Kapitel 30 - Mrs. Breidelford und ihre Gäste.

30. Mrs. Breidelford und ihre Gäste.

Der Leser muß noch einmal mit mir zu jener Zeit zurückkehren, wo Tom Barnwell, so unerwarteter Weise angeklagt und verhaftet, von dem Constabler dem Gefängniß oder der sogenannten County jail zugeführt wurde, während der Squire mit Sander den Weg nach dessen eigenem Hause einschlug. Diese Jail befand sich aber in derselben Straße mit Mrs. Breidelford's Haus, und zwar gerade schrägüber von ihm, auf der andern Seite des schon früher erwähnten freien Platzes, so daß also die beiden Männer, sobald sie in die links abführende Straße traten, den dem Gefangenen nachdrängenden Menschenhaufen verließen. Tom dagegen sah sich bald darauf in einer kleinen, nach dem Platz hinausführenden Zelle einquartirt und seinem eigenen, nichts weniger als angenehmen Nachdenken überlassen.


Unruhig schritt er in dem engen, dunkeln Raum auf und ab und suchte sich die wunderlichen Vorgänge dieses Abends nach Möglichkeit zusammen zu reimen; doch umsonst, des Richters Betragen selbst blieb ihm räthselhaft, und daß Hawes ein Schurke sei, bezweifelte er jetzt keinen Augenblick mehr. War er verhaftet worden, um an der Entdeckung irgend eines Bubenstücks verhindert zu werden? Er blieb – als ihm dieser Gedanke zum ersten Mal das Hirn durchzuckte, schnell und betroffen stehen und sah starr vor sich nieder. War das möglich? – Nein, nein, der wirkliche Constabler hatte ihn ja verhaftet – der Richter war dabei gewesen, das konnte nicht sein; ja der Mann selbst, der ihn beschuldigt, war ihm fremd, er hatte ihn in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen, das wußte er gewiß; es mußte also ein Irrthum sein, der sich bald aufklären würde. Sollte er aber indessen hier sitzen? Edgeworth hätte unmöglich so lange auf ihn warten können – und Marie? – Was wurde aus dem armen, unglücklichen Wesen?

Wiederum schritt er schnell und heftig auf und ab und suchte in der raschen Bewegung auch jene wilden, tobenden Gefühle zu beschwichtigen, die ihm Herz und Sinn durchglühten. Endlich, als sein Blut anfing, sich ein wenig abzukühlen, trat er an das kleine, durch schwere Eisenstäbe wohlverwahrte Fenster und blickte in die nebligte, nur hier und da von einem mattschimmernden Licht erhellte Straße hinaus.

Der Platz vor der Jail war menschenleer; Die, die ihm dorthin gefolgt, hatten gesehen, wie sich die schwere eichene Thür hinter ihm schloß – eben diese Thür dann noch eine Weile angestarrt und nun langsam wieder den Weg nach ihren verschiedenen Wohnungen eingeschlagen. Nur ein einzelner Mann kam durch die Straße herunter und blieb – er hatte sich den Ort deutlich genug gemerkt – gerade vor demselben Hause stehen, vor dessen Thür er jenen jungen Mann überrascht hatte. Sollte das Hawes wieder sein? War er zurückgekehrt von seinem kranken Weibe? Und suchte er jetzt noch einmal da, wo ihm der Einlaß früher verweigert worden, Zutritt zu erhalten? Es dunkelte zu sehr – er konnte die Gestalt nicht mehr erkennen, deutlich aber vernahm er das mehrmalige, zuletzt ungeduldige Klopfen, und endlich wurde es in dem Hause lebendig. An den unteren Fenstern erschien ein Licht, bald darauf öffnete sich die Thür – ein heller Strahl fiel wenigstens auf den Weg hinaus – und gleich darauf verschwand die Gestalt. Nach und nach erstarb auch das letzte Geräusch; die letzten Lichter, die er theils oben, theils unten an der Straße beobachtete, erloschen. Nur in jenem Hause blieb es hell.

Stunde nach Stunde stand Tom so an dem kleinen Fenster und blickte hinaus in die feuchte, trostlose Nacht; Stunde nach Stunde lauschte er dem fernen monotonen Geräusch der Frösche und dem wunderlichen, dann und wann die Stille unterbrechenden Schrei einzelner über die Stadt hinwegstreichender Nachtvögel. Träumend hingen seine Augen an dem Nebel, und er dachte der vergangenen Tage – der vergangenen Liebe. Manche Thräne war ihm dabei, so recht heiß aus dem Herzen kommend, über die gebräunte Wange geträuft, und er gab sich nicht einmal die Mühe, sie wegzuwischen, ja er fühlte sie vielleicht nicht einmal.

Allein – ganz allein stand er in der Welt, keine Seele hatte er mehr, die ihn liebte, kein Herz, das an ihm hing; starb er jetzt, wer war da, der sich viel um ihn gekümmert, der seiner vielleicht mit einer Thräne gedacht hätte? – Niemand, Niemand, und als ihn der Gedanke durchbebte, barg er tief aufseufzend das Antlitz in den Händen und starrte in die wilden, wirren Bilder hinein, die an seinem inneren Auge vorüberstürmten.

Einmal fuhr er empor – es war ihm fast, als ob er über die Straße herüber einen schwachen Schrei gehört hätte – sein Blick traf auf das noch schimmernde Licht in dem geheimnißvollen Hause, aber Alles war ruhig, kein Laut störte die tiefe Stille, und ermüdet warf er sich endlich auf sein hartes Lager nieder, um ein paar Stunden zu schlafen und wenigstens für kurze Zeit alles das zu vergessen, was ihn jetzt mit so schmerzlichem Weh erfüllte.



Gar lebhaft ging es indessen in dem kaum zweihundert Schritt entfernten und noch erleuchteten Hause zu, wo Mrs. Louise Breidelford ihre, wie sie oft äußerte, „bescheidene und anspruchslose Wohnung“ aufgeschlagen hatte. Allerdings hatte Tom Barnwell ganz recht gesehen, oder wenigstens recht vermuthet – jene Gestalt, die bald nach seiner Gefangennehmung vor das Haus zurückkehrte, war wirklich die des vermeintlichen Hawes gewesen, und lange mußte er wieder klopfen, ehe er Einlaß erhielt. Der junge Verbrecher war aber nicht so leicht abzuweisen, und viel zu schlau, als sich durch ein einfaches Ruhigverhalten der Inwohnenden gleich davon überzeugen zu lassen, das Haus sei wirklich für den Augenblick unbewohnt. Er kannte seine Leute besser und vermuthete gar nicht mit Unrecht, daß Mrs. Breidelford, trotz ihrer sonst in der That ungewöhnlichen Schweigsamkeit, sicherlich hinter der Thür stehe und jede seiner Bewegungen belausche. Als sein Klopfen deshalb immer noch erfolglos blieb, bog er sich zum Schlüsselloch nieder und flüsterte durch dieses:

„Meine verehrte Mrs. Breidelford, es thut mir zwar unendlich leid, daß Ihnen meine Gesellschaft nicht übermäßig interessant oder wünschenswerth zu sein scheint, ich muß aber nichtsdestoweniger Einlaß haben, und wenn Sie die Thür nicht öffnen, so klopf' ich hier so lange, bis die ganze Nachbarschaft rebellisch wird – dort unten hör' ich schon wieder Leute kommen.“ Und wiederum begann er mit beiden Fäusten an die Thür zu hämmern. Keine halbe Minute hatte er es diesmal fortgesetzt, als er von innen einen schweren Riegel zurückschieben hörte – gleich darauf noch einen, dann war Alles wieder ruhig. Er versuchte jetzt die Thür zu öffnen, diese mußte aber auf jeden Fall noch verschlossen sein, und ohne sich auf weitere Demonstrationen einzulassen, begann er sein Klopfen auf's Neue.

„Herr Du mein Gott!“ sagte da die entrüstete Stimme der ehrsamen Mrs. Breidelford, während sie jedoch den Schlüssel im Schloß umdrehte und die Thür ein klein wenig aufmachte – „daß sich unser Herr Jesus erbarme – wer in aller Welt –“

Sander schnitt ihr hier den Redeschwall kurz ab, denn kaum zeigte die Thür so viel Oeffnung, daß er einen Fuß dazwischenschieben konnte, so legte er sich rasch mit seinem ganzen Gewicht dagegen und befand sich im nächsten Augenblick im innern Raum. Ohne jedoch hier den Ausruf des Schrecks wie die entfernte Andeutung unverweilt eintretender Krämpfe weiter zu beachten, warf er die Thür schnell hinter sich zu und verwahrte sie nun seinerseits eben so sorgfältig mit Schloß und Riegeln wieder, wie sie vorher verwahrt gewesen war.

„Aber ich bitte Sie um Gottes willen –“ rief die bestürzte Frau.

„Ruhe, meine süße Lady!“ bat Sander lächelnd, „Ruhe, holde Louise – Deine Unschuld ist unbedroht, Deine freundlichen Augen sind nicht gefährdet, nur Deine herzigen Lippen mußt Du verschließen,



Und wenn Dir dann das Herz, zu voll,

Im wilden Drange überquillt,

Dann wirf Dich, Lieb', an diese Brust,

Und all' Dein Sehnen ist gestillt,

Dein Sehnen, das Dir –“



„Der Henker ist Euer Du!“ unterbrach ihn jedoch hier Louise Breidelford auf nicht gerade freundliche Art; „was in des Teufels Namen vollführt Ihr für einen Lärm an einsamer Wittwen Thüren, als ob Ihr Euch ein Gewerbe daraus gemacht hättet, die Füllungen einzuschlagen. Mensch, seid Ihr rasend, oder wollt Ihr mich und Euch selber unglücklich machen?“

„Keins von Beidem, holde Ariadne,“ sagte Sander und machte einen Versuch, seinen rechten Arm um ihre Taille zu legen, welche Bewegung sie aber auf geschickte und ärgerliche Weise parirte – „keins von Beidem, ich hatte nur Wichtiges mit Ihnen zu bereden, und da meine Zeit etwas beschränkt ist – aber, holdseligste der Krämerinnen Helenas, wollen Sie mich denn hier die ganze Nacht auf der Hausflur stehen lassen? Ich bin kalt, naß, hungrig, durstig, beraubt, verliebt und in Gefahr – Eigenschaften, von denen jede einzelne hinreichend sein müßte, bei einer so liebenswürdigen entzündlichen Frau auch das größte Interesse für den Eigenthümer zu erwecken. Zuerst bitte ich also um Beseitigung der ersten vier, nachher wollen wir über die anderen reden. Mrs. Breidelford, mein Name ist Sander, und ich habe schon früher das Vergnügen gehabt –“

„Ei so soll Einem doch der liebe Gott in Gnaden beistehen!“ rief die Frau im höchsten Erstaunen aus – „geht dem nicht das gesegnete Mundwerk wie die Yankee-Dampfmühle am Whiteriver. Was wollt Ihr von mir, Sir? Was kommt Ihr in später Nacht in einzelner und allein stehender Frauen Häuser, und macht zuerst einen Lärm vor der Thür, daß die ganze Nachbarschaft aufmerksam werden muß? Bin ich hier in Helena, um Logis für vagabondirende Landstreicher zu halten, soll ich jeden hergelaufenen Bootsmann bei mir aufnehmen, jeden nichtsnutzigen Galgenstrick der gerechten Strafe entziehen? Aber das geschieht mir schon recht, mein Seliger – wenn er jetzt von oben auf mich herabsieht, weiß er, daß ich die Wahrheit rede – mein Seliger hat mir das schon immer tausendmal gesagt – und tausendmal reichen nicht – Louise, sagte er – halt, was soll's da? Die Thür ist verschlossen – was wollt Ihr an der Thür?“

„Nur Einlaß, holde Louise,“ sagte lächelnd Sander, „wenn nicht hier, doch oben – ich höre solche moralische Bemerkungen des alten seligen Breidelford ungemein gern, aber ich muß ein Glas heißen Grog oder Stew vor mir und einen weichen, behaglichen Sitz unter mir haben – also, wenn's gefällig wäre –“

„Die Thür da ist verschlossen, sag' ich,“ rief Mrs. Breidelford jetzt wirklich ärgerlich, „hol' Euch doch der Henker, Mann, was wollt Ihr? Weshalb kommt Ihr her?“

„Nachtquartier will ich, theuerste Louise,“ erwiderte Sander mit unzerstörbarem Gleichmuth – „Nachtquartier, ehrbare Wittib, und einen guten warmen Imbiß, um dabei mit Dir von einigen Geschäftssachen reden zu können.“

„Das geht nicht – ich beherberge Niemanden,“ rief Mrs. Breidelford schnell – „kommt morgen am Tage wieder, wenn Ihr Geschäfte mit mir abzumachen habt.“

„Mrs. Breidelford!“

„Geht zum Teufel mit Eurem Unsinn, ich will nichts mehr hören – macht, daß Ihr fortkommt, oder ich rufe, so wahr ich selig zu werden hoffe, den Constabler.“

„Mrs. Breidelford,“ sagte Sander mit sanfter, schmelzender Stimme – „theure Mrs. Breidelford – wollen Sie einen Unglücklichen von Ihrer Schwelle, wollen Sie mich jetzt in den feuchten Nebel, fast in der Gewißheit eines lebensgefährlichen Schnupfens und Katarrhs, hartherzig hinausstoßen?“

„Geht gutwillig, Sir, oder ich rufe wahrhaftig den Constabler,“ rief die Frau und schob die beiden Riegel wieder zurück. Sander aber, der jetzt einsah, daß er den Scherz weit genug getrieben, flüsterte ernst und drohend:

„Halt, Madame, nicht weiter! – Gutwillig wollen Sie mich nicht hören, meine Bitten konnten Sie nicht bewegen, so mag die Furcht Sie dazu zwingen!“

„Furcht, Sir?“ rief Madame heftig auffahrend.

„Soll ich Ihnen vielleicht einen Namen nennen, der, wenn nur laut geflüstert, Ihren Hals schon dem Henker überliefern würde?“ sagte Sander jetzt mit immer gesteigerter Stimme, – „soll ich Ihnen einen Nagel nennen, der der Nagel Ihres Sarges werden könnte? – Soll ich Ihnen – doch nein,“ brach er plötzlich ruhiger ab, „ich will das nicht thun, ich bitte Sie nur um ein Nachtlager und Speis' und Trank, das Uebrige bereden wir drin – ich bin ein Freund – Sie verstehen, was ich damit meine. Kann ich hier bleiben?“

Mrs. Breidelford sah ihn verstört an – ein leichtes Lächeln spielte um seine Lippen, und seine Augen schienen ihr in nur zu deutlicher Sprache zu sagen: ich weiß mehr, als ich Dir jetzt mittheilen will – hüte Dich. – Ihr Gewissen schlug sie – ihr Herz klopfte ängstlich – und sie sagte mit zitternder Stimme, die sie nur noch durch angenommene Verdrießlichkeit zu verdecken suchte:

„Ei, zum Henker! Sir, Ihr gebraucht sonderbare Worte, Jemanden um eine Gefälligkeit zu bitten, aber – geht nur hinauf – 's ist ein häßlicher Abend heut, und – es ist auch noch Jemand oben, den Ihr vielleicht kennt. Eigentlich ist mir's sogar lieb, daß ich mit dem – mit dem Herrn nicht ganz allein bleibe. – Nein, hier ist die Treppe – ach Du lieber Gott, ob denn mein Seliger nicht Recht hatte, wenn er sagte – Louise – es sind seine eigenen Worte –“

„Bitte, Madame, wen soll ich oben finden, wenn ich fragen darf?“ unterbrach sie Sander hier, „Sie werden begreifen, daß ich nicht jede Gesellschaft –“

Louise Breidelford sah sich einen Augenblick um, als ob sie selbst hier fürchte, gehört zu werden, und flüsterte dann, während sie mit dem Lichte rasch an ihm vorbei- und die Stiegen hinaufschritt:

„Henry Cotton – Ihr werdet begreifen, daß ich Ursache hatte, vorsichtig zu sein, ehe ich Gäste einnahm“.

„Hm,“ sagte Sander und blieb, sinnend das rohe Treppengeländer mit der einen Hand erfassend, noch einen Augenblick unten an der Treppe stehen – „hm – wunderbar – Henry Cotton jetzt hier, und heute Morgen – doch – was thut's? Vielleicht ist es sogar gut, daß ich ihn hier treffe.“ Und mit flüchtigen Sätzen folgte er der schon vorangeschrittenen Lady, die jetzt ein Seitenzimmer öffnete und dem späten, wenig willkommenen Gast hineinleuchtete.

Es war ein kleines, düsteres Gemach, von innen und nach der Straße zu mit Gardinen verhangen; die Wände nicht tapeziert, doch die Spalten der Stämme, aus denen sie bestanden, wohlverklebt und das Ganze übertüncht; der Fußboden auch ziemlich rein und sauber gehalten. Die Möbel schienen übrigens, wenn auch einfach, doch bequem, und das im Kamin lodernde Feuer, über dem ein breitbauchiger kupferner Kessel zischte, gab dem Ganzen etwas Heimliches und Gemüthliches. Dies aber schien besonders dem hier schon früher eingetroffenen Gaste wohlzuthun. Er lag, die Hände auf der Brust gefaltet, in einem großen Sorgenstuhl, dem sonstigen Leibsitz der Eigenthümerin, behaglich zurückgelehnt und mußte so ganz in die Betrachtung des vor ihm stehenden halbgeleerten Glases vertieft sein, dessen purpurrother funkelnder Inhalt von einer hellbrennenden Studirlampe beleuchtet wurde, daß er den jetzt Eintretenden kaum eines Blickes würdigte. Er that auch wirklich, als ob er hier Herr im Hause und nicht ein Flüchtling und vogelfreier Verbrecher wäre, auf dessen Einlieferung sogar schon bedeutende Prämien gesetzt worden. Uebrigens wußte er recht gut, daß ihm seine Wirthin Niemand bringen würde, der ihm gefährlich war, und es freute ihn sogar, Gesellschaft zu bekommen, da er in der alleinigen Gegenwart von Mrs. Breidelford wohl nicht mit Unrecht einen höchst langweiligen Abend befürchtete. Madame hatte nämlich, um selbst nicht in die Gefahr zu kommen, daß ihr Dienstmädchen ahnen konnte, wer ihr Gast sei, dieses heute Nachmittag, und noch ehe Cotton ihr Haus betrat, unter irgend einem Vorwande zu ihren Eltern geschickt, von wo sie vor morgen früh auf keinen Fall zurückkehren würde.

Sander schritt auf den Tisch zu, an dem der Flüchtling saß, und sagte lachend:

„Nun wie geht's, Sir? Die Bewegung gut bekommen?“

Cotton sah staunend zu ihm auf, und es dauerte wohl eine halbe Minute, ehe er den früheren Kameraden und Gehülfen erkannte, dann aber streckte er ihm rasch und freudig die Hand entgegen und sagte schnell:

„Ach, Sander, bei Gott – das ist kostbar, daß ich Euch hier finde – haben uns verdammt lange nicht gesehen.“

„Nun, so verdammt lange ist das eigentlich nicht,“ meinte der junge Verbrecher, die dargebotene Hand ergreifend – „es müßte denn sein, daß Ihr einen so ausgedehnten Begriff von zehn oder zwölf Stunden hättet.“

„Von zehn oder zwölf Stunden?“ frug Cotton verwundert, und Sander erzählte ihm jetzt lachend, wie und auf welche Art er einer seiner Verfolger geworden sei, und sehr wahrscheinlich, vielleicht auch etwas unfreiwillig, das Leben des mit dem Pferde gestürzten Cook gerettet habe.

„Ei, zum Teufel, das hätte ich wissen sollen!“ rief Cotton erstaunt und schlug mit der Hand auf den Tisch – „die Pest noch einmal, wie hätte ich dem vermaledeiten Hund den Ritt versalzen wollen! Doch – 's ist vielleicht so eben so gut; es hätte das County nur noch rebellischer gemacht, das mir überdies gerade genug auf den Hacken sitzt.“

Die beiden Männer unterhielten sich jetzt von seiner Flucht und den am Fourche la fave vorgefallenen Szenen, über die Sander wenig Bestimmtes wußte, während Mrs. Breidelford geschäftig das Abendbrot auftrug, das sie für ihre Gäste reichlich und schmackhaft bereitet hatte. Diese ließen sich denn auch nicht lange dazu nöthigen. Cotton, obgleich er schon zu Mittag wirklich fabelhafte Portionen zu sich genommen, fing noch einmal an zu essen, als ob er Wochen lang gefastet habe, und Sander, der ebenfalls seit diesem Morgen gehungert hatte, unterstützte ihn hierin mit einem Eifer, der die würdige Wittib bald für ihre Speisekammer besorgt machte. Während des Essens wurde denn auch, nach amerikanischer Sitte, fast kein Wort zwischen den Männern gewechselt. Jeder schien zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um an irgend etwas Anderes zu denken, und erst als die Mahlzeit beendet und die Bowle mit dem dampfenden Gebräu gefüllt war, lösten sich wieder ihre Zungen, und Cotton fing nun an – ein Gegenstand, den sie bis dahin Alle vermieden – von der Insel zu reden, über die er von dem Gefährten Auskunft verlangte.

„Hol's der Henker,“ rief er dabei – „ich sehe ein, daß ich's am Ende doch nicht umgehen kann. Die Pest über die Schufte, aber sie hetzen mich wie einen Wolf, und es ist ordentlich, als ob sie mir nur mit Willen den einen Schlupfwinkel offen gelassen hätten. Gut – sie treiben mich zum Aeußersten, so mögen sie's denn haben. – Wer dick aufstreicht, darf sich nachher nicht wundern, wenn ihm das Brod zu fett wird – es wäre möglich, daß ich der Brut auch noch einmal zu fett würde. Sander, ich bin Euer Mann – nehmt mich morgen, oder meinetwegen noch heute Nacht, mit auf die Insel hinunter – aber nein, heute und morgen muß ich mich erst einmal ordentlich ausruhen – ich bin halbtodt gehetzt, und abgemattet mag ich mich da unten nicht vorstellen. Aber nun sagt mir auch – wie steht's mit der Insel – wie sind die Bedingungen, unter denen man aufgenommen werden kann, und was hat man dafür zu thun? Es ist nicht um der Gewissensbisse willen, aber man möchte doch gern, eh' man in eine solche Falle geht, ein klein wenig vorher wissen, was dort von Einem verlangt wird. Nun? Ihr schweigt? Ihr habt doch nicht etwa Angst, daß ich Euch verrathen könnte?“

Sander schüttelte mit dem Kopf und sah eine Weile sinnend vor sich nieder. – Sollte er jetzt dem Mann von der Gefahr sagen, in der sie schwebten? – Daß Alles auf dem Spiele stand und ihre ganze Sicherheit an einem Haar hing? – Nein – Mrs. Breidelford war noch im Zimmer, oder ging doch wenigstens ab und zu, und erfuhr sie das, so blieb ihm natürlich keine Hoffnung, auch nur einen Cent von ihr zu erhalten. –

„Das hat keine Gefahr, Cotton,“ sagte er endlich, „also Ihr wollt mit hinüber? – Kennt Ihr denn schon die Wirksamkeit der Insel?“

„Ih nun, Rowson hat mir einmal einen kurzen Ueberblick gegeben. – Es existirt auch ein gewisses Zeichen, nach dem sie Einen aufnehmen.“

„Allerdings – kennt Ihr aber auch den Schwur, den Ihr leisten müßt?“

„Ich kann ihn mir wenigstens sehr lebhaft denken,“ brummte Cotton – „doch – heraus mit der Sprache – seid nicht so verdammt geheimnißvoll. Donnerwetter, Mann, bei mir habt Ihr doch weiß Gott nichts zu fürchten, denn wenn irgend Einer in der weiten Welt Ursache hat, Schutz zu suchen, so bin ich es.“

Mrs. Breidelford hatte in diesem Augenblick das Geschirr hinausgetragen, und Sander bog sich rasch zu Cotton hinüber und flüsterte:

„Laßt die Alte nur erst zu Bette sein. Ich habe Euch wichtige Nachrichten mitzutheilen, von denen sie aber gerade nichts zu wissen braucht.“

„So? Ueber die Insel?“

„Ruhig – sie kommt wieder – reden wir jetzt lieber von etwas Anderem.“

In diesem Augenblick trat die würdige Dame wieder ein, und Sander erzählte jetzt lachend dem Kameraden, wie sie vorhin, unten vor ihrer Thür, einen ganz unschuldigen Mann verhaftet hätten, von dem sie fürchteten, daß er ihnen gefährlich werden könnte.

„Nun, wie ist's?“ sagte da Mrs. Breidelford und trat mit zum Tisch – „wie steht's? Schon verabredet? Geht Cotton mit hinunter? 's ist das Beste, Mann, was Ihr thun könnt, und ich würde noch diese Nacht dazu benutzen“. Louise, sagte mein Seliger immer, „schneller Entschluß, guter Entschluß – nur nicht zaghaft, wenn Du auch eine Frau bist.“ – „Ein merkwürdiger Mann war Mr. Breidelford – Gentlemen, und –“

– „Mußte ein so unglückliches Ende nehmen,“ fiel Sander hier mit einem Seitenblick auf Cotton ein.

„Unglückliches Ende, Sir?“ rief Madame schnell, und ihre Blicke flogen von einem der Männer zum andern. – „Unglückliches Ende? Oh, ich weiß recht gut, was Sie damit meinen, Sir. – Pfui, schämen Sie sich, Mr. Sander, solche niederträchtigen Gerüchte auch noch in den Mund zu nehmen, seine Zunge solchen nichtswürdigen Verläumdungen zu leihen. – Aber ich sehe wohl, wie es ist; mein Seliger, das liebe, gute Herz, hatte ganz Recht – Louise, sagte er immer –“

„Lassen Sie's gut sein, meine liebe Mrs. Breidelford,“ sagte Sander rasch und suchte ihre Hand zu ergreifen, die sie ihm jedoch unwillig entriß – „'s war wahrhaftig nicht so bös gemeint, Sie müssen auch nicht immer gleich das Schlimmste darunter verstehen. Haben Sie mir nicht selbst einmal versichert, daß Ihr Seliger gesagt hätte – Louise, sagte der gute Mann, der nun im Grabe liegt – denk nicht gleich von Jedem das Schlimmste – die Welt ist besser, als man sie macht?“

„Ja, Mr. Sander, das hat er gesagt, mehr wie tausendmal hat er das gesagt,“ fiel hier die Frau, an ihrer schwachen Seite angegriffen, schnell beruhigt wieder ein, „und darin hab' ich ihm auch gefolgt. – Breidelford, sagte ich oft – ich weiß, Du hast Recht, und wir sind Alle sündige Menschen, aber ich kenne meine Schwäche, und wenn ich auch in manchen Stücken selbst schwach und fehlerhaft sein mag, meine Nebenmenschen acht' ich und verehr' ich, und bisse mir eher die Zunge ab, eh' ich mir ein böses Wort gegen sie über die Lippen kommen ließe.“

„Nun sehen Sie wohl, beste Madam,“ fiel hier Cotton, mit einem spöttischen Zucken um die Mundwinkel, beruhigend ein – „es ist manches nicht so schlimm, wie es aussieht. Aber – um was ich Sie noch bitten wollte – Sie redeten mir da erst von Cigarren. – Denken Sie, ich habe seit drei Wochen keine vernünftige Cigarre geraucht und vergehe fast vor Sehnsucht danach. – Nicht wahr, Sie thun mir den Gefallen?“

„Und habe nachher mein bestes Zimmer so verräuchert, daß ich mich zu Tode pusten kann? Der Geruch zieht Einem in die Betten, daß ihn zehn Pfund Seife nicht wieder herausbringen!“ erwiderte Mrs. Breidelford.

„Wir rauchen Jeder nur eine einzige,“ betheuerte Sander – „seien Sie nur nicht so hartherzig. – Ach, Mrs. Breidelford, ich habe auch drüben einen Kasten mit Bändern und Pariser Blumen stehen.“

„Wie die Herren artig und höflich sein können, wenn sie von einem armen Frauenzimmer etwas haben wollen,“ sagte Mrs. Breidelford, aber schon bedeutend milder gestimmt – „also Bänder und Blumen? Ach Du lieber Gott, was sollte eine alte Frau, wie ich bin, mit Bändern und Blumen? Uebrigens sehen möcht' ich sie doch einmal – es wäre doch möglich –“

„Alte Frau?“ wiederholte staunend Sander – „alte Frau? Mrs. Breidelford, ei, ich möchte Ihnen nicht gern widersprechen, aber so viel weiß ich doch, daß Sie es in manchen Stücken mit den Jüngsten –“

„Oh – Schmeichler!“ – sagte Madame und schlug naiv lächelnd nach ihm – „aber ich sehe schon, ich werde die Cigarren holen müssen. Nein, ich danke, ich brauche kein Licht – ich bin gleich wieder oben;“ und mit raschen Schritten verließ sie das Zimmer und eilte die Treppe hinab.

„Ihr könnt nicht auf die Insel!“ flüsterte Sander schnell, als sich die Thür hinter der Frau schloß – „der Mulatte, der mit Euch floh, ist gefangen und hat Alles bekannt. – Wir sind verrathen und müssen sobald als möglich fliehen.“

„Was? Die Insel verrathen?“ rief Cotton wirklich erschreckt – „also auch der letzte Zufluchtsort abgeschnitten – Pest und Tod! Das fehlt noch – und was habt Ihr jetzt im Sinn?“

„Mrs. Breidelford muß mir Geld vorstrecken. Sie weiß noch nichts von der uns drohenden Gefahr, und braucht es auch jetzt noch nicht zu erfahren.“

„Hat sie Geld?“

„Sie leugnet es zwar immer, ich bin aber fest überzeugt, daß sie Tausende liegen hat – sie ist zu schlau, als daß sie umsonst Jahre lang die Hehlerin eines solchen Geschäfts gewesen sein sollte.“

„Und Ihr glaubt, daß sie Euch gutwillig Geld giebt?“ frug Cotton rasch.

„Ruhig – nicht so laut – ich hoffe es wenigstens, das bleibt auch meine einzige Aussicht, denn wir Alle müssen jetzt flüchtig werden, und verbreitet sich erst einmal das Gerücht im Lande, daß ein solches Nest aufgehoben und die Mannschaft zerstreut sei, dann wäre Der, der ohne Geld entkommen wollte, rein verloren. Jeder erbärmliche Farmer würde zum Polizeispion, und er würde den Gerichten überliefern, was ihm nur irgendwie verdächtig vorkäme.“

„Und wann wollt Ihr fort?“ frug Cotton.

„Ich ginge gleich,“ erwiderte Sander mürrisch – „aber noch hoff' ich, daß wir bis morgen Abend ungestört bleiben; dann haben wir unten unsere Hauptversammlung und auch Theilung der Beute. – Jedenfalls muß ich mich aber auf das Aeußerste vorsehen, und dazu soll mir unserer freundlichen Wirthin Schatzkammer helfen.“

„Wenn aber,“ sagte Cotton sinnend und sah starr vor sich nieder – „wenn aber nun – wenn wir aber nun – noch diese Nacht ein sicheres Unterkommen brauchten – wäre das hier in Helena zu finden?“

Sander sah ihn fragend an und sagte dann endlich mit einem halb spöttischen Lächeln:

„Das sicherste liegt uns hier schräg gegenüber – ein guter Bekannter von mir ist dort einquartiert.“

„Unsinn,“ brummte Cotton – „wißt Ihr keinen Platz – bst – ich glaube, die Frau kommt wieder – wißt Ihr keinen Platz,“ fuhr er schnell, mit noch viel leiserer Stimme fort, „wo man, so lange es morgen Tag ist, vor Nachforschungen sicher wäre?“

„Gerade über der Stadt oben – fragt nur nach dem ›grauen Bären‹,“ flüsterte Sander schnell zurück „ha – ich glaube, unsere Mistreß horcht!“

Die beiden Männer saßen einige Minuten schweigend neben einander, bis die Thür, ohne daß sie vorher einen Schritt gehört hätten, aufging und Mrs. Breidelford mit den erbetenen Cigarren eintrat. Sander war nun allerdings ganz Freundlichkeit. Er bat die Dame, an ihrem Tische mit Platz zu nehmen, um doch auch ein Glas von dem höchst delicaten Stew zu kosten, während Cotton, ganz in seine Gedanken vertieft, fast bewußtlos näher zum Lichte rückte, die Cigarre an der hellen Flamme zu entzünden. Mrs. Breidelford dankte aber und schöpfte sich nur ein kleines Töpfchen voll Stew aus der Bowle, trug dieses in die entfernteste, dunkelste Ecke des Zimmers, wohin sie sich auch einen anderen Lehnstuhl zog, und schien nun – ihrer sonstigen Gewohnheit sicherlich ganz entgegengesetzt – gar nicht den mindesten Antheil mehr an dem ferneren Gespräch der Männer zu nehmen. Ja, als diese noch ein halbes Stündchen etwa unter sich geplaudert, bewies der vorgebeugte Oberkörper und das unregelmäßige, oft lebensgefährlich aussehende Nicken des großbehaubten Kopfes, daß Madame dem Schlummergott in die Arme gesunken und heut Abend auf jeden Fall für die Unterhaltung verloren sei.

Dem war keineswegs so – Madame behielt ihre Sinne so gut beisammen wie irgend einer der beiden Männer, aber ihr Verdacht war erregt worden. An der Thür draußen hatte sie gehört, wie jene leise zusammen flüsterten – sie horchte eine ganze Weile, konnte jedoch kein Wort davon verstehen, und beschloß nun auf jeden Fall herauszubekommen, was es sei, das sie so geheim zu halten wünschten. Durch Fragen würde sie nie etwas erfahren haben, das wußte sie recht gut, List mußte ihr also helfen, und ihr eifriges Nicken wie ihr ziemlich gut nachgeahmtes schweres Athmen täuschte auch die beiden Verbrecher bald so weit, daß Cotton, dem jetzt vor allen Dingen daran lag, etwas Näheres über die Gefahr, die ihnen drohe, zu hören, erst eine Weile nach der Schlummernden hinüberhorchte und sich dann mit leise geflüsterter Rede wieder an den Kameraden wandte.

Sander erzählte ihm jetzt, aber ebenfalls noch mit unterdrückter Stimme, die Begebenheiten auf Lively's Farm (wobei er jedoch natürlich verschwieg, was ihn selbst dorthin geführt habe) und rieth ihm dann, sich nur an Kelly zu wenden und Unterstützung von ihm zu verlangen. – Er würde sie ihm keinesfalls versagen.

„Aber treff' ich den Capitain auch?“ frug Cotton ängstlich – „bedenkt, Mann, hier kann das Leben an jeder Secunde hängen. Finden sie mich, so werden, davon mögt Ihr überzeugt sein, wahrhaftig keine Umstände gemacht – mich knüpfen sie an dem ersten besten Baum auf. Hätt' ich den Rückhalt der Insel nicht gehabt – nie würd' ich so keck den ganzen Staat fast herausgefordert haben. Jetzt ist mir der mit einem Schlage abgeschnitten, und ohne einen Cent in der Tasche weiß ich bei Gott nicht, wie ich entkommen soll. Wie wär's denn, wenn wir lieber gleich aufbrächen und nach dem ›grauen Bären‹ hinaufgingen? Die Straßen sind ruhig, und mir brauchen nicht zu fürchten, daß uns Jemand sieht.“

„Noch nicht,“ sagte Sander – „erst muß ich mit der Frau da reden.“

„Und glaubt Ihr, daß sie Euch gutwillig Geld auszahlen werde?“ frug Cotton lauernd.

„Ja,“ sagte der junge Verbrecher – „ich kenne einen Zauberspruch, der sie wahrscheinlich überreden wird.“

„Hm – vielleicht derselbe, der mir hier Einlaß verschafft hat – aber sie muß sich fügen. – Die Pest über sie! – sie hat das Geld, und wir –“ sein Blick flog, durch die linke Hand gegen den blendenden Schein des Lichts gedeckt, nach der Gestalt der Frau hinüber, aber mit einem lauten Ausruf der Ueberraschung sprang er empor und rief, als er die großen grauen Augen der schlafend Geglaubten fest und entsetzt auf sich gerichtet sah – „verdammt, sie schläft nicht!“

„Nun, Sir?“ frug die Witwe, die trotz der fürchterlichen Angst, die ihr für den Augenblick den Athem zu benehmen drohte, dennoch ihre Geistesgegenwart behielt – „das ist dann wahrhaftig nicht Eure Schuld. Wenn Ihr so verwünscht langweilige Geschichten erzählt, könnt Ihr kaum verlangen, daß man die Augen offen behält – Jesus, die Lampe geht ja beinahe aus – wie spät ist's denn?“

Die Blicke der beiden Männer begegneten sich, was sollten sie thun? – Wie sollten sie sich benehmen?

„Zehn Uhr muß es vorbei sein,“ sagte Sander endlich – „ich habe die Stöcke der Wachen schon unten an der Straßenecke gehört.“

„Dann will ich noch ein wenig Oel für die Lampe holen,“ sagte Mrs. Breidelford, während sie aufstand und sich nach der Thür wandte – „nachher zeig' ich Euch Euer Bett – Ihr müßt Beide vor Tagesanbruch unterwegs sein und wollt doch vorher ein wenig schlafen.“

Sie erfaßte die Klinke und wollte eben die Thür öffnen, aber das Herz drohte ihr dabei vor Furcht und Entsetzen die Brust zu zersprengen. Der Blick des Mörders, dem sie begegnet, hatte ihr das Schrecklichste verrathen – ihr Leben stand auf dem Spiel. – Nur noch zwei Schritt, und sie konnte die Thür von außen verriegeln und das Freie erreichen – nur noch eine Secunde, und sie war gerettet – ihr Fuß betrat die Schwelle, und Sander, der an einen Gewaltstreich kaum gedacht, sah ihr unschlüssig nach. Da sprang Cotton, der ihre Absicht ahnte, und jetzt wußte, es galt das Aeußerste, rasch auf sie zu und faßte, als sie gerade die Thür hinter sich zuziehen wollte, ihren Arm.

„Mörder!“ schrie die Frau in Todesangst, und der Ruf hallte gellend und schauerlich in dem leeren Hause wieder – „Mör –“

Es war ihr letztes Wort gewesen – Cotton's Faust, voll riesiger Kraft geführt, schmetterte sie mit einem einzigen Schlag bewußtlos zu Boden, und Sander sprang in wildem Entsetzen empor. Kein Laut unterbrach Minuten lang die Stille, und der ausgestreckte Körper der unglücklichen Frau lag auf der Schwelle ihres eigenen Zimmers.

„Cotton,“ flüsterte Sander endlich und sah sich erschreckt um, „was habt Ihr gethan – ist sie todt?“

„Ich weiß nicht,“ brummte der Mörder und wandte sich scheu von der zu Boden Geschlagenen ab – „macht jetzt schnell, daß wir finden, was wir brauchen – wo hat sie denn wohl ihr Geld aufbewahrt? Donnerwetter, Mann, steht nicht da, als ob Ihr mit Thran begossen wäret; jetzt ist keine Zeit mehr zum Gaffen; 's ist geschehen, und an uns liegt's nun, den Zufall so gut als möglich zu benutzen.“

„Wie soll ich wissen, wo sie ihr Geld hat,“ sagte Sander – „doch wohl dort, wo sie schläft –“

„Dann kommt,“ entgegnete Cotton – „der Platz muß gleich hier nebenan sein – ich sah die Thür offen stehen, als ich eintrat. – Nun? – Fürchtet Ihr Euch etwa, über den Cadaver zu treten? Ihr habt wohl noch keine Leiche gesehen?“

Cotton hatte die Lampe ergriffen und war über den Körper weggestiegen – Sander folgte ihm, doch die Schlafkammerthür fanden sie verschlossen, und der Mörder drehte sich noch einmal gegen sein Opfer um.

„Ach beste Mrs. Breidelford,“ sagte er höhnisch, und sein Gesicht verzog ein in diesem Augenblick wirklich teuflisches Lächeln -“dürft' ich Sie wohl einmal um Ihre Schlüssel ersuchen?“

Er bog sich rasch zu dem Körper nieder und hakte das Schlüsselbund auf; Sander hatte ihm die Lampe aus der Hand genommen, und Beide betraten nun das Schlafzimmer der Wittwe. Vergebens durchstöberten sie aber hier alle Winkel und Kasten, vergebens wühlten sie selbst das Bett auf und suchten jede einzelne Schieblade aus. Es war Alles umsonst, keinen Cent an Geld fanden sie, nur einzelne Schmucksachen, die sie zu sich steckten, die ihnen aber doch für den Augenblick das nicht waren, was sie bedurften. Wer kannte in dieser Wildniß den Werth solcher Sachen, und mußte nicht allein schon der Besitz derselben den Verdacht noch mehr auf sie lenken? –

„Schöne Geschichte das,“ knirschte Sander endlich, als er eine Masse werthlosen Plunders mit wildem Fluch neben sich auf die Erde schleuderte – „das kommt von Eurem verdammten gleich mit Fäusten Dreinschlagen. Hättet Ihr mich gewähren lassen –“

„So war Madame jetzt auf der Straße und schrie Zeter und Mord!“ erwiderte Cotton unwillig. „Sie hatte gemerkt, was wir wollten, und wäre auf jeden Fall geflohen.“

„Und jetzt?“

„Verräth sie wenigstens nicht mehr, wen sie beherbergt,“ brummte der Mörder. „Doch ich dächte, wir beeilten uns ein wenig; – wo nur die alte Hexe ihre Schätze stecken hat? – Hol's der Teufel, mir wird's unheimlich hier, und je eher wir den Mississippi zwischen uns und –“

Ein lautes donnerndes Pochen an die Thür machte, daß er entsetzt emporfuhr und fast krampfhaft den Arm seines Kameraden faßte.

„Pest,“ zischte er dabei und sah sich wild nach allen Seiten um – „wir sind verloren! Können wir nicht hinten hinaus entfliehen?“

„Ich weiß nicht,“ flüsterte Sander – „der Teufel traue aber, der Platz hier ist mir völlig unbekannt, und sprängen wir in einen fremden Hof und würden von Hunden angefallen und gestellt, so wär' es um uns geschehen.“

„Hallo da drinnen!“ rief jetzt eine rauhe Stimme von außen, und der schwere Hickorystock schlug gegen die Thür an – „Mrs. Breidelford, was giebt's da? Sind Sie noch munter?“

Cotton stand wie vom Schlage gerührt, Sander aber, dem die Nähe der Gefahr auch wieder seinen ganzen kecken Uebermuth gab, riß schnell eine der vielen im Zimmer umhergestreuten Hauben der Ermordeten vom Boden auf, zog sie sich über den Kopf und schritt nun rasch damit zum Fenster.

„Was wollt Ihr thun?“ frug Cotton erschreckt.

Sander gab ihm gar keine Antwort, schob die Gardinen von innen zurück, öffnete das Fenster ein wenig, so daß sein Kopf von unten herauf nur etwas sichtbar blieb, und frug, die kreischende Stimme der Mrs. Breidelford auf das Treffendste nachahmend, anscheinend ärgerlich und rasch:

„Nun, was giebt's da wieder? Hat man denn in diesem unseligen Neste nicht einmal des Nachts Ruhe, daß sich eine arme alleinstehende Frau –“

„Hallo – nichts für ungut,“ rief da eine rauhe Stimme von unten, die, wie Sander augenblicklich hörte, von einem der in den Straßen postirten Wachmänner oder sogenannten Watchmen herrührte – „mir war's, als ob ich hier im Hause einen Schrei gehört hätte, und da ich durch die Fensterspalten noch Licht sah –“

„Schrei – Fensterspalten!“ rief unwillig die vermeintliche Mrs. Breidelford und zog sich vom Fenster zurück – „wer weiß, wo Ihr die Ohren gehabt habt. Geht zum Teufel und laßt arme alleinstehende Frauen –“ das Andere wurde dem Nachtwächter draußen durch das Zuschlagen des Fensters unverständlich.

„Nu, nu,“ sagte der Mann lachend, als er hörte, mit welcher Heftigkeit sich Madame zurückzog – „wieder einmal nicht richtig im Oberstübchen? – der Stew muß heut Abend absonderlich gut geschmeckt haben – hahahaha, das hat mein Seliger tausend und tausendmal gesagt; – Louise, sagte er immer, ich weiß, Du verabscheust geistige Getränke, und mit Recht – sie passen auch nicht für das zarte Geschlecht; aber Du mußt das auch nicht übertreiben – sagte er, ach, ich sehe ihn noch vor mir, das liebe, gute Herz, das jetzt kalt in seinem Grabe liegt – es giebt Zeiten, wo ein Tröpfchen Rum, mit Mäßigkeit genossen, Arznei werden kann, und Du bist eine zu verständige Frau, Louise – das waren seine eigenen Worte, Ladies – als daß Du nicht wissen solltest, wann Dir ein Tröpfchen nützen und wann es schaden könnte – hahahaha!“

Und der Mann ging, halblaut dabei die im ganzen Städtchen bekannten Redensarten der würdigen Dame citirend, während er mit dem rechten Arme dazu gesticulirte, langsam die Straße hinunter. Erst an der Ecke stieß er den schweren Stock, den er bis dahin im linken Arm getragen, auf die Steine nieder: ein Zeichen, das von anderen Theilen der Stadt beantwortet wurde, und hauptsächlich dazu diente, die Wachen gegenseitig zu überzeugen, ihre Kameraden seien munter und sie könnten im Nothfall auf deren Schutz rechnen.

Die Schritte des Wächters waren lange verhallt, und noch immer standen die beiden Verbrecher laut-und regungslos neben einander. Sander aber, der, sobald er den Laden geschlossen, die Mütze gleich abgeworfen hatte, brach zuerst das Schweigen und flüsterte:

„Wir sind gerettet – den Wachen wird es jetzt nicht wieder einfallen, nachzufragen, und die ganze Nacht bleibt uns, das versteckte Geld zu suchen; vergraben kann es doch unmöglich sein.“

„Wär' es nicht besser, wir flöhen jetzt, wo es noch Zeit ist,“ sagte ängstlich der Mörder – „mir graut es hier in dem Hause.“

„Ist Euch das Herz in die Schuhe gefallen, weil Ihr da unten den Zauberstab habt klopfen hören,“ lachte höhnisch Sander, der in der plötzlichen Angst des Gefährten und durch die gelungene List neuen Muth gewann – „nein, nun wollen wir auch sehen, ob unsere blutige Saat nicht goldene Früchte tragen wird. Geld befindet sich hier im Hause, davon bin ich überzeugt, nur den Platz brauchen wir zu finden.“

Und rasch nahm er die vorhin auf den Tisch gestellte Lampe wieder auf und begann, von Cotton dabei eifrig unterstützt, seine Nachforschungen auf's Neue. Es blieb aber Alles vergebens, sie öffneten zwar mit den Schlüsseln alle Thüren und Kästen und durchstöberten jeden Winkel, aber keine Spur von Geld konnten sie entdecken – Waaren und Güter genug, nur nicht das, was in diesem Augenblick für sie zehnfachen Werth gehabt hätte – Silber oder Banknoten.

Der dämmernde Tag mahnte sie erst, ihre nutzlosen Bemühungen einzustellen und auf die eigene Rettung zu denken; – traf man sie in diesem Hause, so konnte selbst Dayton sie nicht retten. Sie verschlossen also rasch wieder die Thüren, um nicht gleich, beim ersten Betreten des Hauses, augenblicklichen Verdacht zu erregen, trugen dann den Leichnam der Unglücklichen auf ihr Bett – lauschten vorher sorgfältig aus dem jetzt dunkeln Zimmer auf die Straße hinaus, ob auch keiner der Wächter in der Nähe sei und sie aus dem Hause der Wittwe kommen sähe, schlichen dann schnell die Treppe hinunter in's Freie, und eilten nun, als sie erst einmal die Stadt hinter sich hatten, schnellen Schrittes der Schenke zu, in welcher sie den Capitain zu sprechen und Hülfe und Schutz zu erwarten hofften.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Flusspiraten des Mississippi