirkens und Sichausbreitens sein müssen.

Das preußische System war bisher vorzugsweise auf die Einheit des Staatslebens, auf die Konzentration der Staatsmacht gerichtet; es betrachtete das öffentliche Leben der Nation, die Freiheit der Einzelnen, die rechtlichen und die politischen Institutionen fast nur aus dem Gesichtspunkte dieser Zentralisation, als Mittel, die Einheit des Staats zu befestigen und die Benutzung der Volkskraft für die Zwecke der äußeren Politik zu erleichtern. Aber diese Einheit und diese Entwicklung war eine künstliche, denn es mangelte ihr die freie Bewegung und Selbsttätigkeit des Volkes, die Initiative der öffentlichen Meinung.

In den konstitutionellen Staaten war diese Initiative der öffentlichen Meinung schon längst anerkannt und durch gesetzliche Bürgschaften vertreten; allein, um ihre ganze wohltätige Wirksamkeit zu entfalten, fehlte ihr ein umfassender Kreis großer, nationaler Interessen. Dieser ist ihr durch die Vereinigung der vielen Einzelstaaten zu einem großen Gemeinzwecke gegeben; die staatsbürgerlichen Garantien und die Repräsentation der Nation haben gegenwärtig eine um mittelbare, praktische Wichtigkeit erhalten, denn was im Rate der Regierungen verhandelt wird, sind nicht mehr die bloßen Fragen der Kabinettspolitik, die Interessen der Kronen und der Fürsten, sondern die eigentlichsten, wesentlichsten Interessen der Nation, der Privaten, die Interessen des nationalen Gewerbefleißes, des Verkehrs von Land zu Land, der industriellen und kommerziellen Entwicklung der Volkskraft. Eine kriegführende, erobernde Nation empfängt den Impuls von ihrem Mittelpunkte, von ihrer Regierung; eine industrielle hat ihre Bewegung in sich selbst, in jedem ihrer Glieder, und ihre Zentralgewalt ist nur eines der Räder, durch welche jene Bewegung reguliert wird.

Die völlige Verschmelzung jener beiden Prinzipien, welche bisher das deutsche Nationalleben in sich spalteten, ist der letzte, entscheidende Schritt, der getan werden muss, um die Entwicklung dieses Nationallebens zu vollenden, um den politischen Fortschritt an das Interesse der Einheit und der äußern Macht Deutschlands zu knüpfen und um andrerseits dieser Macht eine feste und breite Basis an der öffentlichen Meinung, an dem freien Aufstreben der Volkskraft zu geben.

Hiermit haben wir, wenn wir uns nicht täuschen, das politische Glaubensbekenntnis einer starken und täglich wachsenden Partei in Deutschland ausgesprochen, die wir die nationale nennen möchten und zu der auch wir uns von ganzer Seele bekennen. Die nationale Partei unterscheidet sich dadurch von der früheren liberalen, dass sie nicht, wie diese, die Form des Staatslebens von dessen Inhalt, von den bestimmten, tatsächlichen Interessen trennt, auf deren Entwicklung und Befestigung dasselbe beruht. Die nationale Partei sieht ebenfalls die politische Freiheit und Mündigkeit des Volks als notwendige Bedingung eines kräftigen und gesunden Nationallebens an, aber sie fordert diese Freiheit nicht unter allgemeinen, abstrakten Formen, sondern in ihrer bestimmten Anwendung auf einzelne Verhältnisse; sie erstrebt nicht im Namen der Vernunft, der Philosophie, eine ängstliche Abwägung der Volksrechte und der Regierungsrechte, sondern sie sucht Regierungen und Völker auf eine Bahn hinzudrängen, wo jeder Teil seine natürliche Aufgabe bei dem gemeinsamen Werke sich zugewiesen findet, auf die Bahn materieller Verbesserungen, allgemeiner nationeller Fortschritte. Die nationale Partei will keine der gesetzlichen Bürgschaften aufgegeben wissen, in deren Besitz sich die Mehrzahl der kleinern deutschen Staaten befindet; sie verlangt vielmehr deren fortschreitende Entwicklung und Erweiterung; aber sie wird nicht ungeduldig und mutlos, wenn diese Entwicklung, bei der eigentümlichen Natur unsrer deutschen Staatenverhältnisse, nur langsam und oft auf Umwegen vor sich geht; sie strebt nicht nach dem Fernsten und Höchsten zuerst, sondern nach dem Nächsten und Erreichbarsten; ganz besonders aber sucht sie die Befestigung und den Fortschritt der politischen Freiheit ebensowohl in der Feststellung und Ausbildung materieller und sozialer Verhältnisse, als in formellen Garantien, und sieht aus diesem Grunde nicht selten das Zustandekommen einer neuen Kommunikationslinie oder die Abschließung eines Handelstraktates als ein eben so wichtiges und folgenreiches Ereignis für die Freiheit und den Fortschritt an, als einen Sieg der Opposition bei den Wahlen oder in den Kammern. Dem absoluten Staatsprinzipe gegenüber, welches gegenwärtig noch das des größten und einflussreichsten Staates in dem deutschen Nationalvereine ist, verleugnet die nationale Partei keineswegs ihre entgegengesetzten politischen Ansichten; sie hält auch die jenem Staate fehlenden gesetzlichen Bürgschaften der Freiheit und des Fortschritts keineswegs für ersetzt oder überflüssig gemacht durch die Vorzüge der Persönlichkeiten, die daselbst an der Spitzt der Geschäfte stehen und ebenso wenig durch den streng geordneten Mechanismus der Verwaltung; allein sie lebt des sichern Glaubens, dass der Gang der Ereignisse, dass die Bahn materieller Verbesserungen, durch deren Verfolgung die preußische Politik sich zum Mittelpunkte der deutschen Nationalentwicklung gemacht hat, sie in eine Richtung hineindrängen werde, welche früher oder später auch eine ausdrückliche Anerkennung freierer Staatsformen herbeiführen müsse; und diese Erwartung macht es ihr leicht, sich auch mit den dortigen Zuständen zu befreunden, welche, wenn schon unter ganz andern Bedingungen entstanden, als die der übrigen deutschen Staaten, und deshalb auch einen ganz andern Geist atmend, doch nicht minder kräftige Elemente zur Förderung der allgemeinen Nationalinteressen Deutschlands in sich tragen.

Diese Nationalinteressen des gemeinsamen Vaterlandes sind es überhaupt, welche die nationale Partei überall zunächst und hauptsächlich ins Auge fasst und als den unverrückbaren Richtpunkt für alle Entscheidungen politischer, staatswirtschaftlicher und sozialer Fragen betrachtet. In der beharrlichen Verfolgung dieses Wegs vertritt sie das System des Fortschritts, aber eines besonnenen, stetigen, auf Tatsachen, nicht auf Theorien gestützten Fortschritts, eines Fortschritts, den weder die ungemessenen Forderungen eines ideologischen Liberalismus, noch die ohnmächtigen Reaktionsversuche eines verstockten Absolutismus aus seiner sichern Bahn zu reißen im Stande sind.