Kapitel 19 - Der Van Buren. – Mr. Smart fügt sich dem Willen seiner Frau.

19. Der Van Buren. – Mr. Smart fügt sich dem Willen seiner Frau.

Tom Barnwell hatte, wie schon früher erwähnt, seinen unglücklichen Schützling an Bord des Van Buren gebracht, und gab ihn hier, um allen lästigen Fragen überhoben zu sein, einfach für eine kranke Schwester aus, die er nach Helena zu Verwandten bringen wolle. Marie war dabei durch die gehabte Aufregung so erschöpft und angegriffen, daß sie, ohne auch nur die geringste Einwendung dagegen zu machen, Alles mit sich geschehen ließ. Die Kammerfrau der Kajüte erstaunte allerdings, als sie das durch die Dornen und Zweige zerrissene Oberkleid sah, und mochte wohl nach dem stieren, an Nichts haftenden Auge der Unglücklichen ihren wahren Zustand ahnen. Doch was kümmerte sich die Mulattin um den Zustand der Weißen; sie hatte darauf zu sehen, daß ihre Kajüte, nicht das Hirn ihrer Passagiere in Ordnung sei, und sie bereitete ihr deshalb das Lager und überließ sie dann ihren eigenen wilden Phantasien und Traumgebilden.


Der Van Buren war ein wackeres Dampfschiff, eins der sogenannten Clipper, die nach St. Louis oder Louisville und Cincinnati einlaufen, gewöhnlich mit einer Tafel vorn, auf welcher die Zeit ihrer Fahrt mit großen, weitscheinenden Zahlen gemeldet wird. In der That grenzt auch die Schnelle, mit welcher diese Boote oft ungeheure Strecken, und zwar gegen die starke Strömung des Mississippi – zurücklegen, an's Unglaubliche. So rühmte sich der Van Buren, auf seiner letzten Fahrt von New-Orleans nach Louisville nur eine halbe Stunde länger gebraucht zu haben als die Diana – welche Zeit er auf einer Sandbank im Ohio festgesessen haben wollte – und das war 5 Tage und 231/2 Stunden – eine Entfernung von 1350 englischen Meilen stromauf.

Der Van Buren arbeitete denn auch diesmal gar wacker gegen die steigende Fluth an, und hoch und gewaltig tanzten und schlugen die Wogen hinter ihm drein und brachen sich in trübem, gährendem Schaum. In wenigen Stunden hätten sie Helena erreichen müssen, gerade aber an jener, schon mehrmals erwähnten runden Weideninsel war der Lootse, der den Ohio vielleicht gut genug kannte, diesmal aber zuerst den Mississippi, und zwar nach seinem „Navigator“ befuhr, zu nahe an die kleine Insel hinangerathen und aufgelaufen, und konnte, trotz dem gewaltigen und stundenlangen Arbeiten der Maschine nach rückwärts, nicht wieder loskommen. Da sie nun endlich sahen, daß jeder weitere Versuch nutzlos, die Nacht dagegen eingebrochen war und der Fluß mit jeder Stunde stieg, so hofften sie, mit Tagesanbruch vielleicht schon selber flott zu werden, und versuchten deshalb mit der Jolle an's Ufer zu fahren und ein Springtau dort irgendwo zu befestigen. Es geschah das nur deshalb, damit sie, wenn sie wirklich loskämen, nicht wieder mit der Strömung hinabtrieben.

Die mit der Befestigung des Taues beauftragten Leute fanden indeß ein schwereres Geschäft, als sie im Anfang vermuthet haben mochten. Die ganze Insel war allerdings dicht mit Bäumen bewachsen, jedoch nur mit schwachen Baumwollenholzstämmen, die kaum ein Flatboot, viel weniger denn ein so schweres Fahrzeug gehalten hätten. An dem äußern Rande der Insel stand dabei der junge Aufwuchs, lauter Schößlinge der Baumwollenholzbäume, und diese, die starr und dicht wie Schilf aus dem schon etwas angeschwellten Mississippi herauswuchsen, verweigerten dem breiten Bug der Jolle hartnäckig den Eingang. Die ersten bogen sich zwar, wenn die Matrosen mit allen Kräften dagegen ruderten, elastisch zur Seite, wie Stahlfedern preßten sie aber dann auch augenblicklich mit rückwirkendem Druck wieder gegen das Boot an, sobald die Ruder nur einen Moment aufhörten zu arbeiten.

Die Matrosen mußten den Versuch endlich aufgeben und hinein in das hier etwa drei Fuß tiefe Wasser springen, was des Triebsandes wegen an und für sich schon mit großer Gefahr verknüpft war. Mit vereinter Anstrengung zogen sie nachher das lange schwere Tau so weit inselwärts, als ihnen das möglich war, schlugen es hier, wo sie wieder trocknen, das heißt wenigstens nicht unter Wasser stehenden Boden fanden, um eine Anzahl der schwachen Stämme herum, und kehrten dann an Bord zurück, um zu weiteren Operationen den anbrechenden Tag zu erwarten.

Nun waren allerdings zwei Wachen an Deck gelassen, die auch die Feuer unter den Kesseln unterhalten sollten. Wie das aber mit fast allen Wachen geht, so blieben sie im Anfange ungemein munter – warfen sorgsam Holz nach, und sahen nach dem Tau, ob es noch immer straff sei und festhalte; sobald jedoch einmal Mitternacht vorüber und keine Ablösung für sie bestimmt war, legten sie sich auf das vor den Kesseln aufgeschichtete Holz, fingen an, sich Geschichten zu erzählen und suchten sich damit munter zu halten. Der Erzähler wurde aber auch endlich schläfrig – der Zuhörer hatte schon lange aufgehört. Zuhörer zu sein, und tiefes Schweigen herrschte bald auf dem schlummernden Koloß.

Leise murmelnd brach sich die Fluth an seinem Bug, und in der nicht fern gelegenen Weideninsel rauschte und brauste es – das vorn angeschwemmte Holz stemmte die Strömung, und dann und wann warfen sich mächtige losgeschwemmte Stämme dagegen und versuchten diesen natürlichen Damm zu durch brechen. Rabenschwarze Nacht lag dabei auf dem dumpf grollenden Strom, und es war, als ob die Waldgeister von beiden Ufern wunderliche, unheimliche Weisen herüber und hinüber riefen, während der alte Mississippi die langgehaltenen Melodien dazu in seinen schäumenden Bart summte.

Auf dem Boote rührte sich nichts mehr. Nur die beiden. Wachen hoben noch dann und wann einmal müde, und schon halb bewußtlos, die Köpfe, und blickten nach den Sternen empor und nach den zu Starbord leise schwankenden Weiden, ob sie noch auf der alten Stelle lägen. Das monotone Summen des Stromes schloß aber bald wieder ihre Augenlider, und das harte Lager war doch nicht hart genug, festen, gesunden Schlaf von ihnen fern zu halten.

An dem Springtau zerrte und zog indeß die kräftige unermüdliche Fluth, und der steigende Strom hob das Boot aus seinem sandigen Bett. Je mehr es aber anfing flott zu werden, desto mehr wirkte auch die Strömung darauf ein und begann schon das noch haltende Tau straff anzuspannen. Im Anfang hielten die schwanken jungen Stämme allerdings noch sicher die ihnen anvertraute Last, je stärker aber das Boot anzog, desto mehr bogen sie sich, desto mehr rutschte das Tau nach oben. Wohl leistete die Zahl noch einigen Widerstand, hier und da brach aber einer der am meisten in Anspruch genommenen; ein anderer ließ das Tau über den elastischen Wipfel gleiten – mit jedem Augenblick verminderte sich der Halt, den jenes ungeheure Gewicht erforderte, und jetzt – knickte auch der letzte Stamm.

Der Ruck, der das Van Buren-Tau befreite, zitterte aber durch das ganze Boot und störte den Schlummer der sorglos im Bug ausgestreckten Wachen. Zuerst schlugen sie erstaunt die Augen auf und sahen nach dem Himmel; der spannte sich aber noch in seiner alten Gestalt über ihnen aus. Dieselben Sterne schauten funkelnd auf sie nieder, auf die sie beim Einschlafen ihre Blicke geheftet hatten, doch entsetzt sprangen sie empor, denn die Baumwollenholzschößlinge, deren träumendes Wiegen sie bis dahin ebenfalls neben sich beobachtet und deren Nicken sie mit dem eigenen Kopf gar oft accompagnirt, lagen hinter ihnen. – Das Wasser rauschte nicht mehr gegen ihren Bug an – die Weiden rückten weiter und weiter zurück. Die Männer wurden mit einem Male munter und sprangen, von einem Gefühl getrieben, nach dem Tau – es hing locker über Bord, und ihr Ruf:



„Das Boot ist los!“



weckte mit Blitzesschnelle die noch hier und da in der warmen Sommernacht am Deck umher gestreuten Gefährten.

Alles sprang jetzt herbei, und lief wild und rathlos durcheinander; Einige fühlten nach Grund, Andere rissen am Tau, ein Paar sprangen nach dem Lootsen, um diesen an's Steuerrad zu rufen, Keiner aber dachte an die Hauptsache, daß das Dampfboot auch nicht ohne Dampf regiert werden könne, und erst die Feuer wieder aufgeschürt und das Wasser erhitzt werden müsse, ehe sie hoffen durften, wirklich ernster Gefahr für ihr Boot zu entgehen.

Des Steuermanns fester Ruf sammelte die Schaar zuerst wieder zu geregelter Thätigkeit. Rasch wurden vor allen Dingen um die stets bereit liegenden kleinen Anker Taue geschlagen, diese über Bord zu werfen und sie wenigstens da zu halten, wo sie sich gerade befanden. Die Feuerleute mußten indessen unter allen Kesseln die Feuer aufschüren und zu gleicher Zeit nachpumpen, damit nicht durch Wassermangel ein noch größeres Unglück – das Zerspringen derselben – herbeigeführt würde. Diese Vorsichtsmaßregeln, zur rechten Zeit getroffen, wären auch hinlänglich gewesen, das Boot gar bald wieder in Stand zu setzen. Durch die ungemein starke Strömung aber waren sie schon weiter hinabgerissen, als sie im Anfange selber vermuthet hatten, denn diese führte sie mit reißender Schnelle und zwar rückwärts, dem westlichen Ufer entgegen.

„Stangen hinter – an Larbord Steragedeck!“ schrie der Steuermann mit heiserer Stimme, „stemmt Euch, meine Burschen, sucht die Bäume zu treffen und schiebt ab.“

Die Matrosen gehorchten in flüchtiger Eile dem Befehle – alles von Passagieren niederrennend, was ihnen zufällig in den Weg trat, die langen Stangen wurden nach hinten geschleppt und dort rasch über Bord und gegen die Seitenwand gestemmt, um das jetzt unvermeidliche Anprallen wenigstens so viel als möglich zu mildern. Die Anker waren zu gleicher Zeit ebenfalls übergeworfen; der weiche Schlammboden gewährte aber noch keine Festigkeit – sie schleppten nach, und in demselben Moment rannte auch der Van Buren, seitwärts gegen das Ufer treibend, mit der Larbordseite und mit dem hintern Theile zugleich so gewaltig gegen die Stämme an, daß das mächtige Boot bis in seinen Kiel hinunter erzitterte und das Larbordradhaus krachend und prasselnd zusammenbrach.

Die Passagiere stürmten jetzt erschreckt von allen Seiten herbei, einzelne sogar schon mit ihren Habseligkeiten unter dem Arm oder auf dem Rücken, bereit, mit nächster Gelegenheit an's Ufer, oder doch wenigstens in ein rettendes Boot zu springen. Auch die Mannschaft selbst war im ersten Augenblick bestürzt, denn man wußte noch nicht genau, wie bedeutend der angerichtete Schaden sei, und ob der Rumpf wirklich so gelitten habe, daß das Fahrzeug sinken müsse.

Der Zimmermann sprang denn auch vor allen Dingen in den Rumpf hinunter, und die Pumpen wurden versucht. Da ergab es sich denn, daß der Van Buren wahrscheinlich nur mit dem breiten Obertheil in das starre Treibholz hineingerannt sei, und weiter nicht gelitten habe als an Rad, Bulwarks und Steuer. Allerdings wurde der Schaden jetzt so schnell als möglich, und so gut es gehen wollte, ausgebessert; ehe das Steuer aber wieder hergestellt war, konnten sie nicht daran denken auszulaufen, und die Sonne stand schon hoch am Himmel, als dieses erst, mit Hülfsstücken und starken Ketten geschnürt und befestigt, so weit hergerichtet war, um den Van Buren wenigstens bis Helena zu nehmen. Dort mußte dann Alles wieder ordentlich reparirt werden.

Zweimal machten sie dabei vergebens den Versuch auszulaufen, denn noch immer verweigerte das Steuer den Dienst. Das Larbord-Rad war nämlich ganz zertrümmert, und sie mußten mit dem ebenfalls beschädigten Starbord-Rad allein gegen den Strom anarbeiten. Hierdurch wurde der Bug aber natürlich gegen Larbord hinübergeworfen, was das Steuer außergewöhnlich anstrengte. Endlich noch mit einem starken Tau versehen, schien es genügend zu sein; die Maschine fing wieder an zu arbeiten, und wie ein verwundeter Leu, der traurig die zerschossene Pranke nachschleppt, so keuchte und ächzte das verletzte Boot schwerfällig stroman.

Die Sonne hatte den Zenith schon überschritten, als sie Helena erreichten und dort landeten, um vor allen Dingen erst wieder ordentlich flußtüchtig zu werden. Tom Barnwell aber, der in peinlicher Ungeduld sich zehnmal an's Ufer gewünscht hatte, um zu Fuß schneller noch die Stadt zu erreichen und der Abfahrt des alten Edgeworth zuvorzukommen, war indeß den ganzen Morgen bittren Unmuths voll auf dem Hurricanedeck hin und her gelaufen, und hatte vergebens nach den zahlreichen vorbeitreibenden Flatbooten ausgeschaut. Eins sah aus wie das andere, und er konnte unmöglich erkennen, welches das sei, zu dem er gehöre.

Einmal zwar glaubte er an mehreren, nur dem Auge eines Bootmannes bemerklichen Kleinigkeiten, und trotz des beginnenden Nebels, die Schildkröte zu erkennen, und hatte schon die Hände trichterförmig an den Mund gelegt, sie wo möglich anzurufen; da entdeckte er an Bord jenes Bootes eine Menge Kisten und zwischen diesen eine Frau, die, wie es ihm vorkam, geschäftig unter ihnen herumging. Das konnte ihr Boot also auch nicht sein – an Bord der Schildkröte war keine Frau, und er hoffte jetzt nur, Edgeworth werde, vielleicht durch irgend etwas aufgehalten, Helena noch gar nicht verlassen haben.

Darin sollte er sich freilich getäuscht sehen – das Boot war wirklich und, wie er später erfuhr, erst ganz kurze Zeit vor seiner Ankunft abgefahren, und als er hörte, daß der Alte eine Frau als Passagier mitgenommen, wußte er auch gewiß, er habe sich in dem Boote damals nicht geirrt. Hier half aber freilich kein langes Ueberlegen weiter, und er geleitete nur vor allen Dingen das arme Mädchen, das sich willenlos an seinen Arm hing, so rasch als möglich in das Union-Hotel, und erzählte dort, allen weiteren Fragen darüber auszuweichen, ebenfalls wie auf dem Dampfboot, daß es seine Schwester sei, die von New-Orleans heraufgekommen wäre.

Hier aber hatte er noch mit einer und allerdings am allerwenigsten erwarteten Schwierigkeit zu kämpfen, denn Mr. Smart, der ihm in das Zimmer hinauf folgte und sich bald selbst von dem trostlosen Zustande der Unglücklichen überzeugte, erklärte ihm ganz frei und offen, daß er, was ihn selbst beträfe, das arme Wesen von Herzen gern bei sich aufnehmen und verpflegen würde, daß dieses aber weiblicher Pflege bedürfe, und seine Frau jetzt so mit Geschäften überhäuft sei, wie noch nie vorher. Sie befand sich deshalb auch in keineswegs rosenfarbener Laune, und er versicherte dem jungen Manne, sie würde, wenn ihr das Mädchen so ohne Weiteres aufgebürdet werden sollte, nicht allein aus Leibeskräften dagegen protestiren, sondern auch in diesem Departement, wo ihr Befehl vor allen anderen gelten mußte, ohne Umstände die Wiederentfernung der Kranken verlangen.

„Aber wo um Gottes willen soll ich mit dem armen Wesen hin?“ sagte Tom traurig, als er dem Wirth den wahren Verlauf der Sache erzählt hatte. „Das Boot ist fort, ich muß nach, denn ich habe nicht allein mein ganzes kleines Vermögen, sondern auch alle meine Kleider dort an Bord, und dieses unglückliche Weib darf ich in ihrem Zustande, ohne Schutz, ohne Freunde hier, in einer fremden Stadt, unmöglich zurücklassen. – Eben so wenig kann ich sie aber mit mir nehmen; behaltet sie deshalb hier, mein guter Herr, und seid versichert, daß ich vielleicht schon in wenigen Tagen wieder zurück bin und Euch dann reichlich vergüten werde, was Ihr an ihr gethan.“

Ihr Gespräch wurde hier von außen her und auf etwas laute Weise unterbrochen, denn draußen auf dem Gange hörten sie plötzlich Mrs. Rosalie Smart, die eben in keineswegs freundlichen Ausdrücken dagegen eiferte, daß hier jeder „lumpige Bootsmann“ hereinfallen sollte, um ihr seine Dirne in's Haus zu schleppen.

„Schwester?“ rief sie dabei, wahrscheinlich auf eine von dem Neger gemachte Entgegnung – „Schwester? – was da Schwester – da könnte Jeder kommen und seine Schwester bringen. Und noch dazu nicht recht bei Sinnen – na weiter fehlte mir gar nichts. Jetzt, wo ich Tag und Nacht nicht weiß, wo mir der Kopf steht; jetzt, wo ich mich placken und quälen muß, um nur das Haus in Ordnung zu halten und die gesunden Gäste zu bedienen, ja wo nur erst noch gestern mein Mädchen fortgelaufen ist, das mir diese Person, diese Mrs. Breidelford abspenstig gemacht hat, jetzt soll ich auch noch Krankenwärterin werden? So? oder will Mr. Smart das junge Ding vielleicht gar selber warten und pflegen? Nein, daraus wird nichts, aus dem Hause muß sie mir wieder, und das gleich; ich will doch sehen, wer hier Zimmer zu vergeben hat, Mr. Smart oder ich. Wenn er das besorgen will, so soll er auch die Wirthschaft führen und die Betten in Ordnung halten, und dann bin ich nachher ganz überflüssig – ich werde so schon mehr wie ein Dienstbote behandelt. Hier will ich denn aber doch einmal sehen, wer –“

Das Weitere wurde unhörbar, denn Madame arbeitete sich in gewaltigem Eifer die Treppe hinauf, und es war augenscheinlich, daß sich die Aussichten, diese Sache in Frieden und Freundschaft beizulegen, mit jeder Minute verringerten.

„Ich will hinauf und sie selbst darum bitten,“ sagte Tom jetzt rasch und griff nach seinem Hut – „sie kann und wird mir's nicht abschlagen. Sie muß auch wissen, was sie dem eigenen Geschlecht schuldig ist, und darf ihr Herz dem Mitgefühl nicht ganz verschließen.“

Er wollte hinaus, Smart aber, der sich bis jetzt das Kinn mit dem Zeigefinger und Daumen der rechten Hand sinnend gestrichen und starr dabei vor sich niedergesehen hatte, ergriff ihn rasch am Arme und sagte schnell:

„Halt! Sie verderben die ganze Geschichte. – Meine Frau ist herzensgut, wir haben aber einen Fehler gemacht: dem Mädchen ist nämlich eine Stube angewiesen, ehe sie darum befragt wurde, und das vergäbe sie nie. – Gehen Sie jetzt nachträglich zu ihr und bitten Sie um etwas, was wir schon vorher als gestattet angenommen haben, so möchte ich Sie nur ersuchen, mich vorher etwa zweihundert Schritt fortzulassen, denn Sie bekämen das schönste Aufgebot, das man sich wünschen kann, und Ihre Bitte erfüllte sie nachher erst recht nicht. Darin kenn' ich –“

„Aber, um Gottes willen, was sollen wir denn da thun?“ rief Tom in Verzweiflung – „Sie sind der einzige Mensch hier in ganz Helena, dem ich diese Unglückliche anvertrauen möchte, und gerade Sie verweigern es. Oh fürchten Sie ja nicht, daß ich etwa nicht wiederkäme und die Schuld abtrüge – Sie wissen nicht, wie theuer mir jenes arme Wesen einst war –“

„– meine Alte zu gut,“ fuhr Smart fort. „Ein Mittel giebt es aber noch, und das wäre wenigstens eines Versuches werth.“

„Und das ist?“

„Ruhig – lassen Sie mich machen – warten Sie einmal,“ und er sah sich dabei rings im Zimmer um – „ja, das wird gehen. Springen Sie einmal zu dem Fenster da hinaus.“

„Aber Mr. Smart!“ sagte erstaunt der junge Bootsmann.

„Ja, ich kann Ihnen nicht helfen,“ lächelte der Yankee – „wir müssen heute ein bischen Komödie spielen. Springen Sie nur da zum Fenster hinaus und kommen Sie mir vor Abend nicht wieder in's Haus.“

„Das geht unmöglich!“ rief Tom – „ich kann die Unglückliche nicht eher verlassen, bis ich sie sicher untergebracht weiß; und – und was sollte ihr denn das auch nützen? – ich muß erst wissen, wie es mit ihr wird.“

„Ja, dann müssen wir's unterlassen,“ sagte der Yankee gleichgültig und schob die Hände wieder in die Taschen. – „Das ist das Einzige, was ich weiß; wenn Sie dafür keine Zeit haben, so thut's mir leid. – Vielleicht nähme sie Squire Dayton.“

„Wer ist Squire Dayton?“

„Der Friedensrichter hier im Orte – er ist verheirathet und hat auch noch ohnedies eine weitläufige Verwandte seiner Frau bei sich. – Vielleicht nimmt der sie in's Haus.“

„Glauben Sie, daß ich ihn jetzt finden kann?“ frug Tom schnell.

„Nein,“ sagte der Yankee ruhig – „der ist fortgeritten, und die beiden Damen sind auch nicht daheim.“

Tom ging unruhig ein paar Mal im Zimmer auf und ab.

„Und hoffen Sie wirklich, daß Sie Ihre Frau dazu überreden können, die Unglückliche aufzunehmen?“ sagte er endlich, als er wie verzweifelt vor Smart stehen blieb.

„Ueberreden? Nein,“ erwiderte dieser. – „Es kann sich Niemand auf dieser Welt rühmen, meine Frau zu etwas überredet zu haben, doch – ich bringe sie dazu – ich hoffe es wenigstens, und das ist ja Alles, was Sie wollen. Also – wenn's Ihnen gefällig wäre – dort ist das Fenster –“

„Aber weshalb nur zum Fenster hinaus?“

„Weil Sie jetzt gerade meiner Frau nicht draußen begegnen sollen – oh, Sie können wohl die fünf Fuß nicht hinunterspringen!“

Tom wollte noch etwas erwidern – bezwang sich aber, öffnete den einen Fensterflügel und drehte sich dann noch einmal gegen den Wirth um.

„Sir,“ sagte er – „wenn Sie nur ahnen könnten –“

Ein Schritt wurde auf dem Gange gehört.

„Meine Frau,“ sagte der Yankee einfach, und machte dabei eine leise Verbeugung, als ob er dem jungen Mann Jemanden, der eben in die Thür trete, vorstellte. Dieser verstand den Wink, legte, ohne weiter ein Wort zu erwidern, die rechte Hand auf das Fensterbrett, und war mit einem Satz unten auf der Straße.

Keine drei Secunden später ging die Thür auf, und Mrs. Smart trat, mit fast eben so erhitztem Gesicht, als wir ihr im Anfang unserer Erzählung begegneten, in's Zimmer, obgleich diesmal ihre Röthe wohl einen andern, viel gefährlicheren Grund haben mochte.

Smart aber ging plötzlich – die Hände auf dem Rücken, den Hut fast noch weiter nach hinten gedrückt als gewöhnlich, mit schnellen Schritten in der Stube auf und ab.

„Wer hat mir die Mamsell in's Haus –?“ Waren die ersten Worte, die sie sprach, und sie stemmte dabei, als ob sie ihren Grimm erst recht von unten heraufdrücken wollte, die Arme in die Seite. Sie unterbrach sich aber selbst in ihrer Rede, als sie Niemanden bei ihrem Mann bemerkte, wo sie doch gewiß glaubte, Stimmen gehört zu haben. – „Mit wem sprachst Du denn eigentlich eben hier?“ sagte sie dann erstaunt und schaute sich überall um – „ich weiß doch, daß ich Jemanden reden hörte.“

„Wohl möglich,“ erwiderte der Gatte kurz, ohne den Blick auch nur einmal auf sie zu heften – „ich kann mit mir selbst gesprochen haben. Doch das ist einerlei, ich will nichts mit vagabondirendem Gesindel zu thun haben, und ich muß Dich bitten, mein Kind, mich künftig, ehe Du Gäste, das heißt solche Gäste, kranke Gäste in's Haus nimmst, davon zu benachrichtigen.“

Mrs. Smart blieb vor Verwunderung, ohne auch nur eine Silbe darauf zu erwidern, stehen.

„Es ist ganz gut, mildthätig zu sein,“ fuhr der Wirth, ihr Erstaunen gar nicht beachtend, fort – „ich will aber mit dem Bootsgesindel nichts zu thun haben. Niemand hat weiter Noth und Sorge davon als ich, und Niemand –“

„So?“ fuhr jetzt plötzlich Mrs. Smart auf, denn Jonathan hatte eine Saite berührt, die jedesmal bei ihr einen rauschenden Anklang fand – „so – der gestrenge Herr da hat Noth und Sorge davon, wenn Gäste im Hause sind? Er kocht wohl das Essen, oder hält Betten und Stuben rein? oder besorgt Wäsche und sonstige Gegenstände, die zu Küche und Haus gehören? Hat nun je ein Menschenkind schon so etwas gehört? Wo aber kommt das Mädchen her? Wer hat sie mir in's Haus gebracht, und was soll mit ihr geschehen?“

„– wird dann auch später einmal dafür verantwortlich gemacht,“ sagte Jonathan, der, während sie sprach, ihr ruhig in's Auge gesehen hatte und nicht um die Welt einen einmal begonnenen Satz unvollendet gelassen hätte.

„Wer sie in's Haus gebracht hat, will ich wissen,“ rief Mrs. Smart ärgerlich.

„Das kann uns gleichgültig sein,“ entgegnete Jonathan, – „ein junger Farmer von Indiana war's – es ist seine Schwester, und er ist fremd hier und meint, die Person müßte elend umkommen, wenn sich nicht eine rechtschaffene Frau ihrer annehme, weil er jetzt, um seinen Geschäften nachzugehen und sein Leben zu fristen, den Fluß hinab muß. Was geht das aber uns an? Ich kann hier kein krankes Geschöpf warten und pflegen und – will die Umstände und den Spectakel auch nicht in meinem Hause haben.“

„Person – Geschöpf? Ja, das ist so die Art, wie die Herren der Schöpfung von einem armen Frauenzimmer reden, das nicht ein Seidenkleid an und einen Federhut auf hat“ – fiel ihm hier Mrs. Smart etwas pikirt in die Rede – „Du brauchst auch kein krankes Geschöpf zu warten und zu pflegen – das wäre auch die rechte Wartung und Pflege, die es bekäme. Wo ist denn aber der Musjö, der hier anderen Leuten seine Schwester in's Haus bringt?“

„Fort!“ rief Mr. Smart in höchster Aufregung – „fort ist er – das ärgert mich ja eben so – zwingt mir die Person ordentlich auf – sagt, ich hätte überhaupt darüber gar nichts zu bestimmen, das wäre der Hausfrau Sache, und Mrs. Smart's Edelmuth wäre bekannt und noch mehr solchen Unsinn, und fort ist er nun, mitten in den Wald hinein, vielleicht nach Little Rock oder sonst wohin. Doch was geht das mich an? – Macht er sich so wenig aus seiner kranken Schwester, daß er sie auf solche Art fremden Leuten überläßt, so brauch' ich noch weniger Theil an ihr zu nehmen. Nicht einmal ein einziges Kleidungsstück hat sie mit – nicht einmal ein Hemd, ihre Wäsche zu wechseln.“

„Mr. Smart!“ rief Mrs. Smart auf das Tiefste empört aus – „ich muß Sie bitten, Ihre Ausdrücke anständiger zu wählen, wenn Sie in meiner Gegenwart von solchen Sachen reden wollen. Ich bin gerade so gut eine Lady, als ob ich in New-York oder Philadelphia wohnte. Wo hat übrigens der gestrenge Herr bestimmt, daß die Kranke hingeschafft werden soll?“

„Hingeschafft? Was kümmert das uns?“ sagte Jonathan. „Scipio soll sie vor die Thür führen, und sie mag gehen, wohin es ihr beliebt. Ich will weiter nichts mit ihr zu thun haben.“

„Vor die Thür können wir sie nicht setzen,“ sagte Mrs. Smart, „das ist gegen Menschen- und Christenpflicht, und ich will mir nicht nachgesagt haben, daß ich so ein armes Ding aus dem Hause geworfen hätte, blos weil es kein Geld und keine Kleider hatte und sonst noch unglücklich war. – Uebrigens hast Du auch gar nichts damit zu thun; die Sache geht Dich weiter nichts an, das Mädchen mag meinetwegen ein paar Tage hier bleiben, und wenn es sich ordentlich beträgt und sich wieder erholt, so wollen wir sehen, was weiter wird. Ich brauche so Jemanden als Hülfe im Hause, wenn ich nicht förmlich draufgehen und mich aufreiben soll. Das ist Dir aber einerlei – Du gehst Deinen Geschäften oder Vergnügungen nach und kümmerst Dich nicht darum, wie sich Dein armes Weib plagen und quälen muß. Du weißt freilich nicht, wie es so einem armen Wesen zu Muthe ist, das keine Eltern mehr hat und nun verlassen in der Welt steht. – So seid Ihr Männer aber – hartherzige Egoisten, alle mit einander, und uns, die wir so etwas besser wissen müssen, denen der liebe Herrgott ein Herz in die Brust gelegt hat, das Leiden Anderer zu fühlen – uns wollt Ihr dann auch noch vorschreiben, was wir thun oder lassen sollen, wenn es sich um etwas handelt, wo eben nur ein Weib über ein Weib entscheiden kann. Das laß Dir aber nur nicht weiter einfallen; das Mädchen bleibt jetzt bei mir, bis ich sie selber fortschicke.“

Und damit verließ Madame das Zimmer, warf die Thür heftig hinter sich zu, und stieg stracks zu dem Zimmer des armen Kindes hinauf – freilich jetzt in anderer Absicht, als sie vorhin in ihrem Selbstgespräch geäußert hatte. Jonathan aber schob wieder, wie das so seine Art war, wenn er entweder gar ernsthaft über etwas nachdachte oder sich ganz außergewöhnlich freute, die Hände tief in seine Beinkleidertaschen hinein und schritt, aus Leibeskräften den Yankee Doodle pfeifend, in dem kleinen Zimmer auf und ab.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Flusspiraten des Mississippi