I. - Es war im September 1845, daß die vereinigten Geschwader von England und Frankreich die argentinische Flotte auf dem La Plata, ...



Es war im September 1845, daß die vereinigten Geschwader von England und Frankreich die argentinische Flotte auf dem La Plata, von Admiral Brown, einem Irländer, kommandiert, wegnahmen und den Hafen von Buenos Aires blockierten. Ja sie landeten sogar Truppen, eroberten die von dem argentinischen General besetzten kleinen Häfen, wie die für die Schiffahrt der argentinischen Binnenwasser so wichtige kleine Insel Martin Garcia und setzten damit dem Einfluß des Diktators Rosas, wenn auch nur für kurze Zeit, einen entschiedenen Damm entgegen.


Rosas wütete und drohte gleich darauf durch ein Dekret, seine Gegner als Seeräuber behandeln zu wollen, und hätte er damals die Macht in Händen gehabt, seine Feinde würden bös gefahren sein. So aber fürchtete er doch noch immer das entschiedene Auftreten der beiden vereinigten Mächte und mußte sich begnügen, seiner Rache gegen einzelne freien Lauf zu lassen, die seinen Gesetzen zuwiderhandelten und ihnen anheimfielen.

Die rücksichtsloseste Strenge, ja Grausamkeit wurde aber gegen solche angewandt, die wirklich mit den Feinden der Föderalisten, den Unitariern, in geheimer Verbindung gestanden, ja auf die nur der Verdacht eines solchen Bündnisses fiel. Das war die Schreckenszeit, in welcher die abgesandten Henkersknechte des Diktators, die Mashorqueros, besonders in Buenos Aires selber durch die Stadt zogen, die bezeichneten Häuser besetzten und den verdächtig gewordenen Opfern - wer hätte sie alle verhören können - oft in der Mitte ihrer eigenen Familien, die Kehlen durchschnitten. Dann brannten sie vor dem Hause eine Rakete ab, als Zeichen, daß die Polizei die Leiche abholen könne.

Das war die Zeit, wo das Gitter des großen Obelisken auf dem Viktoriaplatz allnächtlich, ja am hellen Tage seinen furchtbaren Schmuck von abgeschlagenen Köpfen trug; das die Zeit, wo das Herz des treuesten Anhängers Rosas’ selbst vor Entsetzen aufhörte zu schlagen, wenn man ein Klopfen an der Haustür vernahm, denn niemand war sicher, und jener furchtbare Mann des Blutes, der aber auch nur auf solche Art imstande war, sich das Land zu unterwerfen und die wilden Gauchoshorden in Furcht und Ordnung zu halten, mähte förmlich in den Reihen seiner Feinde. 1)

Aber nicht allein in Buenos Altes selber, sondern auch im innern Lande lebten ihm Feinde, und besonders stand die Provinz Mendoza in dem Verdacht, den „asquerosos, inmundos Unitarios“ nur zu geneigt zu sein. Mendoza aber, am Fuß der Kordilleren, lag zu weit ab von dem wirklichen Schauplatz des Krieges, um die Einwohner dort ebenso streng unter Aufsicht, ebenso erfolgreich in Schrecken zu halten als die Küstenstriche; und wenn auch dort die föderalistische Polizei, von den wilden Gaucho-Soldaten unterstützt, das Land der Regierung des Diktators gehorsam hielt, waren es doch besonders die Fremden, die jetzt, darauf fußend, daß ihre Landsleute mit offenen Schießluken die Hauptstadt des Landes eingeschlossen hielten und bedrohten, ziemlich offen sich aussprachen über eine Regierung, die „genug Blut vergossen habe, um einen Dreidecker flottzuhalten“ und allen Gesetzen der „Zivilisation und Menschenrechte“ Hohn spräche.

Ein junger, erst seit kurzem mit einer Mendozanerin verheirateter Engländer, namens Ellington, dessen Vater durch eine der Maßregeln des Diktators fast sein ganzes Vermögen eingebüßt, eiferte besonders gegen diese Zustände und trotzte dabei auf die Kriegsfahrzeuge seiner Landsleute, unter deren Schutz er sein Leben wähnte. Vergebens bat ihn selbst sein Vater, bat ihn sein junges Weib, seine Zunge zu wahren; offen schon hatte er sich gegen oft nur zweideutige Freunde ausgesprochen, daß gerade vom Westen aus die Bevölkerung nach der Seeküste vorpressen müsse, um einem Zustand der Willkür ein Ende zu machen, der unerträglich würde; ja er verbarg mehrere flüchtige Unitarios in seinem Hause und weigerte sich, der argentinischen Polizei den Zutritt zu gestatten, bis er Mittel gefunden, die Verfolgten zu retten.

Allerdings hatte ihn bis jetzt nur noch seine Nationalität vor der Rache des beleidigten Diktators geschützt; aber dem mächtigen Gauchohäuptling standen auch andere Mittel zu Gebote, seine Feinde unschädlich zu machen, als allein öffentliches Gerichtsverfahren, und über Mr. Ellingtons Haupt zog sich ein Gewitter zusammen, das ihn in kurzer Zeit zu erreichen und - zu vernichten drohte. - Nichtsdestoweniger blieb er blind gegen die dringendsten Warnungen seiner wenigen wirklichen Freunde, denn nur wenige wagten noch in der Tat, sich öffentlich seine Freunde zu nennen.

So rückte der Juni von 1846 heran, und Ellington, nur noch kühner gemacht durch die lange Duldsamkeit dessen, der doch die Macht in Händen hatte, ihn zu vernichten, ließ sich in immer tiefere Verbindungen ein und unterhielt sogar schon eine ziemlich lebhafte Korrespondenz mit Chile, um von dort herüber der Sache der Unitarier zu Hülfe zu kommen. Ja die Schlinge schien schon gelegt, die den Diktator in ihren Maschen fassen und vernichten sollte, als eines Abends Don José, Mr. Ellingtons Schwager, leichenbleich und vollständig zur Flucht gerüstet, in dessen Wohnung stürzte und dem anfangs Ungläubigen die Kunde brachte, daß ihr beider Leben in diesem Augenblick an kaum mehr als einem Haar hinge; denn von Rosas gedungene Mashorqueros seien allein in diesem Auftrag selbst von Buenos Aires nach Mendoza gekommen, und der nächste Augenblick schon könne sie selber in der Gewalt dieser furchtbaren und unerbittlichen, blutdürstigen Henkersknechte sehen.

Schleunige Flucht, solange selbst diese ihnen noch übrigblieb, war das einzige, was sie jetzt retten konnte; und wenn sich auch Ellington im Anfang gegen den Gedanken sträubte, die Gefahr so nahe zu glauben, ja sich auf den Konsul seiner Nation stützen wollte, dem gegenüber Rosas nicht wagen würde, eine Gewalttätigkeit zu begehen, konnte er doch nicht lange dem Zureden seines Schwagers, den flehenden Bitten seines Weibes widerstehen. - Selbst der alte Mr. Ellington, der jedenfalls den Mißhandlungen der Henker ausgesetzt gewesen wäre, wenn diese den Sohn entflohen fanden, mußte sie begleiten, und nur eben zusammenraffend, was sie an Geld, Pretiosen und Lebensmitteln fortbringen konnten, verließen sie, vollkommen bewaffnet, wirklich im entscheidenden Moment das Haus, denn kaum zehn Minuten später wurden die verschiedenen Türen desselben von außen leise besetzt, und rot verhüllte Gestalten durchsuchten mit blanken Waffen und ingrimmigen Verwünschungen die leeren Räume.

Die Lage der Flüchtlinge war aber deshalb keineswegs um vieles gebessert. Den Messern des Diktators allerdings im ersten Anlauf entgangen, wäre ihnen doch die Flucht auf die Länge der Zeit durch die weiten, öden Pampas, die Mendoza rings umschließen, unmöglich gewesen; und die Kordilleren, die sie nur in kurzer Entfernung von dem gastlichen Chile trennten, lagen mit Schnee gefüllt und drohten dem Tollkühnen Verderben, der sich in dieser Jahreszeit in ihre sturmdurchbrausten Schluchten wagen sollte. Und doch blieben diese nur ihre einzige Rettung - wenigstens in der Möglichkeit, den zürnenden Elementen das dürftige Leben abzuringen; denn kein Erbarmen hatten sie von den Mashorqueros des gereizten Rosas zu erwarten. Wohl aber wissend, daß bis Tagesanbruch auch selbst dorthin die Wege abgesperrt sein würden, führte Don José den kleinen Trupp in gerader Richtung in die Hügel hinein, an deren Fuß sie sich fast befanden, ihrem guten Glück vertrauend, von dort einen jetzt im Winter ganz unwegbaren Paß über das Gebirge selber zu finden.

Das Glück begünstigte sie hier insofern, als sie, der ersten Schlucht in die nächsten Hügel hinein folgend, eine kleine Hütte und dort zwei Peons trafen, die sich augenblicklich bereit zeigten, ihnen gegen eine sehr beträchtliche Belohnung zu Führern über die Gebirge zu dienen. Die Burschen waren, wie sie behaupteten, mit jedem Pfade, jedem Bach in den Bergen bekannt, und selbst das aufrichtige Geständnis Don Josés, daß sie von Rosas’ Henkern verfolgt würden, konnte sie nicht abschrecken. Lachend meinten sie, sie wären allerdings Argentiner, aber gehörten doch eigentlich nach Chile hinüber, und wenn die Señores und die Señorita fürchteten, daß sie verfolgt würden, wollten sie schon einen Pfad nehmen, auf dem bald die Kecksten der Gauchos, die sich überdies nie gern von ihren Pferden trennen, zurückbleiben sollten.

Noch vor Tagesanbruch waren zwei Maultiere, das eine für Señora Ellington, das andere für den alten Herrn, gesattelt und mit den nötigsten Provisionen beladen, und der kleinen Schlucht, in der die Hütte stand, aufwärts folgend, erreichten sie gerade mit Dunkelwerden den Gipfel der ersten Hügel- oder Bergreihe, der schon dicht mit Schnee bedeckt lag, überschritten diese und stiegen dann bei dem matten Licht, das die Sterne auf den Schnee niederfunkelten, wieder in ein anderes, wärmeres Tal hinab.

Die Kordilleren bilden sich nämlich, wie die Rocky Mountains oder Felsengebirge im Norden durch drei Abdachungen, hier durch zwei streng voneinander geschiedene Gebirgsreihen, die sich von Nord nach Süd hinunterstrecken. Der erste, nach den Pampas zu liegende Berg- oder Hügelstreifen - denn was in einem andern Lande recht gut ein Berg genannt werden könnte, erscheint hier, neben den gewaltigen Kordilleren, doch nur als Hügel - schmiegt sich dicht an den Hauptrücken, nur ein schmales Tal zwischen sich und diesem lassend, hin, ist aber hoch genug, sogar in dieser niedern Breite den Winter hindurch eine gar warme und behagliche Schneedecke zu tragen, während die Kordilleren selber schroff und gewaltig, in riesiger Masse aus dem nämlichen Tal emporsteigen - ein fester, kompakter Körper von Schnee und Eis, auf granitenem Piedestal ruhend. So schroff und steil kommen dabei die einzelnen Bergwasser aus jenen riesigen Höhen herausgestürzt, daß es nur an einzelnen Stellen möglich ist, dem Lauf derselben aufwärts zu folgen, während die übrigen Gebirgsmassen eine feste, unersteigbare Wand bilden, die sich wolkenhoch, Berg auf Berg gehäuft, emportürmt.

Aber selbst diese wenigen Pässe können nur für eine Strecke weit im Winter mit Maultieren begangen werden; nachher muß der Wanderer, den sein Geschick in diese Wildnis getrieben, die Bahn zu Fuß weitersuchen, und nicht allein der Abgrund dicht unter dem schwankenden Schritt droht Verderben, nein, der geringste losgebröckelte Schnee, der ihn hier träfe, müßte ihn, durch das Gewicht seines Falles, in die Tiefe schmettern, und der Kondor oder der Puma der Gebirge hätte dann ein treffliches Mahl.

Die beiden Peons kannten hier aber jeden Fußbreit Landes, und dem Tale folgend, das sich in ziemlich gerader Richtung gen Norden zog, erreichten sie gleich am nächsten Tage einen der Pässe, der eigentlich nur im Sommer benutzt wurde, den sie aber doch jetzt ebenfalls hofften, passieren zu können, und hier hatten sie dann kaum eine weitere Verfolgung zu fürchten. Nur zu bald sollten sie aber diese Hoffnung getäuscht finden: ein gewaltiger Schneesturz hatte den schmalen Pfad so überschüttet, daß sie wochenlang gebraucht haben würden, sich hier hindurchzuarbeiten, und wo indessen Provision hernehmen, während ein völliges Schneegebirge jeden weitern Fortschritt hemmte? Selbst jetzt war die Gefahr groß genug, gerade an dieser Stelle von ihren Verfolgern überholt zu werden, denen sie dann nach keiner Richtung hin mehr hätten entfliehen können.

Langes Beraten half hier ebenfalls nichts; rasch umdrehend eilten sie die eben gemachte Bahn in das Tal zurück, wo ihre Maultiere noch zwischen den dort grünenden Myrtenbüschen reichliches Futter fanden, um den Tucunjado, ebenfalls einen der Bergströme, zu erreichen, ehe die Verfolger bis hierher ihre Spur aufgefunden haben könnten. Diese mußten übrigens schon in großer Anzahl kommen, wenn sie ihnen gefährlich werden sollten, denn die Gauchos, wie die Bewohner der Pampas genannt werden, führen selten oder nie Feuergewehre, mit denen sie auch nur höchst mittelmäßig umzugehen wissen, und die beiden Engländer waren mit Pistolen und Büchsen vortrefflich bewaffnet. Selbst Don José führte ein Paar Pistolen im Gürtel und ein Doppelgewehr, und die Peons hatten ihre gewöhnlichen langen Messer, ohne das ein Argentiner, besonders in damaliger Zeit, nie die Schwelle seines Hauses verließ.

Unten an der Mündung des Tucunjado, das heißt dort, wo der Bergstrom, von dem Hauptrücken der Kordilleren niederschäumend, seine Wasser mit einem größeren Bache vereinigt, der von Norden niederkommt und sich später seine Bahn in die freie Ebene bricht, liegt, hoch von den Schneegebirgen überragt, aber auch gegen all die rauhen Südweststürme geschützt, in fast tropischem Klima, eine kleine freundliche Farm, die Grenzstation der Argentinischen Republik, und im Sommer der Stapelplatz der Mautaufseher, die den Tucunjado-Paß niederkommenden Karawanen zu überwachen; im Winter aber, wo fast jede Verbindung mit Chile, unbedingt jede mit Packtieren, abgeschnitten ist, wird die Bewachung teils sehr lässig betrieben, teils ganz aufgegeben, und eine kleine Wirtschaft mit einigen Bergbewohnern und einem Dutzend starker, kräftiger Guanakohunde ist das einzige, was zurückbleibt, bis der Schnee der Gebirge taut, seine Massen in Sturzfluten durch das Tal gesandt und die Pfade wieder freigegeben hat. Jetzt hausten dort nur ein paar alte Guanakojäger, und den hoch eingefriedigten Weideplatz, mit dem üppigsten Gras und Futterklee bedeckt, kannten die müden Tiere gut genug, um ihm schon von weitem entgegenzuwiehern.

Ehe man sich aber in Sicht dieses Platzes wagte, wurde ein kurzer Kriegsrat gehalten, und zwar einstimmig dahin beschlossen, vorerst einen der Peons zum Rekognoszieren vorauszuschicken und zu sehen, ob die Spione und Henkersknechte des Diktators selbst bis hierher gedrungen wären. War das der Fall, so mußten sie, wo sie sich eben befanden, die Nacht abwarten, nach einbrechender Dunkelheit am rechten Ufer des Bergstromes, soweit es die steilen Wände erlaubten, hinaufhalten und den Fluß dann furtend den schmalen Pfad zu erreichen suchen, der an dem linken Ufer bis fast zu dessen Quellen auflief.

Der älteste der Peons, ein durchtriebener Bursche mit wilden, verlebten Zügen, aber einem Paar schlau und listig unter buschigen Brauen vorblitzenden Augen, wurde dazu gewählt und kehrte auch schon nach zwei Stunden mit der Nachricht zurück, daß allerdings elf Mann in dem Hause lägen und eben erst von einem kurzen Streifzug den Tucunjado hinauf zurückgekehrt wären, nachdem sie sich überzeugt hätten, daß die Flüchtigen noch nicht auf diesem Wege entkommen seien. Am nächsten Morgen würden sie aber unfehlbar das ganze Binnental absuchen und deshalb gar keine Wahl lassen, was man etwa tun sollte. Die einzige Möglichkeit, noch zu entkommen, sei, während der Nacht die Station zu umgehen und dann so rasch vorwärts zu rücken, wie es die Kräfte der Passagiere nur irgend erlaubten. An der Schneegrenze angekommen, wollten sie dann die Maultiere absatteln und laufen lassen - den Rückweg suchten die klugen Tiere leicht allein, und hatten sie erst einmal den teilenden Gebirgsrücken erreicht, so waren sie sicher, denn Rosas durfte nicht wagen, die chilenische Grenze zu überschreiten.

Das Umgehen der Farm gelang, von einer ziemlich dunklen Nacht begünstigt, vortrefflich. Noch lange vor Tagesanbruch hatten sie den schmalen Bergpfad erreicht, der sich am linken Ufer des jetzt niedern Stromes, oft kaum zwei Fuß Bahn neben einem Abgrund lassend, hinaufzog; hier aber mußten sie halten, bis das Tageslicht ihnen weiterhelfe, denn es wäre mehr als Tollkühnheit gewesen, solchen Weg in dunkler Nacht zu verfolgen. Mit dem ersten Dämmerlicht brachen sie wieder auf, und selbst Señora Ellington, wenn auch nie im Leben an solche Strapazen gewöhnt, fühlte sich durch die kurze Rast wie neu gestärkt; kein Wort der Klage kam wenigstens über ihre Lippen.

Den schwierigsten Teil des Überganges hatten sie aber noch vor sich, jedenfalls den beschwerlichsten, und als erst ihre wirkliche Wanderung über den Schnee begann, drohten die Kräfte der jungen Frau sowohl wie die des alten Herrn den ungewohnten und gewaltigen Anstrengungen zu erliegen. Als sie am Abend, schon nach Dunkelwerden, die Punta del Vaca, eine kleine schmutzige Steinhütte, erreichten, mit einem Loch zur Tür und nichts als den kalten, gefrorenen Boden der Hütte selber zum Bett, wäre es der schwachen, zarten Frau nicht möglich gewesen, auch nur noch einen Schritt weiterzusetzen, und doch wußten sie alle, daß vielleicht an der Verzögerung einer Viertelstunde schon der Tod hing.

Es mochte zehn Uhr abends sein. Der Himmel war klar und sternenhell, und in der Hütte hatten sich die müden Wanderer, ohne selbst imstande zu sein, ein Feuer anzuzünden, in ihre Decken gehüllt und dicht nebeneinandergeschmiegt, der Nacht vielleicht eine Stunde Schlaf und Ruhe abzustehlen. Nur der jüngere Peon stand, wohl dreihundert Schritt zurück, von woher sie gekommen, auf Posten, um hier an einer schmalen Stelle der Straße, an der kein Feind, noch dazu über den hellen Schnee, an ihn heranschleichen konnte, den Paß zu bewachen und bei dem geringsten Zeichen von Gefahr die kleine Schar zu alarmieren. Von der Hütte her kamen jetzt Schritte, und wenige Minuten später stand der ältere Felipe an seiner Seite.

„Was sagst du zu unserem Unternehmen, Compañero?“ frug er endlich leise den Kameraden, als er ein paar Minuten an dessen Seite gestanden und in die Nacht hinausgelauscht hatte.

„Daß ich es herzlich satt habe, mich auf einer Seite mit einer papiernen Señorita herumzuquälen“, brummte der Gefragte mürrisch, „die wir morgen wahrscheinlich noch das Vergnügen haben werden, durch den Schnee zu schleppen, denn gehen kann die Puppe doch nicht mehr, und ich andererseits meinen Hals in Gefahr weiß, sobald uns die Mashorqueros des Gouverneurs überholen. Pest und Gift, die Burschen verstehen keinen Spaß, und ich könnte mir eher Erbarmen von einer wilden Schar der Pampas-Indianer erbitten als von einem von Rosas’ roten Ponchos. - Ich wollte, wir hätten uns mit der ganzen Sache nicht eingelassen.“

„Weißt du, Compañero“, sagte der Alte, seinen Arm traulich auf dessen Schulter legend und vorsichtig dabei zurückschauend, ob keiner ihrer Passagiere munter und in der Nähe wäre, „mir selber gefällt die Geschichte auch nicht mehr, und - für die lumpigen zehn Unzen wären wir eigentlich rechte Toren, wenn wir - wenn wir eben -“

„Wenn wir was?“ frug der Jüngere gespannt und drehte sich halb nach seinem älteren Gefährten um.

„Ei zum Teufel, wenn wir uns eben noch unnützerweise abquälten!“ setzte dieser rasch und wild hinzu. „Es sind doch nur Unitarios und dürfen nie nach der Republik zurückkommen. Überdies sieht mir der Himmel da drüben im Südwesten ebenfalls nicht so richtig aus. - Kriegen wir hier einen Temporale, so sind wir geliefert, und - ich meinesteils bin fest entschlossen, diesen Augenblick meinen Rückweg anzutreten - gehst du mit?“

„Du hast mir die Gedanken aus der Seele gelesen“, lachte der Jüngere, „mag der Inglese sehen, wie er über die Berge kommt - wir lassen ihm überdies unser Charque 3) in der Hütte zurück, und sie dürfen sich nicht beklagen, daß sie nichts zu essen hätten. Aber komm, die Zeit vergeht, und es ist bitter kalt hier oben; wenn wir uns tüchtig in Trab setzen, können wir die Estancia noch bei guter Zeit morgen früh erreichen.“

„War mir’s doch, als ob ich da vorn ein Geräusch wie von knirschendem Schnee hörte“, sagte der Alte da plötzlich und schützte seine Augen mit dem Arme gegen den blendenden Schein der weißen Decke, „da wieder.“

„Mir kam es auch erst so vor“, sagte der Jüngere, seinen Poncho um sich herziehend und dann niederkniend, um das eine Schaffell, das er sich der Kälte wegen um seine Füße gewickelt, etwas fester zu binden, „aber es wird der Puma sein, der vor etwa einer halben Stunde quer vor mir über den Schnee sprang und hinunter nach dem Wasser zu hielt. Rosas müßte einen tüchtigen Preis auf das Einbringen unserer Gesellschaft gesetzt haben, wenn er die Gauchos bis hier in den Schnee hinter ihnen her treiben könnte. - So“, rief er dann, indem er, seine Fußbekleidung in Ordnung gebracht, wieder in die Höhe sprang und den Hut in die Stirn drückte, „jetzt bin ich fertig, und nun können wir doch sagen, daß wir unsern Weg bis hierher ganz anständig bezahlt bekommen haben.“

Felipe antwortete nichts, horchte nur noch einmal zurück, wo sie die, die ihrer Treue viel zu gutmütig vertraut hatten, ohne Ahnung zurückließen, daß die Führer und Wachen sie verräterischerweise im Stich ließen, und schritt dann dem Gefährten rüstig voraus durch den tiefen Schnee, um sobald als möglich die von diesem freie Passage wieder zu erreichen und von da ab rasch dem wärmeren Tal zueilen zu können.

„He, Felipe, rief’s da nicht hinter uns?“ sagte, stehenbleibend, plötzlich der junge Bursche.

„Was kümmert’s dich?“ brummte aber, die Schritte eher noch dadurch beschleunigend, der ältere Gefährte; „laß sie schreien, aber mach, daß du aus Schußweite -“

Seine Rede wurde hier auf etwas rauhe Art unterbrochen, denn neben ihm, wie aus dem Schnee heraus, sprang eine Gestalt, flog ihm nach der Kehle und hatte ihn auch im nächsten Moment, ehe er nur daran denken konnte, nach seinem Messer zu greifen, zu Boden geworfen, wo er wie in einen Schraubstock eingeklemmt und regungslos lag. Asistencia! wollte er rufen, aber schon bei dem ersten Laut blitzte ein blanker Stahl vor seinen Augen, und der Ruf erstarb ihm auf den Lippen. - Sein Angreifer sprach kein Wort - lautlos, doch mit riesiger Kraft hielt er ihn zu Boden. Wenige Minuten später hörte Felipe, daß sich jemand näherte, gleich darauf fühlte er sich selber von noch anderen gefaßt und aufgehoben, und als sie den nächsten Felsenvorsprung erreicht und hinter sich hatten, fand er sich plötzlich zu seinem Erstaunen ganz frei neben seinem jüngeren Gefährten stehend, der auf gleiche Weise überwältigt worden sein mußte, und nur sein erster Angreifer sagte mit leiser, aber nichtsdestoweniger drohend genug klingender Stimme:

„Du bist alt genug, zu wissen, Compañero, daß wir keinen Spaß verstehen - verhalte dich ruhig und sag uns, was du weißt, und du hast für dich selber nichts zu fürchten; mache dagegen einen einzigen Versuch, zu fliehen oder uns zu verraten, und du bist ein Kind des Todes.“

Der alte Peon, der seine Arme kaum frei fühlte, griff fast unwillkürlich nach seinem Gürtel zurück, das Messer zu fühlen. Der Fremde, der die Bewegung bemerkte, sagte jedoch mit kaltem, fast höhnischem Lächeln:

„Es ist in guten Händen - könnte dir selber aber auch jetzt nur Schaden tun. Wir wissen überhaupt alles, und ihr beiden mögt es unserer guten Laune, euch hier in der Falle zu wissen, zuschreiben, daß unsere Messer nicht schon lange, und statt aller weiteren Umstände, mit euren Kehlen Bekanntschaft gemacht haben.“

„Und weshalb?“ frug jetzt der Alte, der seine Geistesgegenwart rasch wiedergewonnen und nun aus ihrer Lage so viel Vorteil als möglich zu ziehen suchte, „etwa weil wir euch heut abend in unserer Nähe spürten und uns nach kurzer Beratschlagung aufmachten, euch unsere Hülfe und Arme anzubieten? - Ich dachte allerdings nicht, daß ihr so zahlreich wäret“, setzte er dann langsamer hinzu, indem sein Blick rasch die ihn umgebende Schar, vierzehn oder fünfzehn drohende Gestalten, überflog, „aber wenn ihr uns nicht braucht, ist damit nicht gesagt, daß wir den Tod verdient hätten.“

„Der Teufel traue dir nur, Compañero“, lachte der Anführer der Mashorqueros, „doch ich will sehen, inwieweit du wenigstens jetzt aufrichtig bist; so beantworte vor allen Dingen meine Fragen kurz und treu, wir haben weder Zeit noch Lust, Ausweichungen oder Unbestimmtes zu hören - also: Haben die Flüchtlinge Feuergewehr und sind sie gut bewaffnet?“

„So ziemlich“, erwiderte Felipe, der nicht den mindesten Grund sah, irgend etwas geheimzuhalten, dem gefährlichen Burschen die Sache aber auch nicht wollte zu schwierig erscheinen lassen, um ihn bei guter Laune zu erhalten, „ihre Waffen sind wohl gut, aber ich glaube kaum, daß irgendeiner von ihnen, den jungen Engländer ausgenommen, ordentlich verstehen wird, damit umzugehen. Don José, weiß ich gewiß, kann kaum seine Pistolen wieder laden, wenn er sie erst einmal abgeschossen.“

„Wo haben sie ihre Gewehre?“ fragte der Gaucho zurück.

„Neben sich auf der Erde liegen“, sagte Felipe.

„Und ist es nicht möglich, die unschädlich zu machen?“

„Unschädlich?“ brummte der Peon, „der junge Cringo 3) schläft mit einem Auge offen, und seine Pistolen hat er gespannt in der Hand - ich bin fest überzeugt, er selber hält jetzt schon, sollten sie uns vermißt haben, Wache, und kein Fuchs könnte sich ungesehen hin zur Hütte schleichen.“

„Gut“, sagte der Henker nach kurzer Pause und Überlegung, „ich will euch beiden Gelegenheit geben zu beweisen, daß ihr mir, als wir euch überraschten, die Wahrheit gesagt habt und es redlich mit uns und der Federacion meint. Einer von euch, und dazu wird der Älteste am besten passen - kehrt augenblicklich, als ob nicht das geringste vorgefallen wäre, in die Hütte zurück - eine Ausrede habt ihr bald. - Ihr glaubtet, irgendwo etwas gehört zu haben, und waret rekognoszieren gegangen. - Du legst dich zum Schlafen nieder, als ob alles sicher sei, und bemächtigst dich, wenn die Fremden wieder schlafen, der Gewehre und des Pulvers. Ist es möglich, so wird es am besten sein, dem Engländer vor allen Dingen den Schädel einzuschlagen - es wäre für dich dann auch die Gefahr beim Entfliehen mit den Waffen nicht halb so groß, und nachher haben wir leichte Arbeit.“

„Und das würde lohnen?“ frug der alte Peon lauernd.

„Ah, du verlangst auch noch Lohn, außer dem Geschenk deiner eigenen Kehle!“ lachte der Henker. „Du bist unverschämt, alter Bursche; aber es sei. - Machst du die Burschen unschädlich, so sollt ihr beide euren Anteil von dem, was wir bei ihnen als Beute finden, haben, aber jetzt auch rasch, denn der dämmernde Morgen muß uns, nach vollbrachtem Geschäft, auf dem Heimweg sehen.“

„Gut“, sagte der alte Peon, mit der Hand nachdenkend sein Kinn streichend, „dann darf ich aber nicht gehen, sondern Pedro da, mein Compañero, muß zur Hütte zurückkehren. Ich war gerade ausgerückt, um ihn von seiner Wache abzulösen, und käme ich statt seiner wieder, so schöpften die Fremden augenblicklich Verdacht.“

„So laß uns beide gehen“, meinte Pedro rasch, „unter irgendeiner Ausrede -“

„Danke, danke“, unterbrach ihn aber der Henker lachend, „einen von euch wollen wir doch lieber als Geisel zurückbehalten - nicht etwa, daß ich glaubte, der andere würde sich viel daraus machen, ihn im Stiche zu lassen, aber er wäre verloren, wenn er uns verriete, und wir rückten dann mit seinem Kameraden an der Spitze vor - überdies möchte ich den Feind nicht unnützerweise mehr verstärken, als unumgänglich nötig ist. So, meinetwegen magst du gehen, Amigo, du bist auch wohl rascher und gewandter als der Alte da, und find ich dich noch zwei Minuten später hier, den zottigen Schädel kratzend, so schneide ich dir Nase und Ohren ab und schicke dich zur Abkühlung in den Tucunjado hinunter - marsch fort - eine halbe Minute ist schon vorbei.“

Der arme Teufel von Peon zweifelte nicht im mindesten, daß der Mashorquero Ernst machen würde, denn schlimmere Taten hatten diese entsetzlichen Menschen oft nur zum Spaß und aus reinem Mutwillen verübt; - würden sie deshalb hier gezaudert haben, wo es wirklich der Ausführung eines wichtigen Planes galt? Pedro kannte auch seine Leute, und nur noch mit wenigen Worten dem Führer Vorsicht empfehlend, nicht eher loszubrechen, bis er selber entweder zurück sei oder ein Schuß in der Punta del Vaca ihnen sage, er sei genötigt gewesen, auf diese Art sich Luft zu verschaffen, glitt er, sein Messer, das man ihm zurückgab, wieder in den Gürtel schiebend, um die nächste Felsecke und war bald in dem Dämmerlicht, das wie ein dünner Nebel auf dem glitzernden Schnee lag, verschwunden.




1) Man behauptet, daß er während seiner Regierung weit über 5000 Menschen habe hinrichten lassen
2) Charque: getrocknetes Fleisch
3) Verächtlicher Name für: Fremde.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Flucht über die Kordilleren