Kapitel 5 - Die nächtliche Fahrt. – Die Insel.

5. Die nächtliche Fahrt. – Die Insel.

Der Mond schien hell und freundlich auf die rasch dahin strömende, undurchsichtige Fluth herab, während nur dann und wann einzelne dünne Wolken die helle Scheibe für kurze Momente verdüsterten und ihre Schatten über die weite Niederung deckten. Leise gurgelte dabei das Wasser unter den gewichtigen Booten, und die Strömung warf schmutziggelbe Schaumblasen gegen die Planken derselben an. Hier und da trieb ein von dem tückischen Nachbar seinem sichern, Jahrhunderte lang behaupteten Platz entrissener Baumstamm vorüber und streckte die langen Riesenarme wie Hülfe suchend nach den ruhig neben ihm fortrauschenden Brüdern aus, und der Schrei des Loon gab manchmal, oft wie spottend, den rohen Jubelruf der Zechenden zurück, der noch immer aus einem der im Innern hell erleuchteten Boote und einem weiter oben gelegenen Trinkhaus erschallte. Oft sprang auch ein gewaltiger Catfisch aus seinem kühlen Element empor, und die glatte, silberfarbene Haut blitzte dann im Mondenlicht. – Sonst aber lag Ruhe – stille, unheimliche Ruhe auf der breiten Fläche des Stromes und stach nur um so schauriger gegen das rohe Jauchzen der wilden, ausgelassenen Gesellen ab.


Smart schritt langsam am Ufer hin und hatte eben den hoch abgebrochenen Stamm einer jungen Sykomore erreicht, der hier von den Flußleuten benutzt wurde, die Bootstaue daran zu befestigen, als sich ihm die Gestalt eines andern Mannes näherte, den er augenblicklich als den vor wenigen Stunden geretteten Iren erkannte. Langsam kam dieser ihm gerade entgegen am Ufer heraufgeschleudert und schien dann und wann einmal die Boote mit einem mißtrauischen Blicke zu betrachten.

„Ei, ei, O'Toole,“ rief da warnend der Yankee – „juckt Euch das Fell schon wieder und tragt Ihr so absonderliches Verlangen nach kaltem Flußwasser, daß Ihr Euch, alle Vorsicht vergessend, in die Nähe von Leuten wagt, die erst vor ganz kurzer Zeit ein Todesurtheil über Euch gefällt hatten? Ich möchte zum zweiten Mal nicht ausreichend sein, Euch ihrem Griff zu entreißen.“

„Hol' sie der Böse –“ murmelte der Ire, der bei der ersten Anrede, und ehe er recht unterscheiden konnte, wer zu ihm sprach, schnell nach der Seite und einer dort wahrscheinlich verborgenen Waffe gegriffen hatte. Durch den Anblick des Wirths aber beruhigt, doch immer noch mit verbissenem Ingrimm fuhr er fort: „Eine Bande ist's, – eine raubgierige, schurkische Bande von lauter Schuften, die aneinander hängen wie die Kletten. – Smart – Ihr mögt mir's nun glauben oder nicht, aber St. Patrick soll mich in meiner letzten Stunde verlassen, wenn ich nicht fürchte, hinter den Burschen steckt etwas Schlimmeres, als wir jetzt noch vermuthen.“

„Hinter den Bootsleuten?“ lächelte der Wirth verächtlich – „da thut Ihr ihnen wahrlich zu viel Ehre an. – Wildes, rohes Volk ist's, das gedanken- und sittenlos in den Tag hineinlebt und, wie die Matrosen, jeden Dollar verspielt und vertrinkt, den es sich vorher mit saurem Schweiße verdienen mußte.“

„Das ist's nicht allein,“ sagte der Ire kopfschüttelnd – „das ist's bei Gott nicht allein. Die Kerle halten zusammen, wie ein Sack voll Nägel, und haben auch Zeichen untereinander, darauf wollte ich meinen Hals verwetten. Sobald der eine Halunke pfiff – ich habe mir übrigens den Pfiff gemerkt – stürmten sie Alle mitsammen auf mich los, wie eine Meute Braken, wenn sie das Horn hören. Aber wartet – wartet, Canaillen; ich komme Euch noch auf die Spur, darauf könnt Ihr Euch verlassen, und nachher sei Euch Gott gnädig.“

„Dort unten stößt ein Boot ab,“ sagte Smart und zeigte den Fluß hinab, wo gerade unter den Flatbooten ein kleines scharfgebautes und jollenartiges Fahrzeug vorschoß, zuerst eine Strecke in den Strom hinein hielt und dann stromab, aber immer noch mit bei den Rudern arbeitend seine Bahn verfolgte. Ein einzelner Mann saß darin, wer es aber sei, konnten sie nicht erkennen.

„Nun, wo will denn Der hin?“ fragte der Ire und nahm den Hut ab, um nicht durch den Rand desselben den Blick beschattet zu haben.

„Es wird irgend ein Flatbooter sein, der hier wie gewöhnlich seine paar Dollar verspielt hat und nun in aller Eile hinter seinem indessen vorausgegangenen Boote herrudern muß.“

„Dann kommt dort noch die ganze übrige Mannschaft,“ sagte der Ire, und zugleich glitt ein großes Segelboot in den Strom, das aber nicht dieselbe Richtung wie der Einzelne nahm, sondern den Bug etwas stromauf scharf in den Fluß hinein hielt, als wenn sie die Landung am andern Ufer so hoch als möglich machen wollten.

„Weathelhope drüben bekommt heute Besuch,“ sagte Smart – „wird sich unmenschlich freuen.“

„Sollten die bei Weathelhope einkehren?“

„Wenn nicht, so haben sie noch wenigstens fünf Meilen heut Abend zu marschiren, ehe sie ein anderes Haus erreichen können, und fünf Meilen bei Nacht und Nebel durch den Sumpf zurücklegen, dafür danke ich. Lieber blieb' ich die Nacht dicht am Ufer des Stromes; da ließen die Mosquitos doch wenigstens noch etwas von mir übrig; in dem Swamp aber drin fräßen sie, glaub' ich, einen Menschen bis an Knochen auf.“

„Es wäre bei Gott kein Verlust, wenn das den Canaillen heute passirte,“ brummte der Ire. – „Doch gute Nacht, Smart, es wird spät, ich will mich schlafen legen. Von heut an bin ich übrigens Euer Schuldner, denn ohne Euch läge ich jetzt tief dort unten in der schmutzigen Fluth. – Gebe Gott, daß ich Euch das einmal vergelten kann!“

„Ei, O'Toole,“ sagte der Wirth lachend, während er ihm die Hand hinüberreichte – „das war blos Eigennutz von mir, ich hätte ja sonst einen meiner besten Gäste verloren. – Doch – ohne Spaß – nehmt Euch vor dem rohen Volke künftig lieber ein wenig mehr in Acht. – Es hat Niemand Ehre davon, sich mit ihnen einzulassen.“

Die Männer schritten jeder langsam nach seiner Wohnung in die Stadt zurück. Nur O'Toole blieb noch mehrere Male stehen und lauschte aufmerksam nach den Ruderschlägen des Bootes hinüber, die in immer weiterer und weiterer Ferne verklangen, bis sie endlich ganz plötzlich aufhörten oder ein veränderter Windzug den Laut nicht mehr zum westlichen Ufer trug. Der Irländer horchte noch eine Weile und murmelte dann ärgerlich vor sich hin –

„Hol' sie der Teufel – jetzt läßt sich doch nichts mit ihnen anfangen. Aber wartet – morgen will ich einmal hinüber nach Weathelhope, und dann müßte es ja mit dem Henker zugehen, wenn man nicht auf die Fährte der Schufte kommen könnte.“

Das Boot strebte übrigens keineswegs, wie der Ire vermuthet hatte, dem andern Ufer zu, obgleich es, von Helena aus gesehen, allen Anschein hatte. Es hielt nur in gerader Richtung durch den Strom, bis in etwa fünfhundert Schritt von seinem scheinbaren Ziel.

„Stop her!“1 sagte da plötzlich eine rauhe, tiefe Stimme, die aus dem Stern des Fahrzeugs vortönte, und die vier Bootsleute hoben gleichzeitig ihre Ruder hoch aus dem Wasser, daß die glänzenden, daran hängenden Tropfen bis zu dem Bootsrand zurückliefen und hier die Ruderlöcher näßten. Es war der Steuermann, der den Befehl gegeben, und zugleich ein alter Bekannter von uns, der Narbige, der in Helena dem armen Iren bald so gefährlich geworden wäre. Auch die neun Männer an Bord – vier an den Rudern und fünf behaglich zwischen diesen ausgestreckt, bildeten die Mehrzahl Derer, die an dem Uferkampf gegen den Einzelnen einen so ungerechten Antheil genommen hatten.

Das Boot, nicht mehr so schnell durch die Fluth getrieben, blieb doch noch hinlänglich im Gang, um von dem Steuer, und zwar stromab regiert zu werden.

„Ich wäre lieber noch ein wenig weiter hinübergefahren,“ sagte der Eine jetzt, während er den Kopf hob und nach dem noch ziemlich fernen Land hinüberschaute.

„Und wozu?“ frug der mit der Narbe – „erstlich liefen wir Gefahr, auf den Sand zu rennen, und dann möchten sie auch oben in dem Hause auf uns aufmerksam werden, und das ist Beides nicht nöthig.“

„Lassen wir die runde Weideninsel links oder rechts liegen?“

„Links.“

„Da ist ja auch wohl das tiefste Wasser?“

„Deshalb nicht, unser kleines Känguru würde schon über die flachen Stellen fortspringen. So arg ist's übrigens auch gar, auch wir haben an beiden Seiten der Insel bei jetzigem Wasserstand und an den seichtesten Stellen sechs Fuß und brauchen höchstens anderthalb.“

„Nun, mir recht – ich weiß mit dem Fluß nicht Bescheid, aber – wie lange fahren wir denn wohl bis hinunter?“

„Es mögen etwa vierzehn Meilen von Helena sein,“ meinte der Narbige. „Eine Meile weiter unten fangen wir wieder an zu rudern, gehen über den Fluß zurück und müssen den Landungsplatz in höchstens anderthalb Stunden erreichen, vielleicht noch eher. Jetzt seid aber ruhig; hier am Ufer stehen einige Häuser, und je weniger Geräusch wir machen, desto besser ist's.“

Das scharfgebaute Fahrzeug trieb noch eine ziemliche Strecke geräuschlos stromab, dann aber ließen, auf ein Zeichen des Führers, die Männer die bis dahin noch immer emporgehaltenen Ruder wieder in's Wasser, der Bug kehrte sich wieder dem westlichen Ufer zu, und hin über die Fluth schoß nun das Känguru, daß die kleinen Kräuselwellen vorn hoch emporspritzten und dann in langen wogenden Kreisen seitab strömten.

Die einzelnen Lichter am Ufer blieben weit, weit zurück. Jetzt näherte sich das Boot, der stärkern Strömung treu bleibend, mehr und mehr dem Ufer, ja glitt so nahe an dem düstern Urwald hin, daß die funkelnden Glühwürmer sichtbar wurden und der klagende Ton der Nachtvögel zu ihnen herüberschallte.

Hier lag eine Ansiedelung, und diese jetzt so geräuschlos als möglich zu passiren, waren die Ruder umwickelt worden – kein Laut wurde gesprochen, und so dicht am Lande glitt das Boot vorüber, daß sie oft die Wipfel der durch Abbrechen des Ufers hineingestürzten Stämme berühren konnten. Da blieb eins der Ruder in einem vorragenden Aste hängen und fiel dem, der es hielt, aus der vergebens rasch danach greifenden Hand. Der Steuermann drückte jedoch das Hintertheil des Bootes schnell dem forttreibenden Holze zu und ergriff es eben noch zur rechten Zeit, konnte jedoch nicht verhindern, daß ein paar der Ruder gegen Bord schlugen und dadurch auf dem stillen Wasser ein allerdings nicht unbedeutendes Geräusch verursachten.

Sie befanden sich jetzt gerade unterhalb des einen Hauses. Die Hunde schlugen dort an und liefen dem steilen Uferrand zu, von dem aus sie das vorbeischlüpfende Boot deutlich erkennen konnten.

„Hallo the boat!“ rief eine laute Stimme, die aus der kleinen Lichtung heraustönte. Gleich darauf sprang ein Mann in Hemdsärmeln auf einen halb über die steile Uferbank hinausragenden Sykomorestamm und schwenkte, zum Zeichen, daß er mit den Vorbeirudernden reden wolle, ein helles Tuch.

Daß sie gesehen waren, ließ sich nicht mehr verkennen, der Steuermann gab auch ohne Zeitverlust und mit ruhiger Stimme sein

„Was soll's?“

– zurück und ließ dabei den Bug herumschneiden, daß er gegen die Strömung kam. Dabei rief er dem im Vordertheil Sitzenden zu, irgend einen Ast zu erfassen und da fest zu halten, bis er mit dem Manne gesprochen hätte.

„Aber zum Teufel, Ned,“ flüsterte ihm der vor ihm Sitzende ängstlich zu – „bist Du denn gescheidt? Du willst es Denen am Lande wohl ganz in's Maul –“

„Stille, sag' ich,“ unterbrach ihn der Steuermann, „laßt mich nur machen. – Wir dürfen keinen Verdacht erregen.“

„Wohin geht das Boot?“ rief abermals die Stimme vom Ufer aus.

„Stromab, bis Montgomerys Point.“

„Noch Platz an Bord?“

Der Steuermann zögerte mit der Antwort – „Was zum Teufel mögen sie wollen?“ – flüsterte er vor sich hin.

„Noch Platz an Bord für einen Passagier?“ wiederholte der Erste.

„Alle Wetter – da giebt's 'was zu angeln,“ kicherte der eine der Ruderer – „sag' ja, Ned – um Gottes willen sag' ja; der Mann hat sicherlich einen vortrefflichen Koffer, den er los sein möchte.“

„Nein!“ rief der Steuermann, ohne die Einflüsterungen weiter einer Sitte zu würdigen – „wir haben schon zu viel hier – wenn uns ein Dampfboot begegnet, könnte uns ein Unglück zustoßen,“ und eine nochmalige Frage, die durch das Schäumen des Wassers in der neben ihnen angeschwemmten Eiche ohnedies übertäubt wurde, nicht weiter beachtend, gab er laut den Befehl vorn loszulassen. – Der Bug fiel gleich darauf wieder ab, und mit dem Worte „Ruder ein“ erneuerte das Känguru seine so plötzlich und unerwartet unterbrochene Bahn.

„Was in Beelzebubs Namen ist Dir denn heut Abend in den Kopf gefahren?“ zürnte der frühere Sprecher, indem er sich unwillig gegen den Steuernden wandte, „schickst die Leute selbst zurück, die uns ihre guten Sachen bringen wollen, und betrügst uns förmlich um unsern Gewinn? – Der Capitain wird schön schimpfen, wenn er's erfährt.“

„Halt Dein ungewaschenes Maul,“ knurrte der Narbige – „red'st, wie Du's verstehst. – Wir haben heute genug Unsinn in Helena getrieben; ich sollte denken, wir ließen es dabei bewenden. Wolltest Du eines einzigen erbärmlichen Koffers wegen Gefahr laufen, unsern Schlupfwinkel aufgestöbert zu wissen – heh? Willst Du hier gleich – uns ganz dicht auf dem Kragen, einen Verdacht rege machen, der uns die benachbarten Constabler in ein paar Wochen auf den Hals hetzen würde? Nein, es war thöricht genug, daß wir heute den Streit anfingen – zu dem Du ebenfalls wieder den Anlaß gegeben. Dabei mag's heute sein Bewenden haben. Fatal ist mir's übrigens, daß uns der Laffe am Ufer gesehen hat. Nun, er weiß doch wenigstens nicht, wohin wir gehören. Aber jetzt greift aus, meine Burschen, denn der Capitain wird uns erwarten. Ich bin überdies neugierig, was unser nächster Zug sein mag; heute Nacht bestimmt er's vielleicht.“

Das Boot flog nun, von den elastischen Rudern getrieben, pfeilschnell über die glatte Stromfläche hin, und nicht lange mehr währte es, bis sich eine dunkle, hoch mit stattlichen Bäumen bewachsene Insel von dem düstern Hintergrund klar absonderte, welche von den Männern als das Ziel ihrer nächtlichen Fahrt begrüßt wurde.

Diese Insel, die wie alle übrigen im Mississippi mit Schilf, Weiden und hohen Baumwollenholzbäumen am Rande bewachsen war, glich ganz den Schwestern und zeichnete sich auch durch kein besonderes Merkmal weiter aus. Ihre Nummer2, unter der sie die Bootsleute kannten und mit der sie auf den Flußkarten verzeichnet stand, war „Einundsechzig“. Wie die meisten jener kleinen Landstrecken, inmitten des Flusses gelegen, wurde sie aber nur selten und in letzterer Zeit nie mehr von den herabkommenden Booten besucht, da ein Hurricane, wie es hieß, den größten Theil derselben verwüstet habe.

Wirklich starrten auch, und zwar besonders an den Stellen, an denen ein großes Boot bequem hätte landen können, eine solche Menge von weitästigen, knorrigen Baumwipfeln überall empor, daß ein Hinankommen zum Ufer unmöglich gewesen wäre. Nur ein Platz, und zwar an der linken Seite der Insel, lag offen und frei da und schien auch in früherer Zeit begangen gewesen. Jetzt aber umgaben ihn einige Snags und Sawyers3, die aus der rasch daran vorbeischießenden Fluth hervorschauten, und der Flatbooter, der vor einbrechendem Abend vielleicht gehofft hatte, hier sein Boot zu befestigen, griff mit schnellem, ängstlichem Eifer zu den langen Finnen und trieb, in fast verzweifelter Kraftanstrengung, das unbehülfliche Boot fort von dem Platze, der ihm Verderben bringen mußte.

Der Steuermann, an dem langmächtigen Ruder lehnend, das weit hinter dem Boot aus dem Wasser stand, fluchte dann wohl, daß der Staat nicht mehr Fleiß darauf verwende, den Strom von solch' gefährlichen Gesellen zu räumen. Er schwur sich's auch vielleicht heimlich zu, künftig in dem in seinem „Navigato“ angegebenen Fahrwasser zu bleiben, das ihn auf die andere Seite der Insel verwies, und entging dadurch unbewußt einer Gefahr, die ihm wie seinem Boot weit verderblicher geworden wäre, als alle Snags und Sawyers des Mississippi zusammen. Aus den dichtverworrenen Dickichten des Inselufers aber schauten ihm dann ein paar höhnisch lachende Augen nach, und eine rauhe Stimme brummte heimlich in den Bart:

„Sei froh, Bursche, daß Du Dich hast warnen lassen, das Land hier zu betreten, Du hättest sonst eine ruhigere und längere Nacht gehabt, als Du es Dir wohl je im Leben träumen ließest.“

Daß jene Snags und Sawyers keineswegs wirklich vom Strom angewaschene Stämme, sondern nur auf künstliche Weise, durch Anker und versteckte Bojen hergestellte Blendwerke seien, dachte natürlich Niemand. Aus der Ferne sahen sie auch täuschend genug aus, und nur ganz in der Nähe und nach genauer Untersuchung hätte man dem Geheimniß auf die Spur kommen können. Wer von den Schiffern würde aber seine Zeit daran verschwendet haben? Das starre, dem Wasser entragende Holz war ihnen genug, und soweit wie möglich beschrieben sie den Kreis, der sie aus der Nähe solcher „Bootvernichter“ bringen sollte.

Die ziemlich nahe zum linken Ufer gelegene Insel war drei englische Meilen lang, oben ziemlich breit und auf dieser Seite von einer Menge angeschwemmter Stämme förmlich verpalissadirt, und lief am untern Theile spitz zu. Dort hatte sich aber eine ziemlich bedeutende und wohl eine volle Meile stromabgehende Sandbank gebildet, die unter dem Wasser hin zu einem eine halbe Meile tiefer gelegenen Eiland führte. Im Ganzen wurde dieses letztere noch mit zu Einundsechzig gezählt, da das Wasser zwischen beiden zu seicht war, größeren Flatbooten eine Durchfahrt zu gestatten, in Wirklichkeit war es aber von der obern größeren Insel, selbst beim niedrigsten Wasserstande, vollkommen getrennt und wurde, wenn im Juli die Schneewasser aus den Felsengebirgen herankamen, oft gänzlich von diesen bedeckt. Die Insulaner nannten dieses kleine Eiland übrigens, da sie es im Falle einer Entdeckung als letzte Zuflucht betrachteten, die „Nothröhre“.

Noch besseren Schutz genoß Nr. Einundsechzig von der West- oder der rechten Seite des Flusses. Hier umgab sie zuerst eine ziemlich hohe Sandbank, die etwa zweihundert Schritt vom Hauptufer der Insel wiederum in einen schmalen, mit Weiden und Baumwollenholzsprößlingen dichtbewachsenen Landstreifen auslief. Dieser zog sich fast parallel und in gleicher Länge mit der Insel nieder, wurde aber auch seinerseits wieder am rechten Ufer durch eine, jedoch nur wenige Klafter breite Sandfläche geschützt.

Demnach konnte man sich dieser Insel nur von der linken oder Ostseite – wo ihr nächstes Ufer der Staat Mississippi war, nähern, und hier hielten die getroffenen Vorkehrungen sicherlich Jeden vom Landen ab, der dazu früher Lust gehabt haben mochte. Die eigentliche Strömung und das Fahrwasser des Mississippi lag denn auch ganz auf der rechten Seite der Insel, und die Entfernung zwischen jenem schmalen Zwischenstreifen und Arkansas betrug eine englische Meile, der Raum zwischen Einundsechzig und dem Staat Mississippi aber kaum die Hälfte dieser Entfernung.

An den beiden der Insel gegenüber liegenden Ufern standen nun allerdings ein paar niedere Blockhäuser, wie sie die Holzschläger am Mississippi gewöhnlich aufrichten, um die geschlagenen Klaftern an die vorbeifahrenden Dampfschiffe zu verkaufen. Sie waren aber nur selten bewohnt und auch wirklich fast unbewohnbar geworden. Das in Arkansas stehende hatte nicht einmal mehr ein Dach und drohte dem nächsten Sturmwind nachzugeben, der es unfehlbar in den Strom hinabstürzen mußte.

Etwas besser erhalten zeigte sich die Wohnung auf der Mississippi-Seite, jedoch glich sie ebenfalls viel eher einem Stall, als einem menschlichen Aufenthalt. Zahlreiche Pferdespuren gaben auch Zeugniß, daß sie hierzu oft genug benutzt gewesen, und mehrere, nicht gerade schwach begangene Pfade führten östlich auf einen Sumpf zu, in dessen schwammigem, fast zehn Monate im Jahre unter Wasser stehendem Boden sie sich verloren.

Wer nun, trotz all' den getroffenen Vorsichtsmaßregeln, zufällig an der Insel gelandet und nicht gleich auf den einzigen gangbaren Pfad gekommen wäre, der hätte seine Bahn mehrere hundert Schritt weit durch den fürchterlichsten Schilfbruch hin suchen müssen, der nur je eine Insel oder ein Festland bedeckte. Dazwischen lagen dann nicht gefällte, sondern mit der Wurzel dem Boden entrissene Stämme so wild und toll durcheinander, daß Niemand auch nur hoffen konnte, dieses Pflanzengewirr zu durchdringen, der sich nicht mit Messer und Axt erst Bahn hieb in das Herz der Waldung. Da aber durch solch' entsetzliche Arbeit nicht der mindeste Vortheil zu hoffen war, so fiel es sehr natürlich auch gar Niemandem ein, Zeit und Mühe an solch' nutzlose Arbeit zu verschwenden. Wer wirklich einmal aus Neugierde oder Langeweile begonnen hätte, einen solchen Weg anzutreten, wäre gar bald bei einem Geschäft ermüdet, das ihm weiter nichts zu versprechen schien, als zerrissene Kleider und Blasen in den Händen.

Dennoch lag hier – so tief versteckt und schlau angelegt, daß sie selbst den scharfen Augen der Jäger entging – eine ganze Ansiedelung verborgen, die aus neun kleinen Blockhütten, einem ziemlich geräumigen Waarenhause und fünf dicht an einander gebauten und verbundenen Pferdeställen bestand. Das Ganze bildete eine Art Hofraum und war, nach Art der indianischen Forts, so gebaut, daß es gegen einen plötzlichen Angriff selbst einer Uebermacht recht wohl vertheidigt werden konnte. Das Waarenhaus und eine der kleinen Blockhütten dicht daran standen in der Mitte, und rings herum bildeten auf der Ostseite, nach dem Mississippi-Staat zu, die Ställe eine feste, undurchdringliche, aber wohl mit Schießscharten versehene Wand, während auf der westlichen, minder bedrohten Seite nur hohe und doppelte Fenzen die einzeln stehenden Gebäude mit einander verbanden. Als besondern Schutz betrachteten aber die Insulaner eine lange messingene Drehbasse, die oben auf dem platten Dache des Waarenhauses angebracht war, und mit der sie, als letztes Rettungsmittel, Tod und Verderben auf ihre etwaigen Angreifer hinabschleudern konnten.

Der Raum vor dem Waarenhause und der kleinen Blockhütte, in welchem der Capitain mit seiner Frau wohnte, war frei und jetzt, in der Sommerzeit, mit großen, buntgestreiften Sonnenzelten bespannt. In den übrigen Häusern aber wohnten (das obere breit und geräumig gebaute ausgenommen, das zu einer gemeinschaftlichen Junggesellenwirthschaft bestimmt blieb) die „verheiratheten Glieder der Gesellschaft“. Dieses „Junggesellenhaus“ oder „Bachelors hall“, wie es gewöhnlich genannt wurde, diente denn auch zum gemeinsamen Versammlungsort. Nur bei geheimen Berathungen kamen die Führer der Schaar in einem kleinen, zu diesem Zweck eingerichteten Kämmerchen des Waarenhauses zusammen, um dann erst die gefaßten Beschlüsse später in Bachelors Hall zur Abstimmung zu bringen.

Der Capitain übte jedoch eine eigene, fast unbegreifliche Gewalt über diese wilden, gesetzlosen Menschen aus, die sonst nichts auf Erden anerkannten, als ihre eigenen Gesetze. Er hatte freilich auch gewußt, sich auf die einzig mögliche Art Achtung zu verschaffen, und zwar durch das Uebergewicht seines Geistes sowohl, wie durch mehrfach bewiesenen persönlichen Muth, der wirklich an Tollkühnheit grenzte. Sie fürchteten ihn deshalb fast so sehr, wie sie ihn ehrten, und Capitain Kelly war ein Name, der nie in Scherz oder Spott genannt werden durfte.

Nur zwei begangene Wege führten zu diesem durch ein scheinbar natürliches Bollwerk beschützten Zufluchtsorte von Verbrechern. Der eine lief vom Ufer aus, und zwar dicht unter den schon erwähnten künstlichen Snags, zuerst gerade der Mitte der Insel zu, und zog sich dann, ziemlich betreten, ein klein wenig links ab. – Der war aber nur dazu bestimmt, um selbst dann noch den Eindringling irre zu führen, wenn er den Pfad selbst entdeckt hätte, denn er brachte ihn in einen kleinen Sumpf, in dem er, wenn er sich nicht zeitig wieder zurückzog, unfehlbar versinken mußte. Der wirkliche Weg dagegen lief, durch darüber geworfene Aeste verdeckt, fast in einem rechten Winkel rechts ab und traf das „Fort“ gerade unter dem fünften Stall. Eine andere, rein gehaltene und ordentlich ausgehauene Straße lief von der Südostseite des Forts, an der rechten oder Ostseite des Sumpfes hin und gerade der Südspitze der Insel zu, wo er zu den hier sorgfältig versteckten und für den letzten Nothfall aufbewahrten Booten führte. Doch war von hier aus kein Angriff auf das Fort zu fürchten, da ein einziger, richtig gefällter Baum jede Bahn vernichtet hätte. Eine Verteidigung des Forts konnte überhaupt nur als verzweifeltes Mittel betrachtet werden, um so viel Zeit zu gewinnen, die Boote zu erreichen. Der Haupt- und alleinige Schutz der Gesellschaft blieb das Geheimniß, in das ihre ganze Existenz gehüllt war, und das zu bewahren mußte auch vor allem Uebrigen ihr wichtigstes Streben sein.

Fürchterliche Eide verbanden die Genossen, und so weit verzweigt und so innig mit einander verkettet waren die einzelnen Glieder, daß Der, der den Bund wirklich hätte verrathen wollen, nie wußte, ob der, dem er vertraute – und wenn er Richter oder Rechtsgelehrter war – nicht selbst mit zur Verbrüderung gehörte und ihn – den Verräther – seiner Strafe überantwortet hätte.

Dabei bot die Insel stets dem von den Gerichten Verfolgten einen sichern Zufluchtsort, und einmal dort, blieb jedes Nachforschen der Constabler vergebens. – Es hieß dann gewöhnlich, der Flüchtling sei nach Texas entkommen, während er noch sicher und ruhig auf der Insel saß. Aber auch ein Preis war kluger Weise von dem Oberhaupt dieser Schaar Dem bewilligt worden, der den Verrath eines Mitgliedes hinderte und den Thäter erschlug. Ein solcher bekam tausend Dollar in baarem Silber ausgezahlt, und eine so bedeutende Prämie blieb an und für sich schon lockend genug, die Aufmerksamkeit der im Lande Vertheilten rege zu erhalten, hätte es nicht fast noch mehr die eigene Sicherheit gethan.

Der erste Sonnabend jedes Monats war zum Versammlungstag bestimmt, und Capitain Kelly führte dabei den Vorsitz. Mit dem festen Lande von Arkansas standen sie in sehr geringer, mit Mississippi dagegen in sehr starker Verbindung. Ein Posten, der, wie ein Matrose im Mastkorbe, in dem Wipfel des höchsten Baumes seinen Platz hatte, konnte von dort aus beide Ufer erkennen und wurde deshalb dort gehalten, etwaige Signale zu beobachten oder bedrängten Kameraden, die wohl das Ufer, aber nicht die Insel erreichen konnten, zu Hülfe zu eilen. Zu diesem Zwecke lag auch ein vierrudriges Boot gleich über der Sandbank und an der Nordwestecke der Insel stets zum Auslaufen bereit. Der Pfad aber, der zu diesem führte, konnte nur von genau Eingeweihten gefunden werden, doch lag das Fahrzeug selbst hier ziemlich offen, da das seichte Wasser größere Boote stets eine bedeutende Strecke davon entfernt hielt und deshalb keine Entdeckung zu fürchten war.

Doch genug über die innere Einrichtung eines Ortes, den wir im Laufe der Erzählung überdies noch näher kennen lernen werden. Wir müssen jetzt auch die Bewohner dieser Verbrecher-Republik kennen lernen.

Fußnoten

1 Halt!

2 Die zahlreichen Inseln des Mississippi würden eine besondere Benennung jeder einzelnen sehr erschweren und den Bootsmann verwirren, sie sind deshalb von den Quellen dieses gewaltigen Stromes an bis zur Mündung des Ohio, und von da an wieder bis nach New-Orleans numerirt, und nur wenige haben noch, wenn sie sich durch irgend etwas ausgezeichnet oder kenntlich gemacht hatten, besondere Namen erhalten. Von der Mündung des Ohio bis New-Orleans (etwa tausend englische Meilen) zählt der Mississippi hundertfünfundzwanzig Inseln.

3 Snags und Sawyers werden in den Flüssen die im Grunde festgeschwemmten Baumstämme genannt, die noch über die Oberfläche des Wassers hervorragen, oder, was noch gefährlicher für die Flußleute ist, dicht darunter liegen und ihr Dasein oft nicht einmal durch eine deutliche Bewegung des Wassers kundgeben. Die Snags – von denen die größeren Aeste oder ganze Stämme Planter genannt werden, sitzen fest und unbeweglich, die Sawyers tauchen in schneller Strömung fortwährend auf und nieder.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Flusspiraten des Mississippi