Kapitel 21 - Tom Barnwell findet eine Freundin Marie's. – Seine Unterredung mit dem Squire.

21. Tom Barnwell findet eine Freundin Marie's. – Seine Unterredung mit dem Squire.

Jene beiden Damen, welche der junge Bootsmann am Ufer des Flusses gesehen, waren Adele und Mrs. Dayton gewesen, die von Lively's zurückkehrten und nun in kurzem Galopp vor ihr Haus sprengten. Ihr Mulattenknabe empfing sie schon an der Thür und nahm ihnen rasch die Pferde ab, während Mrs. Dayton zuerst nach ihrem Gatten frug.


„Squire Dayton ist diesen Nachmittag fortgeritten,“ lautete des Knaben Antwort, – „Mr. O'Toole hat ebenfalls nach ihm gefragt. Er muß aber schon wieder in Helena sein, denn vorhin brachte ein Matrose von dem Dampfschiff, was unten an der Landung liegt, sein Pferd, und sagte, Master würde bald nach Hause kommen.“

Die Frauen stiegen schweigend die Treppe hinauf, und Adele legte nur ihr Bonnet ab, warf sich die langen vollen Locken aus der Stirn und öffnete das Clavier. Langsam glitten ihre Finger zuerst über die Tasten hin; in leisen, kaum hörbaren Accorden deutete sie mit leichtem Griff einzelne Melodien an. Immer fester aber wurde die wehmüthig ernste Weise, in die sie hineingerathen schien, immer weicher verschmolzen die sanften Töne in einander, und erst da, als sie plötzlich schroff in einen Dur-Accord überging und nun in rauschenden, wilden Harmonien die frühere Schwäche zu bannen, wenigstens zu betäuben suchte, glänzten und blitzten ihre holden Augen wieder in dem alten gewohnten Feuer, und die kleinen zarten Finger berührten die Tasten mit so festem, sicherem Anschlag, daß dieser auch wieder in seiner Rückwirkung der Seele der Spielenden Festigkeit und Sicherheit zu geben schien.

Mrs. Dayton hatte indessen, von Nancy dabei unterstützt, ihre Reitkleider abgelegt, saß in ihren weichgepolsterten Stuhl zurückgelehnt, das reizende, aber etwas bleiche Antlitz in die Hand gestützt, sinnend da, und heftete nur manchmal das Auge fest und prüfend auf das halb von ihr abgewandte Köpfchen der jüngeren Freundin.

„Was fehlt Dir, Adele?“ frug sie endlich leise, während ein kaum merkliches Lächeln um ihre Lippen spielte, – „weshalb bist Du so verdrießlich?“

„Wer? Ich? Verdrießlich? Was mir fehlt? Ein paar wunderliche Fragen, Hedwig, – es ist mir nie wohler und ich bin nie munterer gewesen, als eben jetzt – was soll mir fehlen? Ach Du meinst, weil ich das alberne ›days of absence‹ einmal durchspielte? Hahaha, es kam mir nur gerade so unter die Finger. – Nein, tanzen möcht' ich jetzt – tanzen, bis ich – bis ich mich einmal recht satt getanzt hätte. Apropos, Hedwig, – der junge Mann, der gerade da, wo die ersten Flatboote lagen, am Ufer stand, kam mir recht bekannt vor; ich bemerkte ihn nur eben erst, als wir vorbeisprengten, aus Helena ist er aber nicht. – Ich muß das Gesicht schon früher einmal gesehen haben, wenn auch in anderer Tracht und anderer Umgebung.“

„Mir war er fremd!“ sagte Mrs. Dayton, – „seiner Kleidung nach schien er zu einem der Boote zu gehören. Doch wo nur Dayton wieder bleiben mag; ach, wenn er doch das, was er vor kurzer Zeit zum ersten Mal erwähnte, wahr machen und von hier fortziehen wollte – ich weiß nicht – Arkansas will mir gar nicht mehr gefallen. Dieses rüde Leben und Treiben verletzt mich – die Leute sind, mit wenigen Ausnahmen, so roh und theilnahmlos, und Dayton sieht sich so von allen Seiten in Anspruch genommen, daß er sein Leben ja gar nicht mehr genießen kann. Wie er mir sagte, will er nach New-York ziehen.“

„Ich gehe mit Euch,“ sagte Adele, indem sie rasch vom Clavier aufstand, an's Fenster trat und mit den kleinen Fingern der rechten Hand langsam die Scheiben trommelte, – „mir gefällt's ebenfalls nicht mehr hier, – ich will auch fort – ich glaube – dies Arkansas ist ein recht ungesundes Land – es wundert mich, daß Ihr es so lange hier ausgehalten habt.“

„Allerdings ist das Klima hier in Helena gerade nicht besonders,“ erwiderte mit leichtem Lächeln Mrs. Dayton, „aber etwas weiter im Lande drin – in und auf den Hügeln – soll die Luft doch –“

„Sieh, dort kommt der Fremde,“ – unterbrach sie schnell Adele, „er scheint sich die Stadt ein bischen besehen zu wollen. Jetzt bin ich neugierig, wer das sein – Tom Barnwell bei Allem, was da lebt – Tom Barnwell von Indiana. Den glaubte ich eher in Afrika oder Europa.“

„Aber wer ist Tom Barnwell?“

„Ein früherer guter Bekannter unserer Familie und ein damaliger, wie es hieß, sehr starker Anbeter von Marie Morris, der jetzigen Mrs. Hawes. Jene Liebe soll auch die Ursache gewesen sein, daß er zur See ging; er ist aber rasch wieder zurückgekehrt.“

„Er kommt gerade auf das Haus zu.“

„Ei – ich rufe ihn an,“ – sagte Adele plötzlich, – „Tom war stets ein wackerer Bursche und überall beliebt. Marie verstand ihn nur damals nicht, so wenigstens glaube ich, und als er sah, daß sie den andern Bewerber vorzog, räumte er freiwillig das Feld und verließ die Staaten. Ob er wohl weiß, daß sie so ganz hier in der Nähe ist? – Aber er geht wahrhaftig vorüber, ohne herauf zu sehen. – Der muß in tiefen Gedanken sein, unser Haus fiele ihm doch sonst gewiß vor allen übrigen auf. Höre, Nancy – geh einmal rasch hinunter und sage dem jungen Mann dort – siehst Du den, der da gerade um die Ecke biegen will – eine alte Bekannte ließe ihn bitten, einen Augenblick hierher zu kommen – sie wünschte ihn zu sprechen.“

Die Mulattin folgte rasch dem Befehl, und Tom war nicht wenig erstaunt, auf solche Art und in einer ihm wildfremden Stadt angeredet zu werden, gehorchte aber ohne Weiteres der Einladung und stand bald darauf vor Adelen die ihm freundlich grüßend die Hand entgegenstreckte.

„Willkommen in Arkansas, Mr. Barnwell, es ist hübsch von Ihnen, daß Sie des alten Onkel Sam's Territorien nicht ganz vergessen haben. – Mr. Barnwell, von Indiana, Mrs. Dayton, von Georgia.“

„Miß Dunmore!“ rief Tom erstaunt und erfaßte wie mechanisch die ihm gebotene Rechte – „Miß Dunmore – träum' ich denn oder wach' ich? – Sie hier in Helena? – und wissen Sie denn? – Nein, nein, wie könnten Sie es denn wissen – Marie –“

„Um Gottes willen!“ sagte Adele erschreckt, – „was fehlt Ihnen, Sir, erst jetzt seh' ich – Sie sind leichenblaß – Sie haben Marie gesehen?“

„Ja,“ – stöhnte der junge Mann und barg für einen Augenblick das Antlitz in den Händen, dann aber, sich rasch wieder sammelnd, sagte er leise: „Sie ist hier!“

„Ja, ich weiß es,“ erwiderte Adele mitleidig, – „wenn auch nicht hier, so doch nicht weit entfernt, in Sinkville.“

„In Sinkville? Nein – hier – hier – in der Stadt.“

„Wer? – Marie?“ rief Adele – „und ihr Mann?“

„Oh, Miß Dunmore!“ bat Tom, ohne die letzte Frage zu beantworten, ja ohne sie vielleicht zu hören – „Sie waren stets Marien eine treue, liebende Freundin – verlassen Sie jetzt nicht die Unglückliche in ihrer größten, fürchterlichsten Noth –“

„Um aller Lebendigen willen, was ist geschehen?“ rief Adele und erfaßte krampfhaft den Arm des Unglücksboten. Dieser aber erzählte der athemlos Zuhörenden die Erlebnisse des gestrigen Abends, und wie und wo er das arme Wesen getroffen, theilte ihr seine Befürchtungen mit und bat sie nochmals, sich der Schutzlosen hier in der fremden Stadt anzunehmen.

Mrs. Dayton, die theilnehmend dem Bericht zugehört hatte, fiel hier, als sie das trostlose Entsetzen in Adelens Angesicht bemerkte, dem jungen Mann in die Rede und versicherte ihm, die Freundin ihrer Adele solle in ihrem eigenen Hause ein Asyl finden.

Das Mädchen faßte dankend ihre Hand.

„Wie aber theilen wir Hawes die Schreckensbotschaft mit?“ rief sie ängstlich, „und wie kommt Marie gestern Abend auf den Fluß, da er sie doch erst gegen Morgen auf seiner Plantage verlassen haben kann?“

„Wer – Hawes?“ frug Tom erstaunt – „Eduard Hawes? Der muß mit auf dem Boote gewesen sein. Mariens Phantasien kehren immer wieder zu ihrem Gatten zurück, den sie wie ihre Eltern todt sagt.“

„Was ist das?“ rief Adele entsetzt – „sie wahnsinnig – ihre Eltern todt – und Hawes hier – gesund und wohl? Großer Gott, wie kann das zusammenhängen – waren wenige Stunden im Stande, solch' fürchterliche Veränderungen hervorzubringen – oder – ich weiß nicht, mir schwindelt selbst der Kopf, wenn ich nur so Entsetzliches denken soll, es kann ja wahrhaftig nicht sein.“

„Fasse Dich, liebes Kind,“ beruhigte sie Mrs. Dayton – „gewiß herrscht hier noch irgendwo ein Mißverständniß vor. Marie Hawes, die Mr. Hawes erst gestern Morgen auf seiner Plantage verlassen hat –“

„Liegt jetzt krank, halb wahnsinnig in Mr. Smart's Hotel in Helena,“ unterbrach sie Tom erschüttert – „wollte Gott, ich hätte mich wirklich geirrt – doch das Alles ist nur zu wahr – zu fürchterlich wahr.“

„Ich muß hin – ich muß sie sehen,“ rief Adele – „komm, Hedwig – nicht wahr, Du begleitest mich?“

„Gewiß, Adele; es wäre mir sogar lieb, wenn uns auch Georg dort aufsuchen wollte. – Er ist Arzt wie Friedensrichter, und ich fürchte fast, das arme Wesen wird die Hülfe des Einen wie des Andern gebrauchen.“

„Oh, so laß uns eilen,“ bat Adele – „jeder Augenblick Verzögerung könnte der Tod der Unglücklichen sein – komm, Hedwig, komm.“

Rasch setzte sie das erst abgelegte Bonnet wieder auf, half Mrs. Dayton ein Tuch umhängen und schritt hastig voran zur Thür; Hedwig aber blieb hier noch einmal stehen und hinterließ bei Nancy, die ihnen öffnete: Mr. Dayton, sobald er nach Hause kommen sollte, zu sagen, sie seien in das Union-Hotel gegangen, eine Kranke zu besuchen, und ließen ihn bitten, doch auf jeden Fall dort, sobald ihm das nur irgend möglich wäre, vorzusprechen.

Unten im Hotel trafen sie weiter Niemanden, als den Neger, der ihnen auf ihre Frage mittheilte, Mrs. Smart sei oben bei der kranken jungen Frau, Mr. Smart aber abwesend, und ihm selber wäre befohlen worden, keine menschliche Seele, die hinauf wollte, passiren zu lassen, den Doctor ausgenommen.

„Schon gut, Scipio, schon gut,“ sagte Adele und drückte ihm aus ihrer kleinen Börse einen halben Dollar in die rauhe schwielige Hand – „wir müssen die junge Dame sprechen, hörst Du?“

„Ja, Missus, wenn Sie müssen, da ist's 'was Anderes,“ lachte der Neger mit breitem Grinsen – „meine Missus hat mir nur ausdrücklich gesagt, alle Die abzuweisen, die hinauf wollten – selbst Massa; – aber wenn Sie müssen,“ und er machte eine etwas ungeschickte Verbeugung, während die Damen an ihm vorüber die Treppe hinaufstiegen. Nur erst als Tom ihnen folgen wollte, faßte er dessen Arm und erklärte, er würde ihn unter keiner Bedingung hinauf lassen. Tom aber, darauf wohl vorbereitet, flüsterte ihm, mit einem ähnlichen Geschenk, rasch zu – „es ist meine Schwester, Bursche, und ich muß ebenfalls hinauf,“ wonach er auch schon dadurch allen Bedenklichkeiten des Aethiopiers ein Ende machte, daß er diesen ohne Weiteres mit riesenstarker Faust zur Seite schob und den Damen in raschen Sätzen treppauf folgte. Scipio aber steckte die beiden halben Dollarstücke in die Tasche und murmelte, während er sich mit breitem, innig vergnügtem Lachen abwandte:

„Es war doch ein Glück, daß Missus den Posten hierher gestellt hat – hätte sonst das größte Unglück passiren können.“

Im nächsten Augenbick standen die beiden Damen mit Tom an der Thür der Kranken, und auf ihr leises Klopfen öffnete Mrs. Smart dieselbe, das heißt nur so weit, als nöthig war, die Außenstehenden zu erkennen, wobei sie schon mit scharfer Zunge, aber sehr gedämpfter Stimme eine grimmige Zornrede von innen heraus begann. Kaum erkannte sie jedoch Mrs. Dayton und die muntere Miß Adele Dunmore, ihren Liebling, als sich ihr eben noch so finsteres Angesicht auch aufklärte und sie zurücktretend die Frauen und ihren auf dem Fuße folgenden Begleiter eintreten ließ, Stillschweigen übrigens durch alle nur möglichen Zeichen und Geberden als etwas unumgänglich Nöthiges anempfahl und zur Pflicht machte.

Marie schlief, und noch immer trug sie das weiße, dornzerrissene Oberkleid. Die langen Locken hingen ihr wirr und unordentlich um die fast leichenbleichen Schläfen, die rechte Hand hielt sie fest auf das Herz gepreßt, und die linke stützte die blutleere Wange, gegen welche die langen dunklen geschlossenen Wimpern nur noch mehr abstachen und ihre Blässe hervorhoben. Ihre Brust hob sich ängstlich und die Lippen bewegten sich leise – ihr zerrütteter Geist ließ ihr selbst im Schlafe keine Ruhe.

Adele blickte starr und entsetzt auf die Freundin hinüber, und die großen hellen Thränen liefen ihr an den Wangen herab. –

„Marie, o Du arme, unglückliche Marie!“ stöhnte sie.

Leise, fast unhörbar waren diese Worte gelispelt worden, dennoch hatten sie das Ohr der Schlummernden erreicht. – Sie öffnete die großen blauen Augen, und ihre Blicke hafteten im ersten Moment erstaunt auf ihrer Umgebung. Dann richtete sie sich halb auf dem Lager empor, strich sich das wirre Haar aus der Stirn und streckte Adelen lächelnd die Hand entgegen. Sie schien gar nichts Außerordentliches darin zu finden, die Freundin, die sie doch weit von da entfernt glauben mußte, so plötzlich hier zu sehen.

„Marie!“ rief aber diese und warf sich schluchzend über sie – „Marie – armes – armes unglückliches Kind – wo bist Du gewesen, was ist Dir widerfahren?“

„Das ist schön von Dir, daß Du mich zu besuchen kommst,“ sagte die Frau, schob ihr leise mit beiden Händen die Locken zurück und küßte ihre Stirn – „auch Tom Barnwell ist da – armer Tom“ – und sie bot ihm mit mitleidigem Blick die eine kleine Hand, die er schweigend nahm und leise drückte.

„Marie – willst Du mir eine Frage beantworten?“ flüsterte endlich Adele und suchte sich soviel als möglich zu sammeln, „willst Du mir über Einiges, was uns Beide angeht, Auskunft geben?“

„Ei ja wohl – recht gern“ – lächelte die Kranke – „gewiß will ich das, warum nicht?“ – Sie war ganz ruhig und gefaßt, nur der unstete, umherschweifende Blick verkündete noch die wilde Richtung, die ihr Geist genommen.

„Gut“ – sagte Adele und hielt gewaltsam die Thränen zurück, die ihr fortwährend die Stimme zu ersticken drohten – „wann – wann hast Du Sinkville verlassen?“

„Sinkville?“ wiederholte Marie erstaunt – „Sinkville? Den Namen habe ich nie gehört – in Indiana liegt doch kein Sinkville?“

„Ich meine Deine Plantage drüben in Mississippi.“

„Plantage? In Mississippi?“ sagte Marie noch eben so verwundert und halb lächelnd – „Du träumst wohl, närrisches Kind – wie sollte ich denn zu einer Plantage in Mississippi kommen? – Ich kenne den Staat gar nicht, und habe ihn nie betreten.“

„Hat sich denn nicht Eduard bei Sinkville angekauft?“ frug Adele verwundert.

Marie war bis jetzt vollkommen ruhig gewesen, und augenscheinlich mußte sie die letzten fürchterlichen Vorgänge ganz vergessen haben. Der fremde Ort, an dem sie sich befand, die Personen, von denen keine eine Erinnerung an das Geschehene zurückrief – die Erwähnung fremder, ihr unbekannter Namen lenkte sie mehr und mehr von den Erlebnissen jener Nacht ab, oder mochte ihr diese wenigstens, wenn sie in düsteren Bildern dennoch wieder vor ihrer Seele aufsteigen wollten, wie irgend einen wilden, fürchterlichen Traum erscheinen lassen.

Eduard's Name aber, ihr so plötzlich entgegengerufen, war das Zauberwort, das diesen glücklichen Schleier zerriß. Krampfhaft fuhr sie empor – die Hände preßte sie gegen die Stirn, und die stieren Blicke heftete sie wild auf die zurückbebende Freundin. Dann aber sprang sie rasch von ihrem Lager auf und rief, während sie mit ausgestrecktem Finger, dem ihr Blick in glanzloser Leere folgte nach dem Fenster deutete:

„Dort – dort steigt er hinauf! – Seine Locken sind naß – aber sein helles Lachen schallt über das Verdeck. Eduard! – Heiland der Welt – Eduard, schütze Dein Weib! – Hahaha, Kinder – das ging vortrefflich – über Bord mit dem Aas – gebt ihnen nur die Steine mit – Eduard – schütze Dein Weib – Eduard! – hahahahaha!“ und mit krampfhaftem Lachen sank sie bewußtlos auf ihr Bett zurück.

Die Frauen hatten ihr schaudernd zugehört, und selbst Tom's Herz erbebte, als er den markdurchschneidenden Schmerzensschrei der einst – ach der noch Geliebten hörte. Mrs. Smart war die Erste, die sich wenigstens so weit sammelte, dem armen Kinde alle nur mögliche äußerliche Hülfe zu leisten. Marie kam bald wieder zu sich, und die wilde Angst, die sie bis dahin erfaßt, schien jetzt einem sanfteren Schmerze Raum geben zu wollen. – Sie weinte sich an Adelens Brust recht herzlich aus und horchte wenigstens ruhig den Trostworten der Freunde. Alles aber, was diese versuchten, Aufklärung über das entsetzliche Geheimniß von ihr zu bekommen, blieb fruchtlos, denn was sie darüber äußerte, verwirrte, da es mit Eduard Hawes' Worten so gar nicht zusammen stimmte, nur immer noch mehr.

Dieser mußte nun vor allen Dingen von seines Weibes Zustand benachrichtigt werden, und Adele beschloß, ihn brieflich in ihre eigene Wohnung zu bestellen, um ihn dort erst auf das Gräßliche vorzubereiten. Ein Bote sollte zu diesem Zweck augenblicklich nach Lively's Farm hinausgesandt werden, und während Adele die kurze Note schrieb, berieth sich Mrs. Dayton mit Mrs. Smart, wie und auf welche Weise Marie am besten in ihre eigene Wohnung geschafft werden könne.

Das wollte nun die gute Frau im Anfang allerdings gar nicht zugeben. Da sie aber doch wohl einsehen mußte, die Unglückliche würde sich, von der Freundin gewartet und gepflegt, viel schneller erholen, als das bei ihr möglich sei, so gab sie endlich nach, ja erbot sich sogar, die Kranke in ihrem eigenen Cabriolet hinüber zu schicken, damit sie nicht die Aufmerksamkeit des stets müßigen und gaffenden Volkes zu sehr errege.

Der Bote, der nach Lively's Farm hinausritt, sollte zu gleicher Zeit vor Dayton's Haus halten und Nancy davon benachrichtigen, das kleine Zimmer im oberen Stock herzurichten, damit sie, wenn sie dort ankämen, Alles bereit fänden. Scipio, der zu diesem Dienst erwählt war, hatte denn auch eben Squire Dayton's Wohnung verlassen und den breiten, nach Lively's Farm hinausführenden Reitpfad eingeschlagen, als der Squire selbst zurückkehrte und von Nancy die hinterlassene Botschaft seiner Frau empfing.

„Eine kranke Freundin? Woher?“ frug er diese erstaunt.

„Missus sagte nichts davon,“ erwiderte das junge Mädchen, „aber Sip, der eben hier war und einen Brief nach Lively's Farm hinausbringen soll, meinte, es wäre die Schwester eines Bootsmanns, der sie mit dem Dampfschiff von New-Orleans gebracht hätte.“

Squire Dayton ging, ohne hierauf etwas weiter zu erwidern, in sein Zimmer hinauf, schloß in den dort stehenden Secretär ein ziemlich großes Paket Papiere, zog den Schlüssel wieder ab und schritt dann in tiefem Nachdenken und augenscheinlicher Unruhe rasch dem Union-Hotel zu.

Marie hatte sich indessen beinahe vollständig von ihrer ersten Aufregung erholt. Adele war nämlich eifrig bemüht gewesen, ihr das Ganze, was jetzt ihre Seele ängstige und quäle, als einen fürchterlichen Traum zu schildern, der aber auch weiter nichts als eben ein Traum sei, denn ihr Eduard lebe, sei gesund und werde sie noch heut Abend in seine Arme schließen. Das aber, was sie da immer von hohen Palmen, einer wunderschönen stolzen Frau und wilden Gestalten phantasire, die ihr Leben bedrohten, sei auch eben nur eine Phantasie, der sie sich nicht so macht- und willenlos hingeben, sondern die sie bekämpfen müsse.

Da wurden Schritte auf der Treppe gehört, und gleich darauf frug, dicht vor ihrer Thür, Squire Day ton's Stimme, in welchem Zimmer sich die Kranke befinde. Kaum aber hatte Marie diese Töne gehört, als sie, ein Bild starren Entsetzens, von ihrem Lager emporfuhr.

„Um Gottes willen, was ist Dir wieder, Marie?“ frug Adele erschreckt.

„Hier? gleich in dieser Thür?“ sagte noch einmal der Squire draußen, als ihm dieselbe wahrscheinlich von unten herauf bezeichnet worden war.

„Heiland der Welt – das ist er!“ schrie Marie entsetzt – „das ist der Fürchterliche – schützt mich vor ihm – er will mich wieder haben.“

„Marie – beruhige Dich doch nur,“ – bat sie Adele, „das ist ja Squire Dayton, hier dieser Dame Gatte – ein braver, wackerer Mann, der Dich vor jedem Schaden bewahren wird.“

In diesem Augenblicke öffnete sich die Thür und der Squire trat ein. Marie heftete dabei fest und prüfend den Blick auf ihn und schien mit peinlich ängstlicher Spannung in seinem Innern zu lesen; als aber dieser, nach einigen flüchtig mit seiner Frau gewechselten Worten, auf sie zuging, ihre Hand erfaßte und sie mit seiner gewinnenden Stimme, und zwar jetzt mit den sanftesten Tönen derselben, begrüßte, ließ die Furcht in ihrem ganzen Wesen nach – sie sank auf ihr Lager zurück und wurde ruhig. Nur noch manchmal, wenn sie die Augen schloß und dann nur den Laut seiner Worte vernahm, fuhr sie wieder empor und sah sich scheu im Zimmer um, als ob sie sich überzeugen wolle, wo sie denn eigentlich, und was ihre Umgebung sei.

Der Wagen fuhr indessen vor und die Frauen geleiteten Marie die Treppe hinab. Tom aber, der mit dem Squire noch zurückblieb, erzählte diesem jetzt umständlich, was es eigentlich für eine Bewandtniß mit dem armen Mädchen habe, wie er sie gefunden und wie sein Verdacht durch alles Gehörte immer mehr verstärkt würde, hier irgend eine planmäßige Büberei zu vermuthen, wenn es auch jetzt noch nicht möglich sei, sie zu ergründen. Mr. Hawes' Gegenwart müsse indessen viel dazu beitragen, Licht auf die Sache zu werfen.

„Und Sie glauben, daß Sie die Unglückliche an einer Insel gefunden haben?“ frug ihn der Squire, der bis jetzt der Erzählung des jungen Mannes mit dem gespanntesten Interesse gefolgt war.

„Glauben?“ sagte dieser – „das weiß ich gewiß – es ist die zweite von hier stromab und muß nach jenes Irländers Bericht Nr. Einundsechzig sein.“

„Wessen Irländers – jenes, der im Union-Hotel aus und ein geht?“

„Das weiß ich nicht, doch sprach ich ihn allerdings mit Mr. Smart am Ufer, und er ist jetzt stromab, um jene Insel zu untersuchen.“

„Wer? der Ire?“ frug der Squire schnell.

„Nun ja, er will überhaupt allerlei Verdächtiges in letzter Zeit bemerkt haben, und behauptete sogar, es müsse dort irgend eine Art von Spielhölle existiren, die das böse nichtsnutzige Gesindel so in Helenas Nähe halte. Er war seiner Sache ziemlich gewiß und ist jetzt den Strom hinunter, um sich vollkommen davon zu überzeugen. Ich selbst möchte nur noch abwarten, wie die Veränderung auf den Zustand jener unglücklichen Frau einwirkt, und dann nehme ich meine Jolle und fahre so rasch als möglich nach Victoria, unser Flatboot zu überholen. Unterwegs will ich übrigens selbst dort landen, wo ich die Arme gefunden, und einem alten Jäger, wie ich bin, wird es nicht schwer werden, zu entdecken, was jener Ort verbirgt.“

„Sie fahren allein?“ frug der Squire.

„Leider, ich muß Steuermann und Bootsknecht spielen, doch das kann nichts helfen, wenn sich nur der verwünschte Nebel ein klein wenig aufklären wollte.“

„Ja, ja,“ sagte Dayton, „wie es jetzt ist, würde es Ihnen auch unmöglich werden, stromab zu gehen; sobald Sie die Ruder eingelegt haben, wissen Sie nicht mehr wohin. Ich rathe Ihnen auf jeden Fall, erst den Nebel abzuwarten, vielleicht finden Sie bis dahin auch eine Begleitung. Es sind fast stets Leute hier, die nach Victoria hinüber wollen.“

„Nun, statt mancher Begleitung führ' ich lieber allein,“ meinte Tom. „Wenn mich übrigens Jemand, um seine Passage zu verdienen, hinabrudern wollte, hätt' ich nichts dagegen. Das wird übrigens Keiner thun, und ich habe auch keine Zeit, darauf zu warten. Kann ich in dem Nebel nicht rudern, ei nun, so laß ich das Boot eben treiben, und die Strömung muß es ja dann mit hinab nehmen; jeder Snag, an dem ich vorbeikomme, sagt mir die Richtung der Fluth, und überdies kann ich mich ja auch im Anfange noch ein wenig in der Nähe des Ufers halten. Doch ich muß einmal nach meinem Boote sehen – es ist nicht angeschlossen, und ich traue den Burschen hier nicht besonders viel Gutes zu.“

„So erwarten Sie mich wenigstens, ehe Sie abfahren, an Ihrem Boote,“ sagte der Richter; „ich will Ihnen ein paar Zeilen an den Friedensrichter in Sinkville mitgeben, damit Sie, im Fall Sie wirklich etwas Verdächtiges entdeckten, dort gleich Unterstützung fänden. Die junge Dame soll indeß gut aufgehoben sein.“

„Ich fürchte das Schlimmste für die Unglückliche,“ seufzte Tom und schritt langsam dem Flußufer zu, während der Richter stehen blieb und ihm lange und sinnend nachschaute.

Noch stand er so, als ein kleiner weißer Knabe auf ihn zutrat und ihm ein locker und unordentlich zusammengefaltetes, aber mit vielen Siegeln fest verklebtes Briefchen gab, das er las und zu sich steckte. Dann ging er langsam Mainstreet hinab und verschwand in der nächsten, rechts abführenden Straße.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Flusspiraten des Mississippi