Kapitel 22 - „Zum grauen Bären.“

22. „Zum grauen Bären.“

Dicht an Helena, und zwar die nördlichste Grenze der Stadt bildend, ja eigentlich fast wie ein verlorener Posten, schon über das Weichbild derselben hinausgerückt, stand ein einsames Häuschen ganz dicht am Ufer, im Norden und Westen hoch von Bäumen, im Osten vom Mississippi, im Süden aber, und zwar nach der Stadt zu, von dichtem, niederem Buschwerk eingeschlossen, das einer vorjährigen, unbenutzten Rodung entwuchert war. Frontstreet führte übrigens bis hier heraus, wenigstens verkündete das ein neben der „ausgehauenen“ Straße an eine starke Eiche genageltes kleines Brett, und der ganze umliegende Platz war auch in einzelne „Lots“ oder Bauplätze abgetheilt, von Speculanten aber angekauft und liegen geblieben, da sich die meisten Ansiedler lieber dem wacker gedeihenden Städtchen Napoleon, an der Mündung des Arkansas, anschlossen. Dieses erhielt nämlich durch den Arkansas eine ununterbrochene Verbindung mit dem ganzen ungeheuren Westen der Vereinigten Staaten, während Helena gerade im Westen fast gänzlich durch jene ungeheuren Sümpfe von den auch nur sparsam dort zerstreuten Ansiedelungen abgeschlossen war. Nur durch jene niedere Hügelreihe konnte es mit Little Rock und Batesville eine Verbindung unterhalten, die noch überdies nach der ersteren Stadt das ganze Jahr hindurch leichter auf Dampfbooten bewerkstelligt wurde. Selbst nach Batesville liefen kleine Dampfer schon bei nur mäßigem Wasserstande.


Der Besitzer jener dicht am Ufer gelegenen „Lots“ schien auch geglaubt zu haben, seine Rechnung in der Bebauung des Platzes selbst zu finden, denn er errichtete dort ein ziemlich geräumiges Häuschen, lichtete den Wald um dieses herum und begann sogar ein in der Nähe gelegenes und ihm gehöriges Feld zu bebauen. Bald aber, wie es bei den westlichen Pionieren und Backwoodsmen gewöhnlich geschieht, fing ihm der Ort an zu mißfallen; Helena hatte sich nicht so rasch, wie er es erwartet, vergrößert, und er verkaufte, kaum zum Betrag der darauf verwendeten Arbeitskosten, sein kleines Besitzthum an einen früheren Bootsmann. Dieser ließ sich dort nieder, erhielt vom Richter die Erlaubniß, spirituöse Getränke – nur nicht an Indianer, Neger und Soldaten, nach dem amerikanischen Gesetze – zu verkaufen, und mußte auch wohl ganz gute Geschäfte machen, denn er legte bald darauf noch ein Flatboot dicht an sein Haus an, das bei hohem Wasser mit diesem fast parallel stand, im Frühjahr aber tief unten auf dem Strome an langen Tauen befestigt lag, während eine in die Ufererde gestochene Treppe die Verbindung zwischen Land und Wasser unterhielt.

Allerdings wollte man in der Stadt ziemlich bestimmt wissen, es werde, besonders auf jenem Flatboote, Nachts, und zwar um bedeutende Summen, gespielt. Der Richter hatte aber schon mehrere Male mit dem Constabler selbst, und zwar ganz unerwartet, Nachsuchung gehalten, ohne auch nur das mindeste Verdächtige zu bemerken, und da das Haus ziemlich getrennt von der Stadt lag und man das nächtliche Singen und Zechen dort nicht hören konnte, so bekümmerte sich bald Niemand mehr darum. Der Wirth, der seine Bedürfnisse ebenfalls nur von Flat- oder Dampfbooten bezog, kam überdies selten oder nie nach Helena hinein, so daß ihn viele Bewohner desselben nicht einmal von Ansehen kannten.

Der Nachmittag war jetzt ziemlich weit vorgerückt, trübe und düster lag er aber auf der niedern Sumpfstrecke, die sich fast nach allen Himmelsgegenden hin in weiter, ununterbrochener, trostloser Fläche ausdehnte. Der Nebel, der bis dahin in einzelnen noch zerrissenen Wolken bald hier bald da hinüberdrängte, und dann und wann kleine Strecken des Flusses, ja manchmal sogar, bei einem etwas stärkeren Luftzug, das gegenüberliegende Ufer sichtbar werden ließ, hatte sich jetzt zu einer festen Masse verdichtet und lagerte ruhig auf der unheimlich unter ihm dahinschießenden Fluth. Selbst der leise, noch nicht ganz erstorbene Wind vermochte nicht mehr auf ihn einzuwirken, und konnte nur dann und wann einen wehenden Streifen von ihm losreißen und über das feste Land hinauspressen. Dieser durchzog es dann in weißen durchsichtigen Wolken, um später, mit den Schwaden der Niederung vermischt, nur neue Kräfte in seinen röthlich ungesunden Dünsten zu sammeln und in das nebelgefüllte Strombett zurückzuführen.

Die Sonne selbst vermochte nicht durch die in ihrem Lichte trotzenden Massen zu dringen, und ihre blutrote Scheibe stand strahlenlos und düster am Firmament. – Die ganze Mittagszeit hindurch hatte sie den Titanenkampf gegen die ineinander gepreßten Schwaden gekämpft, doch vergebens, und jetzt schien es fast, als ob sie voll zornigen Unwillens das unerfreuliche Ringen aufgebe, und ernst und mürrisch in ihr waldumschlossenes Lager niedersteige. Brach sich dann die Abendluft nicht Bahn, und zerstreute diese nicht mit starkem Hauch den stämmigen Feind, dann konnte die Nacht wohl schwerlich seine Massen bewältigen. Feuchter Nachtthau und der Athem der schlummernden Erde nährten ihn mehr und mehr, so daß er sich noch nach allen Seiten ausbreitete und zuletzt sogar den Wald, was ihm am Tage nicht möglich gewesen, bis zum Rand mit milchweißem Schaum erfüllte.

Das dicht am Ufer stehende kleine Haus befand sich ebenfalls im Bereich dieser Schwaden, oder doch wenigstens so dicht an der Grenze derselben, daß bei jedem nur leise herüberwehenden Luftzug der ganze Drang des Nebels sich über dasselbe hinwälzte und es förmlich umhüllte. Wenig schien das aber die darin versammelte lustige Schaar von Bootsleuten zu kümmern, deren Lärmen und Jauchzen nur einmal, und selbst da nur auf Secunden, unterbrochen werden konnte, als ein augenscheinlich nicht zu ihnen gehörender, sehr modern und selbst elegant gekleideter Mann eintrat, und rasch, ohne links oder rechts zu sehen, den menschengedrängten Raum durchschritt, und gleich darauf in einer zu dem hinteren Theil des Gebäudes führenden Thür verschwand.

Als er das auf den Strom hinaussehende niedere Gemach betrat, wollte sich eine andere Person, wie es schien, leise und unbemerkt zur gegenüberliegenden Thür hinausstehlen, des Fremden scharfes Auge vereitelte aber den Versuch.

„Waterford!“ rief er ernst – „bleibt hier! – ich will jetzt nicht untersuchen, weshalb Ihr Euren Posten verlassen habt – ich bedarf Eurer – später werdet Ihr vielleicht darüber Rechenschaft zu geben wissen. Ist Toby eingetroffen?“

„Nein, Capitain Kelly!“ lautete die demüthig gegebene Antwort des sonst wild und trotzig genug aussehenden Burschen, der mit dem einen funkelnden Auge – das andere hatte er in einem Gouchkampf1 verloren – scheu unter den grauen buschigen Augenbrauen hervorblinzelte.

„Nein?“ rief Kelly und stampfte unmuthig den Boden, „daß die Pest seine faulen Sohlen treffe. – Schick' ihm rasch Jemanden entgegen – er muß unterwegs sein und noch heute Nacht auf der Insel eintreffen – rasch – sende Belwy, der ist leicht und kann dem Rappen eher etwas zumuthen. Er soll sich gleich übersetzen lassen und reiten, bis ihm das Roß unter dem Leibe zusammenbricht, und halt – noch Eins. Sobald Ihr drüben das Raketenzeichen seht, braucht Ihr keine weiteren Befehle von mir abzuwarten. Ihr wißt dann, was Ihr zu thun habt. Seid aber schnell und sendet Alle, die Ihr auftreiben könnt, und zwar Alle auch zu augenblicklicher Flucht gerüstet.“

Der Einäugige verschwand durch die Thür, und der Capitain schritt, mit fest verschlungenen Armen und schweigend, wohl mehrere Minuten lang rasch im Zimmer auf und ab. Endlich blieb er vor Thorby, dem Wirth dieser Diebesspelunke, stehen, der ihm ehrfurchtsvoll, mit der Mütze in der Hand, zuhörte und sagte mit leiser, aber schneller Stimme:

„Es wird – hoffentlich in kurzer Zeit – ein Bote von dem See hier sein – der soll mir augenblicklich auf die Insel folgen, auch dann, wenn es Sander selbst ist – ich muß ihn sprechen. Im Uebrigen haltet Euch heute und morgen ruhig – entfernt Alles, was bei einer etwaigen Hausuntersuchung Verdacht erregen könnte, und – seid wachsam. Daß mir die Burschen an den Raketen ihre Plätze nicht verlassen; vielleicht ist die Vorsicht nur noch –“

Kelly horchte hoch auf, denn heftiges und rasches Pferdegetrappel ließ sich im nächsten Moment hören und hielt, wenn ihn sein Ohr nicht täuschte, vor der Thür. Thorby glitt hinaus, den Besuch zu erkunden, kehrte aber gleich darauf mit dem erschöpften Sander zurück, der in den fremden Kleidern, mit den flatternden Haaren – den Hut hatte er unterwegs in den Büschen verloren – gar wild und verstört aussah.

„Sendet einen Boten nach Kelly“ – waren die ersten Worte, die er dem Wirthe flüsternd zurief – „aber rasch – rasch – rasch – habt Ihr die Ohren verstopft, Holzkopf? einen Boten sollt Ihr an Kelly senden.“

„Der Capitain ist hier,“ sagte endlich der durch die wilde Anrede und das wunderliche Aussehen Sanders erstaunte Wirth – „er hat schon nach Eurem eigenen Boten gefragt.“

Ohne ein weiteres Wort des Alten abzuwarten, schob ihn der junge Mann zur Seite, warf sich die Haare aus der Stirn und trat rasch in den mit Gästen gefüllten Raum. Lauter Jubelruf schallte ihm hier entgegen, und von mehreren Seiten hoben Einzelne die Becher zu ihm auf, daß er mit ihnen trinken solle. Aber nur einen von diesen ergriff er, leerte ihn, ohne es auch nur erst der Mühe werth zu halten, zu prüfen, was er enthalte, bis auf die Hefe, und trat dann, nicht einmal mit einem Kopfnicken dafür dankend, rasch in die vorerwähnte Thür, die er hinter sich verriegelte.

Kelly war allein und faßte ihn scharf in's Auge, Sander aber, nachdem er nur einmal den Blick scheu im Kreise umhergeworfen hatte, um sich vor allen Dingen zu überzeugen, daß Niemand weiter seine Worte höre, trat dicht an den Capitain hinan und flüsterte leise:

„Wir sind verrathen.“

Erstaunt sah er zu dem Führer auf, denn dieser, anstatt, wie er erwartete, vor der fürchterlichen Botschaft zurückzuschrecken, hielt den ruhigen, kalten Blick fest auf ihn geheftet. Das Einzige, was er darauf erwiderte, war:

„Weshalb habt Ihr Euren Auftrag nicht erfüllt?“

Sander, hierüber fast außer Fassung gebracht, zögerte einen Augenblick, und Kelly, der gewohnt war, in der Seele der Menschen zu lesen, durchschaute ihn im Nu. Der junge Verbrecher aber, vielleicht mehr durch des Capitains Betragen als durch die Frage überrascht, sammelte sich gleich wieder und erzählte nun so kurz, aber auch so genau als möglich die Vorgänge bei Livelys, bis zu des Mulatten Geständniß, bei dem Cook und der Doctor Zeuge gewesen waren. – Seine Gründe, weshalb er zu solcher Zeit den Mulatten nicht verlassen durfte, waren – das wußte er auch recht gut – wichtig genug und alle Nebenpläne mußten jetzt fallen, wo es galt, das Leben vor den aufmerksam gewordenen Bewohnern des Staates zu retten.

Kelly erwiderte ihm keine Silbe, sondern trat nur an das kleine nach dem Strom gelegene Fenster und blickte sinnend in das weiße Nebelmeer hinaus, das seine Fläche bedeckt hielt. Sander schritt indessen ungeduldig auf und ab, bis ihm das lange Schweigen peinlich wurde und er es mit einem halb ängstlichen halb trotzigen „Nun, Sir?“ brach.

„Nun, Sir?“ wiederholte der Capitain und wandte sich langsam gegen ihn – „das, was ich lange befürchtet, ist endlich eingetroffen, und es wundert mich weiter nichts davon, als daß diese sonst so scharfsichtigen Waldläufer, mit all' ihrem gepriesenen indianischen Spürsinn, die Sache nicht früher herausbekommen und uns jetzt vollkommen Zeit gegeben haben, unser Schäfchen ins Trockene zu bringen.“

„In's Trockene?“ sagte Sander erstaunt, „verdammt wenig Schafe sind's, die ich in's Trockene gebracht habe – ich hoffte auf die morgende Theilung der in Euren Händen befindlichen Vereinskasse, und habe mich so rein ausgegeben, daß ich nicht einmal Kajütenpassage nach New-Orleans bezahlen könnte. In's Trockene bringen – zum Henker, Capitain, Ihr nehmt die Sache verdammt kaltblütig! Wißt Ihr denn, daß uns die verdammten Schufte in jedem Augenblick hier auf den Hacken sitzen können? Doch – noch Eins – ich muß Euch um Vorschuß bitten, Sir, man weiß doch jetzt nicht, wie die Sachen stehen und was Einem passieren kann, und da ist's gut, wenigstens so viel in der Tasche zu haben, um vielleicht für den Augenblick eine kleine Reise machen zu können. Schießt mir fünfhundert Dollar vor und zieht sie mir morgen Abend von meinem Antheil ab. Ich muß auch in den Kleiderladen in Helena, und mir neue Sachen schaffen. Ich sehe wahrhaftig wie eine Vogelscheuche im Herbst aus, und kann mich gar nicht so vor den Damen wieder sehen lassen.“

„Ihr thätet überhaupt besser, Euch von denen heut etwas fern zu halten,“ sagte Kelly ruhig lächelnd; „wie ich gehört habe, ist dort Besuch angekommen!“

„Besuch? – Was für Besuch? – Ist Lively schon hier?“

„Nein, Damenbesuch – Mrs. Hawes von Sinkville.“

„Unsinn – laßt Euern Scherz jetzt. Donnerwetter, Mann, das Messer sitzt uns an der Kehle, und Ihr steht da und lacht und spaßt, als ob wir uns auf irgend einem guten Segelschiff und etwa tausend Meilen von Amerika entfernt befänden. Mir ist jetzt gar nicht wie spaßen.“

„Und wer sagt Euch denn, daß es mir so wäre?“ erwiderte Kelly ernst. „Ich spaße nicht, Sir, – Mrs. Hawes befindet sich in diesem Augenblick in der Pflege von Mrs. Dayton und Miß Adele Dunmore, und heute Nachmittag ist der Ire O'Toole nach Nr. Einundsechzig abgefahren, auf welche unschuldige Insel er solchen Verdacht geworfen hat, daß er eine genaue Untersuchung derselben beabsichtigt. Ebenso wird in etwa einer Stunde ein anderer junger Bootsmann von hier auslaufen, und zwar zu demselben Zweck. – Das sind meine Neuigkeiten; nicht wahr, meine Spione sind gut?“

Sander hatte ihm, starr vor Schrecken und Entsetzen, zugehört.

„Wie in des Teufels Namen ist Marie –“

„Ruhig, Sir,“ – unterbrach ihn Kelly – „ich ahne den ganzen Zusammenhang, aber noch ist nichts verloren – die Insel müssen wir allerdings aufgeben, doch uns selber sollen sie nicht fangen. Ich bin gerade deshalb hier, Gegenmaßregeln zu ergreifen. In der Stadt dürft Ihr Euch übrigens, so lange es hell ist, noch nicht sehen lassen, und selbst dann möchte es gerathen sein, irgend ein Tuch um's Gesicht zu binden. Ich selbst will augenblicklich auf die Insel hinunter, um dort die nöthigen Anordnungen zu treffen. Glück genug, daß wir Alles so zeitig erfahren haben, das hätte sonst ein böser Schlag werden können.“

„Und ein junger Bootsmann wird, wie Ihr sagt, von hier auslaufen, die Insel aufzuspüren?“

„Ja,“ erwiderte Kelly, und seine Lippen umzuckte ein höhnisches Lächeln – „das ist jetzt wenigstens seine Absicht, doch die wird zu vereiteln sein. Er darf die Stadt nicht verlassen. – Aber das ist das Wenigste. Nichts ist leichter, als einen solchen Burschen auf ein paar Tage unschädlich zu machen – wofür haben wir denn die Gesetze?“

„Die Gesetze?“ frug Sander erstaunt.

„Laßt mich nur machen – meine Maßregeln sind schon getroffen.“

„Aber der Ire –“

„Kann die Insel, bis ich hinunterkomme, noch nicht wieder verlassen haben, und wenn auch – ehe unsere langsame Justiz die Sache in die Hände nimmt, sind wir lange außer aller Gefahr.“

„Die Justiz? Ihr glaubt doch nicht, daß die Nachbarn hier auf die warten werden?“

„Desto weniger können sie dann ausrichten. Lebendig fangen sie uns nicht, und in unsere Schlupfwinkel in den Sümpfen von Mississippi sind sie eben so wenig im Stande, uns gleich zu folgen. Auf jeden Fall behalten wir Zeit zur Flucht, und ich glaube fast, daß wir die morgende Nacht noch ruhig abwarten können. Uebrigens sind wir auf das Schlimmste gerüstet. Hier an gewissen Stellen befestigte Raketen, die eine laufende Linie bis zu uns bilden, künden uns unten, ob uns von hier aus Gefahr drohe, und dafür sind meine Pläne ebenfalls bis zur Ausführung fertig. Wollen die Burschen Gewalt, gut, dann soll sich's auch zeigen, in wessen Händen sich die befindet; – wir sind fürchterlicher, als sie es jetzt noch ahnen.“

Er sprach die letzten Worte mehr zu sich selbst als zu dem Kameraden, der indessen, ganz in Gedanken vertieft, mit seinem Bowiemesser lange Späne von dem rohen Holztisch abhieb.

„Pest!“ murmelte er nach einiger Zeit, – „daß wir jetzt unser freundliches Plätzchen verlassen müssen – es ist schändlich. – Konnte diese vermaledeite Katastrophe nicht noch wenigstens zwei Tage später kommen! – Nun wie ist's, Capitain, wollt Ihr mir das Geld geben?“

„Ich habe nicht so viel bei mir,“ sagte Kelly ruhig und schritt zur Thür, deren Griff er erfaßte, „seid aber um acht Uhr wieder hier, dann sollt Ihr es haben, bis dahin hat es noch keine Gefahr. – Auf Wiedersehen! – Vorsicht brauch' ich Euch weiter nicht anzuempfehlen.“

Er verschwand aus dem Zimmer und Sander blieb noch einige Minuten in tiefem Nachdenken, die Augen fest und finster auf die wieder geschlossene Thür geheftet, sitzen.

„So?“ sagte er endlich und stieß, während er von seinem Sitze aufstand, das Messer wohl einen Zoll tief in das weiche Holz, – „Deine Pläne sind also zur Ausführung fertig, aber Du hast nicht einmal lumpige fünfhundert Dollar für Jemanden, der in den letzten Monaten Deiner Privatkasse solch' ungeheure Summen eingebracht? Und warten soll ich, mich hier bis acht Uhr versteckt halten, um dann vielleicht auf's Neue halsbrecherische Aufträge zu bekommen, aber kein Geld? Nein, mein Alterchen, da Du so für Dein eigenes Wohl gesorgt zu haben scheinst, so vergönne mir wenigstens ein Gleiches. Mrs. Breidelford kann unmöglich schon von der uns drohenden Gefahr wissen, die will ich anzapfen. Das Zauberwort, was mich Blackfoot gelehrt, wird, wenn es das fast Unglaubliche vermögen soll, ihre Zunge zu hemmen, doch auch wohl ein paar hundert Dollar aus ihr heraus pressen – die alte Hexe hat früher überdies genug durch meine Vermittelung verdient. An's Werk denn, es kennt mich ja doch Niemand hier in der Stadt als Daytons, und deren Wohnung kann ich vermeiden.“

Er verließ rasch das Haus und verschwand bald in dem sich immer mehr und mehr verdichtenden Nebel, der jetzt sogar selbst die vom Fluß am weitesten entfernten Straßen erfüllte.

Fußnoten

1 Das gouching ist eine, den sonst so kräftigen und offenen Charakter der Amerikaner wahrhaft schändende Sitte, und wird überhaupt nur in einem sehr kleinen Theil der Union, vorzüglich aber in Kentucky ausgeübt. Hat nämlich beim Boxen oder Ringen der eine Kämpfer den andern niedergeworfen, und will dieser sich durch Treten oder Beißen befreien – denn bis der Besiegte nicht sein „enough“ – genug – ruft, wird der Kampf nicht für beendet angesehen – so sucht der Obenliegende den schon so weit Ueberwundenen zu gautschen – das heißt, er drängt ihm einen oder auch beide Daumen in die Augenhöhlen hinein, aus denen er, wenn nicht daran verhindert, die Augäpfel herauspreßt. Nicht selten wickelt er dabei mit raschem geschickten Griff die an den Schläfen wachsenden Haare des Opfers um seine Zeigefinger, um dadurch in seinem fürchterlichen Geschäft nicht allein mehr Sicherheit zu gewinnen, sondern auch den Niedergeworfenen zu verhindern, sich die ihm Blindheit drohenden Daumen in den eigenen Mund zu ziehen und mit verzweifelter Wuth abzubeißen. Hunderte können bei solchem Kampfe gegenwärtig sein, Keinem wird es einfallen, das gräßliche Resultat zu verhindern, ausgenommen, der Eine gesteht mit dem Ruf „genug“ seinem Gegner den Sieg zu. Dann müssen augenblicklich alle Feindseligkeiten eingestellt werden. Das Gouchen bedingt übrigens nicht jedesmalige Blindheit, zu Zeiten können die Augen wieder in ihre Höhlen, ohne ihre Sehkraft zu verlieren, zurückgeschoben werden; nur zu oft zieht es jedoch seine entsetzlichen Folgen nach sich, und Hunderte sind, die so, theils halb, theils ganz erblindet, die Wirkung eines natürlichen Kampfes durch's ganze Leben schleppen. Der Verlust eines Auges gilt auch dabei als vollkommen hinreichende Entschuldigung, einen angebotenen Kampf auszuschlagen, ohne dabei in den Verdacht der Feigheit zu gerathen, da man es erklärlich findet, der also Verkrüppelte wolle nicht gern auch sein zweites Auge gleicher Gefahr aussetzen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Flusspiraten des Mississippi