II. - Während sich die beiden Peons heimlich entfernten und von einem wachsameren Posten überrascht wurden, hatte Charles Ellington ...



Während sich die beiden Peons heimlich entfernten und von einem wachsameren Posten überrascht wurden, hatte Charles Ellington schon mehrmals lauschend den Kopf erhoben, um das Zurückkehren der abgelösten Wache zu erwarten. Lange schon wäre er aufgestanden, aber die Kälte war scharf, und er scheute sich, die neben ihm Schlafenden, doch jedenfalls nutzlos zu stören. Endlich aber, da der eine Peon noch immer nicht wiederkehrte, kroch er leise unter der Decke vor, und den Rock fester zuknöpfend, um den kalten Zug abzuhalten, der durch die niedere Öffnung ihm entgegenschlug, stand er eine Zeitlang lauschend und horchte hinaus in die Stille der Nacht, die durch keinen Laut irgendeines lebenden Wesens unterbrochen wurde. Nur der Bergbach tief unten rauschte und murmelte dumpf herauf, und da drüben, wo sich der Felsenhang steil in das Tal hinunterwarf und den Strom gegen die andere Wand hinüberzwang - das war wohl ein Fuchs gewesen, der hier, in seinem Abendmarsch gestört, die Fremden witterte und gegen den Wind und die verdächtige Nachbarschaft anbellte.


„Felipe!“ rief er jetzt, erst mit vorsichtig gedämpfter, dann mit etwas lauterer Stimme. „Felipe!“ - Niemand antwortete, nichts ließ sich hören noch sehen, und wenn er auch für einen Augenblick glaubte, der Laut einer Menschenstimme dränge zu ihm herüber, so war das doch so rasch wieder verhallt, daß er sich auch ebensogut geirrt haben konnte. Die furchtbare Wahrheit tauchte jetzt, erst in flüchtigem Verdacht, der ihm schon das Blut in den Adern gerinnen machte, dann in entsetzlicher Gewißheit in ihm auf: - ihr Führerpaar war entflohen, und ihre kleine Schar dadurch nicht allein um ein Bedeutendes geschwächt, sondern die Gefahr, gerade von den früheren Führern verraten zu werden, so dringend geworden, daß jeder Augenblick, den sie an der argentinischen Seite der Gebirge verträumten, ihr Verderben rettungslos auf sie niederführen konnte.

Hier galt entschlossenes Handeln - den Weg über die Gebirge getraute er sich schon, wenn es sein mußte, allein zu finden, denn von hier aus lag das anscheinend schmale Tal des Tucunjado lang ausgedehnt vor ihnen, ein Abweichen zur Rechten oder Linken nicht einmal gestattend, und nur beim Niedersteigen waren sie größerer Gefahr ausgesetzt, in mit Schnee gefüllte Abgründe zu stürzen; keineswegs war die aber dringender als das Bewußtsein gewissen Todes, wenn sie den Henkersknechten des Diktators in die Hände fielen, und es blieb deshalb keine Wahl.

Rasch weckte er Don José, dem er seine Befürchtungen in wenigen Worten mitteilte, und als dieser ebenfalls ihm bei- und zu augenblicklicher Flucht stimmte, hob sich auch die arme junge Frau von ihrem traurigen Lager, ihren Gatten über dessen Befürchtungen, sie selber betreffend, zu beruhigen, indem sie sich durch die wenigen Stunden Rast wie neu gestärkt fühle und die Männer wenig in ihrem Fortschreiten behindern werde. Wenige Minuten später fanden sie alle zum neuen Marsch durch eine Schneewüste, nur mit dem ungewissen Licht des Schnees selber gerüstet, als Ellington, der, immer aufmerksamer geworden, nach der Talschlucht hinüberlauschte, plötzlich ausrief, er sähe einen der Peons kommen.

„Gott sei Dank!“ flüsterte mit gefalteten Händen die junge Frau, „also waren es doch keine Verräter und unsere Befürchtungen grundlos.“

„Das gebe die heilige Jungfrau!“ murmelte Don José, indem er die sich rasch nähernde Gestalt vorsichtig und mißtrauisch beobachtete und fast unwillkürlich nach den schon wieder im Gürtel geborgenen Pistolen griff, „ich wollte, ich wüßte genau, wo der andere Schuft steckt.“

„Am Ende haben wir ihnen doch unrecht getan“, flüsterte Ellington, „und können nun wenigstens Tageslicht abwarten, um unsern Weg fortzusetzen. Wozu die arme Candelaria mehr erschöpfen, als eben unumgänglich nötig ist.“

„Erst wollen wir aber wissen, was der Bursche zu seiner Entschuldigung zu sagen hat“, beharrte Don José, der seine Landsleute besser kennen mochte als der Engländer, „jedenfalls müssen sie, selbst im günstigsten Fall ihrer Rechtfertigung, irgend etwas Verdächtiges gesehen oder gehört haben, sonst wären sie schon gar nicht so weit von hier fortgegangen - aber ruhig - es ist Pedro - der Alte scheint also doch seinen Posten zu halten.“

Der jüngere der Peons kam indessen rasch näher, und seine Füße draußen an der Tür gegen die Steine klopfend, daß er den Schnee aus den Falten des um die Knöchel geschlagenen Schaffelles abschüttle, betrat er mit dem frommen, aber vollkommen leise und kaum hörbar gemurmelten Gruß „Ave Maria Purísima“ die Hütte.

„Para siempre!“ erwiderte halb unbewußt mit lauter Stimme und recht aus tiefstem, innerstem Herzen heraus die Frau, und der Peon, der in dem vollkommen dunkeln Raum, bei dem schwachen Schein, der dürftig durch die niedere Eingangspforte fiel, seine Umgebung nicht gleich erkennen konnte, sagte mit kaum unterdrücktem Ausruf der Überraschung, aber bald gefaßt:

„Pero, amigos - was ist das? - die Señorita - ei wahrhaftig, alle zusammen auf und munter - es ist noch lange nicht Morgen. Aber ich glaub es wohl, daß Ihnen die Zeit hier in dem kalten Loch lang geworden - wir können noch fünf oder sechs Stunden schlafen.“

„Und wo bist du gewesen, Amigo?“ frug Don José den Führer, der noch immer, halb unschlüssig, was er selber tun sollte, ob sich zum Schein niederlegen oder offen entfliehen und dadurch den vollen Alarm geben, in der Tür stehenblieb, „wo ist dein Compañero, und weshalb habt ihr beide euern Posten verlassen?“

Der Peon lachte.

„Es war ein Puma da drüben“, sagte er endlich nach einer kleinen Pause, „und wir konnten das Tier im Schnee hören und auch manchmal den dunkeln Schatten seiner Gestalt sehen. Um ganz sicher vor Überraschung zu sein, umschlichen wir die Stelle, wo wir ihn vermuteten, aber er entfloh in langen Sätzen, und erst nachdem wir dort eine Zeitlang gelauscht und gewartet, ob sich nichts Verdächtiges weiter regen würde, kehrte ich zurück - aber der Puma ist noch draußen“, setzte er dann plötzlich, von einem neuen Gedanken durchzuckt, hinzu, „und Felipe schickte mich hier herein, eins der Gewehre zu holen - die Haut des Tieres gäbe ein herrliches Lager für die Señorita.“

„Ich will selber mit dir gehen“, sagte Ellington rasch, aber Don José ergriff seinen Arm:

„Das wäre doppelter Wahnsinn“, rief er in englischer Sprache, „drohte hier wirklich Verrat, so liefst du den Schuften selber in die Schlinge - selbst das aber angenommen, daß sie ehrlich sind, dürfen wir hier gar nicht schießen, denn der Schall würde unendliche Strecken in die Berge donnern und unseren Feinden, sollten uns diese wirklich nachfolgen, genaue Kunde von unserer Nähe geben. - Mir gefällt auch der Rat des Burschen nicht - der alte Peon ist viel zu schlau und vorsichtig, um sich selber zu verraten, und außerdem glaub ich nicht einmal, daß er ein Gewehr abfeuern könnte.“

Der junge Bursche hatte indessen dem Gespräch, von dem er keine Silbe verstand, unruhig und mißtrauisch gelauscht; - was berieten die Männer, und was taten indessen die vielleicht ungeduldig werdenden Mashorqueros, wenn er zu lange zögerte? Er erkannte jetzt recht gut, daß alle auf und zum Weitermarsch gerüstet waren, und was blieb da für ihn selbst das Sicherste?

„Aber wo ist Felipe?“ wandte sich Don José jetzt plötzlich gegen ihn, „euer früherer Posten war gerade da drüben, und ich kann nichts mehr von ihm erkennen.“

„Er ist an der Spitze da vorn stehengeblieben“, erwiderte, auf diese Frage schon vorbereitet, der Peon; „erstlich hoffte er dort den Puma am ersten wiederzusehen, und dann kann man auch von dem Punkt aus den von unten heraufführenden Pfad besser überwachen.“

„Gut, so leg dich wieder nieder“, sagte Ellington, „und schlaf noch ein paar Stunden; vor Tag aber wollen wir wieder aufbrechen, um womöglich noch die zweite Casucha 1) Die steinernen Hütten in den Kordilleren, zum Schutz der Wanderer erbaut. zu erreichen; der nächste Tag sieht uns dann auf chilenischem Gebiet und dort hoffentlich sicher vor den Henkersknechten des blutigen Tyrannen.“

„Bueno, amigo“, brummte als halbe Antwort der Peon. An der Wand der Hütte aber hintastend, um seinen früheren Lagerplatz wiederzufinden und dort das Weitere zu überlegen sowie abzuwarten, bis sich die jetzt mißtrauisch gemachten Flüchtlinge wieder beruhigt hätten, fühlte er plötzlich - und wie mit einem elektrischen Schlag fuhr es ihm durch die Glieder - die Gewehre der beiden Engländer, die Ellington dorthin gestellt hatte, um sie, falls sie wirklich angegriffen werden sollten, gleich zum Gebrauch bei der Hand zu haben. Eine rasche Bewegung der Hand überzeugte den Peon jedoch, daß die Pulverhörner nicht dabeihingen, und er kauerte sich dicht daneben auf den Boden nieder, den für ihn günstigsten Zeitpunkt abzuwarten.

Er sollte nicht lange zu warten brauchen. Wenn auch Ellington im Anfang beabsichtigt haben mochte zu wachen und ein paarmal zu dem niedern Eingang schritt und hinauslauschte, war die Luft doch zu bitter kalt, sich ihr unnötigerweise zu lange auszusetzen. In seinen Poncho deshalb fest eingehüllt, streckte sich der Verfolgte endlich tief aufseufzend dicht neben die Gattin nieder, der er schon vorher das Lager wieder bereitet.

Der Peon war indessen nicht müßig gewesen; vorsichtig neben sich herumfühlend, nahm er das eine Gewehr zu sich nieder aufs Knie und fing an, es zu untersuchen. Hierbei aber war für ihn ein Übelstand - er hatte wohl schon häufig schießen sehen, aber noch nie selber geschossen; nur so viel wußte er, daß der Hahn gespannt werden mußte. Die Waffe, die er in der Hand hielt, war ein Doppelrohr, die andere eine einfache Büchse, aber weder Pulver noch Blei dazu; was half ihm da das Gewehr? Da durchblitzte ihn ein teuflischer Gedanke - wenn er das einfache Rohr in die Ecke abfeuerte, wo die Flüchtigen dicht aneinandergeschmiegt lagen, und dann mit dem noch geladenen Doppelgewehr entfloh, brachte ihn die Verwirrung des ersten Entsetzens jedenfalls außer Schußweite, und nicht allein einer oder mehrere der Fremden würden verwundet, sondern die Mashorqueros waren dann auch imstande, mit dem andern Gewehr sie am Weitermarsch zu verhindern oder doch so lange aufzuhalten, bis sie die wenigen Provisionen aufgezehrt hatten und dann rettungslos ihnen zur Beute fielen.

Der Bursche, schlau und gewandt, zögerte nicht lange mit der Ausführung; überdies sollte der Schuß ja als Zeichen den übrigen gelten, und preßten diese scharf heran, so war es sogar möglich, daß sie sich ihrer Beute ohne weiteres bemächtigten. Ellingtons Leichtsinn, die Gewehre solcher Art außer dem Bereich des eigenen Arms zu lassen, wäre den armen Verratenen bald verderblich geworden - Pedro kannte nur den Mechanismus des Gewehres nicht genau genug, um den Hahn geräuschlos zu spannen, und als er das Doppelrohr wieder neben sich an die Wand gelehnt und die Büchse ergriffen hatte, um den Hahn leise aufzuziehen, knackte dieser, als er in die erste Ruhe trat.

Don José hatte gar nicht geschlafen, und schon seit der Peon die Hütte wieder betreten, lehnte er, halb sitzend und nur in seinen warmen Poncho gehüllt, an der Mauer der Hütte, dem geringsten Laut horchend, der zu ihm herüberdringen möchte. Er wußte sich selber nicht ordentlich Rechenschaft zu geben, aber er war mißtrauisch geworden und erwartete mit Sehnsucht den anbrechenden Morgen. Nur die Augen schloß er endlich und überdachte halb wachend, halb träumend die Möglichkeit des Gelingens - die Gefahren ihres Marsches - als ihn das Knacken des Hahns zuerst aus seiner Ruhe wieder emporschreckte. Den Blick rasch nach dort richtend, von woher das so unvermutete Geräusch gekommen, sah er jetzt deutlich bei dem schwachen, von draußen hereindämmernden Schneelicht, wie sich der blanke Lauf eines Gewehres - er konnte nur nicht recht genau erkennen, nach welcher Richtung - niedersenkte. Dann war alles totenstill.

Aber auch Ellington war durch den nur zu gut gekannten Laut aufgestört; auch er sah, gerade als er die Augen aufschlug, die Bewegung des Laufs, und dem im Lager überraschten Wilde gleich, fuhren die beiden Männer empor, um der neuen, noch kaum bewußten Gefahr zu begegnen.

Vergebens riß indessen der Bandit an dem Drücker der Büchse, um sich selber durch den Schuß zu retten; er hatte keine Ahnung, daß der Hahn zweimal aufklinken mußte, ehe er feuern konnte; so war er nur „in Ruh gesetzt“, und das Schloß verweigerte den Dienst. Die doch nutzlose Waffe von sich schleudernd, ergriff er das Doppelrohr, um die Tür noch vor seinen Angreifern zu erreichen; hier aber verrannte ihm Ellington den Weg, und noch während er sein Messer aus der Scheide riß, sich die Bahn zu stoßen, brach er mit einem leisen Stöhnen, zugleich von Ellingtons Faust und Don Josés scharfem Stahl getroffen, der ihm die eigene Waffe in den Rücken trieb, eine Leiche, zu Boden.

Die kleine Hütte war im Augenblick ein Bild der Verwirrung, und das Verderben der Unglücklichen wäre besiegelt gewesen, hätten die Henker nicht auf das Zeichen des ausgesandten Spions gewartet. Aber die Furcht vor Feuerwaffen, die der Gaucho nicht leicht überwindet, besonders wenn er sie in den Händen von Europäern weiß, hielt sie zurück, und so gern sie das Blutgeld ihres Herrn verdienen mochten, so wenig dachten sie daran, ihre eigene Haut unnötig dabei zu Markte zu tragen.

Ellington und Don José aber waren in dem Augenblicke so bestürzt und erschreckt, daß der Spanier schon in der Tat das Messer zum zweitenmal gezückt hatte, den eigenen Schwager, den er ebenfalls für einen der Angreifer hielt, niederzustoßen, als ein zufälliger Ausruf desselben noch sein Leben rettete.

Ellington besetzte jetzt vor allen Dingen die Tür, und während Don José die Leiche aus dem Weg und in die eine Ecke zog, eilte auch der alte Herr herbei, um den Platz, der, wie er natürlich glauben mußte, schon vom Feind angegriffen wurde, verteidigen zu helfen.




1) Die steinernen Hütten in den Kordilleren, zum Schutz der Wanderer erbaut.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Flucht über die Kordilleren