Die Flaschenpost

Autor: Poe, Edgar Allan (1809-1849), Erscheinungsjahr: 1833
Themenbereiche
Qui n'a plus qu'un moment a vivre,
N'a plus rien à dissimuler.

Quinault, „Atys“

Von meiner Heimat und meiner Familie kann ich nur wenig sagen. Schlechte Behandlung und der Lauf der Zeit haben mich sowohl der einen wie der anderen entfremdet. Mein ererbter Reichtum ermöglichte mir ungewöhnlich ausgedehnte Studien, und eine beschauliche Gemütsart ließ mich die reichlich gesammelten Wissensvorräte in meinem Geiste methodisch ordnen. Vor allem gewährten mir die Werke der deutschen Philosophen einen hohen Genuß; nicht etwa, weil ich ihre so beredt vorgebrachten Irrlehren bewunderte, im Gegenteil, weil ich, dank meiner geschulten analytischen Fähigkeiten, mit Leichtigkeit ihre Irrtümer entdeckte. Man hat mir sehr oft die Unfruchtbarkeit und Trockenheit meines Geistes vorgeworfen: als Verbrechen geradezu legte man mir den Mangel an Einbildungskraft aus; auch war ich von jeher wegen meines Skeptizismus bekannt – und in der Tat hatte mich auch eine starke Neigung zum Materialismus mit dem Hauptirrtum unseres Zeitalters angekränkelt – ich meine, mit der Gewohnheit, alle nur möglichen Begebenheiten in Beziehung zu den Prinzipien der materialistischen Philosophie zu bringen; selbst die ihrem Gebiete fernstliegenden! Im allgemeinen war jedenfalls niemand weniger als ich geeignet, sich durch die Irrlichter des Aberglaubens von den strengen Rechtssprüchen der Wahrheit wegführen zu lassen.

Ich hielt es für angemessen, diese Vorrede vorauszuschicken, damit man den unglaublichen Bericht, den ich niederschreiben will, nicht etwa für die Vorspiegelungen unverdauter Ideen, sondern für die positive Erfahrung eines Geistes nehmen möge, für den die Träumereien der Phantasie stets gänzlich ohne Interesse und hohles Nichts gewesen sind.

Nachdem ich schon mehrere Jahre auf weiten Reisen zugebracht hatte, schiffte ich mich im Jahre 18... im Hafen von Batavia, der Hauptstadt der reichen, bevölkerten Insel Java, zu einer Fahrt nach dem Archipel der Sunda–Inseln ein. Ich reiste, weil mich eine gewisse nervöse Rastlosigkeit, die mich wie mein böser Geist verfolgte, dazu antrieb.

Unser Fahrzeug, ein schönes Schiff, das ungefähr vierhundert Tonnen hielt, war mit Kupfer bekleidet und in Bombay aus Teakholz gebaut worden. Es hatte Baumwolle, Wolle und Öl geladen. Außerdem hatten wir noch Kokosbast, Kokosnüsse, Palmenzucker, Butteröl und einige Büchsen Opium an Bord. Man hatte die Waren sehr unordentlich gestaut, so daß das Schiff ein wenig auf der Seite lag.

Bei ganz leichtem Winde gingen wir unter Segel und glitten mehrere Tage lang die östliche Küste Javas entlang, ohne daß ein anderes Ereignis die Einförmigkeit unserer Fahrt unterbrach, als das gelegentliche Zusammentreffen mit einem der kleinen Grabs, die aus dem Archipel kamen, auf den wir zusegelten.

Als ich mich eines Abends über das Gitter am Hinterteil des Schiffes lehnte, bemerkte ich gegen Nordwesten eine sonderbare einzelne Wolke. Sie mußte mir auffallen, denn sie war die erste, die ich seit der Abreise von Batavia gesehen, und dazu von seltsamer Farbe. Ich betrachtete sie sorgfältig, bis sie sich bei Sonnenuntergang über den ganzen Osten und Westen verbreitete und den Horizont mit einem deutlichen Dunstgürtel umgrenzte, der wie ein sehr niedriger, langer Küstenstreifen erschien. Bald darauf erregte der düsterrote Glanz des Mondes und das absonderliche Aussehen des Meeres meine Aufmerksamkeit. Eine plötzliche Veränderung schien mit dem Wasser vor sich zu gehen: es wurde ganz ungewöhnlich durchsichtig. Obgleich ich den Boden deutlich erkennen konnte, wies das Senkblei fünfzehn Faden Tiefe. Die Luft wurde unerträglich heiß und hauchte uns an wie der Atem glühenden Eisens. Als die Nacht kam, starb der letzte kleine Luftzug dahin, und die tiefste Totenstille trat ein. Auf dem Hinterteil des Schiffes brannte eine Kerze, ohne daß ihre Flamme die allergeringste Bewegung verriet, und ein Haar, das ich zwischen Zeigefinger und Daumen hielt, hing so ruhig, daß ich nicht die geringste Schwingung an ihm bemerken konnte. Da der Kapitän jedoch nirgendwo ein Anzeichen von Gefahr wahrnahm, ließ er die Segel einziehen und Anker werfen. Es wurde keine Wache ausgestellt, und die Mannschaft, die hauptsächlich aus Malayen bestand, streckte sich gemächlich auf Deck aus. Ich stieg in meine Kabine hinab – eine Ahnung kommenden Unheils folgte mir. Alle die Anzeichen, von denen ich gesprochen, ließen mich einen Samum befürchten. Ich teilte dem Kapitän meine Besorgnis mit, er schenkte meinen Worten jedoch keine Aufmerksamkeit und verließ mich, ohne dieselben einer Beantwortung zu würdigen. Meine Unruhe ließ mich nicht schlafen, und um Mitternacht stieg ich wieder auf Deck. Als ich meinen Fuß auf die oberste Stufe der Kajütentreppe setzte, erschreckte mich ein dumpfes, tiefes Summen, wie es die rasche Umdrehung eines Mühlrades wohl hervorbringt, und ehe ich mir noch über die Ursache und die Bedeutung des Geräusches klar werden konnte, fühlte ich, wie das Schiff bis in seinen Mittelpunkt erbebte. Im nächsten Augenblick warf uns eine wilde, schäumende Welle auf die Seite und überschwemmte das ganze Deck. Aber gerade die plötzliche Wut des Sturmes war es wohl, die das Schiff rettete. Obgleich es sofort ganz mit Wasser gefüllt und seine Masten über Bord gegangen waren, erhob es sich, nach einer Minute etwa, schwerfällig wieder, schwankte ein paar Augenblicke unter dem starken Druck des Sturmes auf und ab und erhob sich dann vollends.

Es ist mir unmöglich, festzustellen, welches Wunder mich von dem Tode errettete. Der Anprall des Wassers hatte mich bewußtlos gemacht, und als ich wieder zu mir kam, fand ich mich zwischen dem Hintersteven und dem Steuer eingeklemmt. Mit vieler Mühe stellte ich mich auf meine Füße, blickte schwindelig umher und glaubte, wir seien in eine Brandung geraten; so über alle Vorstellung schrecklich war der ungeheuere schäumende Wirrwarr um uns. Nach einer Weile vernahm ich die Stimme eines Schweden, der sich im letzten Augenblick, als wir den Hafen schon verließen, noch mit eingeschifft hatte. Ich rief ihn aus Leibeskräften an, und er kam denn auch sogleich schwankend auf mich zu. Wir entdeckten bald, daß wir als die einzigen den fürchterlichen Stoß überlebt hatten. Alle anderen waren über Bord gerissen oder wie der Kapitän und die Matrosen im Schlaf vom Tode überrascht worden, denn die Kajüten standen voll Wasser. Ohne weitere Hilfe konnten wir nun sehr wenig für unsere und des Schiffes Sicherheit tun, und außerdem waren unsere Kräfte durch die Furcht, jeden Augenblick untergehen zu können, vollständig gelähmt. Das Ankertau war beim ersten Windstoß wie ein Bindfaden zerrissen, sonst wäre das Schiff wohl im selben Augenblick zugrunde gegangen. Wir schossen nun mit schaudererregender Schnelligkeit vor den Wellen dahin; das Wasser bildete furchtbare Breschen um uns herum. Das Holzwerk auf dem Hinterdeck war vollständig weggerissen worden und auch sonst hatten das Schiff bedenklich Schaden erlitten. Zu unserer größten Freude jedoch fanden wir, daß die Pumpen funktionierten und sich unser Ballast nicht allzusehr verschoben hatte. Der schlimmste Sturm war vorüber, und wir hatten jetzt vom Winde nur noch wenig zu befürchten. Doch sahen wir mit Entsetzen dem Augenblick entgegen, da er vollständig aufhören werde, denn wir mußten annehmen, daß unser beschädigtes Schiff den wilden Wogengang, der mit Sicherheit folgen würde, nicht aushalten könne. Doch schien sich diese Befürchtung nicht allzubald zu verwirklichen. Fünf ganze Tage und Nächte lang, während derer wir uns kümmerlich mit ein paar Stücken Palmenzucker, die wir mit großer Mühe von unten heraufgeschafft hatten, ernährten, floh unser Schiffsrumpf mit unberechenbarer Schnelligkeit vor den Windstößen, die, obgleich sie sich an Wut mit dem ersten nicht messen konnten, doch schrecklicher waren, als irgendein Sturm, den ich bis dahin erlebt hatte. Wir glitten die ersten vier Tage mit ganz geringen Abweichungen nach Südsüdost und hätten also an der Küste von Neuholland landen müssen.

Am fünften Tage wurde es außerordentlich kalt, die Sonne ging mit krankhaft gelben Glanze auf und erhob sich nur wenige Grade über den Horizont, ohne ein entschiedenes Licht zu entsenden. Wolken waren nicht zu sehen, doch nahm der Wind beständig zu und blies in wütenden, starken Stößen. Es mochte wohl Mittag sein, als das Aussehen der Sonne von neuem unsere Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie strahlte kein eigentliches Licht aus, sondern brannte in dunkler, trüber Glut, ohne Widerschein, als wären alle ihre Strahlen polarisiert. Kurz bevor sie in den aufschwellenden Ozean versank, ging ihre mittlere Glut vollständig aus, als sei sie von einer unerklärlichen Gewalt gelöscht worden. Als ein leeres, bleiches, silberglänzendes Rad sank sie in die unergründliche See.

Wir warteten sehnsüchtig auf die Ankunft des sechsten Tages – aber dieser Tag kam mir nicht noch meinem Gefährten. Wir blieben von jetzt ab in tiefe Dunkelheit gehüllt; einen Gegenstand, der zwanzig Schritte vom Schiff entfernt war, hätten wir nicht mehr sehen können. Ewige Nacht lag um uns gebreitet, und nicht einmal das Phosphorleuchten des Meeres, an das wir uns in den Tropen gewöhnt hatten, wollte sie matt erhellen. Obgleich der Sturm mit unverminderter Heftigkeit forttobte, bemerkten wir auf den Wellen weder Gischt noch Schaum mehr. Die Welt umher war nur Schrecknis – undurchdringliche Düsterkeit – eine ebenholzschwarze, schwankende Wüste. Alle Gespenster des Aberglaubens umflatterten das Haupt des Schweden, und meine Seele hüllte sich ein in schweigende Verwunderung. Wir sahen von jeder Sorge um das Schiff als unnütz ab, banden uns, so gut es gehen wollte, an den Stumpf des Fockmastes an und blickten, bitterniserfüllt, in die Meereswelt hinaus. Wir konnten weder die Zeit noch den Ort, an dem wir uns befanden, auch nur annähernd bestimmen. Doch wußten wir, daß kein Seefahrer vor uns ebenso weit nach Süden gelangt war, und wunderten uns sehr, daß wir nicht durch die erwarteten Eismassen aufgehalten wurden. Jetzt jedoch konnte jeder Augenblick unser letzter sein – jede der ungeheueren Wellen konnte uns in den Abgrund ziehen. Der Wogengang übertraf an Wildheit alles, was ich bis jetzt erlebt hatte, und es ist wirklich ein Wunder, daß wir nicht beständig unter Wasser begraben waren. Mein Gefährte tröstete mich mit unserer leichten Ladung und dem ausgezeichneten Bau des Schiffes, doch ich empfand nur Hoffnungslosigkeit und dachte angstvoll an den Tod, der, wie ich glaubte, nicht länger als eine Stunde mehr auf sich warten lassen würde. Denn mit jedem Knoten, den das Schiff zurücklegte, wurden die Wogen dieses schwarzen, geheimnisvollen Ozeans erschreckender, wütender. Zuweilen wurden wir höher hinaufgeschleudert als der Albatros fliegt; und der Atem verging uns. Dann wieder schossen wir schwindelnd mit rasender Schnelligkeit in einen Wasserabgrund, in dem die Luft still stand und kein Laut den Schlaf des Kraken störte.

Wir befanden uns gerade wieder einmal am Boden eines solchen Abgrundes, als mein Gefährte in grausiger Angst in die Nacht hinaus schrie: „Sehen Sie! Sehen Sie! Allmächtiger Gott! Sehen Sie!“

Ich bemerkte einen trüben, düsteren Schein roten Lichts, der an den Seiten des ungeheueren Schlundes, in dem wir schwankten, herabströmte und einen Ungewissen Widerschein auf unser Deck warf. Als ich die Augen erhob, sah ich etwas, das mir das Blut in meinen Adern erstarren machte. In schauerlicher Höhe über uns, dicht am Rande der fast senkrechten Wasserwand, schwebte ein ungeheueres Schiff. Obwohl es auf der Spitze einer Welle schwankte, die wohl hundertmal höher war als das Fahrzeug selbst, erkannte ich doch, daß es unendlich größer sein mußte als irgendein Ostindienfahrer. Der riesige Rumpf war tiefschwarz und wies keine der üblichen Verzierungen auf. Eine einfache Reihe eherner Kanonen sah aus den geöffneten Stückpforten hervor und spiegelte auf ihren glänzenden Oberflächen das Licht zahlloser Laternen, die im Takelwerk hin und her schwankten.

Was uns jedoch am meisten entsetzte, war, daß das Fahrzeug auf diesem gespenstischen Meere, bei diesem wüsten Orkane mit entfalteten Segeln dahinglitt. Als wir das Schiff zuerst bemerkten, erhob es sich langsamer aus dem dunklen, gräßlichen Abgrund hinter ihm, so daß wir nur seinen Bug sehen konnten. Einen Augenblick lang – einen Augenblick voll unaussprechlichsten Schrecks – blieb es auf der schwindelnden Höhe still stehen, als berausche es sich an seiner eigenen Majestät, dann begann es zu zittern, zu schwanken und sauste herab!

Ich weiß es nicht, wie es kam, daß in diesem Augenblick eine plötzliche Kaltblütigkeit in mich fuhr. Soweit es mir möglich war, stürzte ich nach vorn, um die Katastrophe, die uns vernichten mußte, zu erwarten. Unser eigenes Schiff schien den Kampf aufgegeben zu haben, und senkte sich mit seinem Vorderteil ins Wasser. Der Aufprall der heruntersausenden Masse traf es also gerade an der Stelle, die schon unter Wasser lag, und das Ende war, daß ich mit unwiderstehlicher Gewalt in das Takelwerk des fremden Schiffes geschleudert wurde.

Als ich fiel, erhob sich das Schiff gerade wieder und stieg in die Höhe. In der Verwirrung, die auf dem Deck herrschte, bemerkte mich niemand von der Mannschaft. Ohne allzu große Mühe gelangte ich an die Hauptluke, die teilweise offen stand, stieg in sie hinein und verbarg mich im Schiffsraum. Warum ich dies tat, weiß ich nicht. Ein unbestimmtes Angstgefühl, das mich beim Anblick der unbekannten Seefahrer ergriffen hatte, trieb mich vielleicht an, mich zu verstecken. Ich wollte mich wohl nicht einer Menschart anvertrauen, an der ich beim ersten flüchtigen Blicke soviel Seltsames, Neues, soviel Furcht- und Zweifelerregendes wahrgenommen hatte. Ich hielt es deshalb für besser, mich im Schiffsraum zu verbergen. Dort rückte ich einen Teil der beweglichen Bretter, welche die Ladung stützten, beiseite, und richtete mir so ein genügend großes Versteck ein.

Ich hatte mein Werk kaum vollendet, als Schritte im Schiffsraum hörbar wurden und ein Mann mit schwachem unbestimmten Tritt an mir vorbeiging. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, doch betrachtete ich seine allgemeine Erscheinung. Er war augenscheinlich schon hochbejahrt und gebrechlich. Seine Knie wankten von der Last der Jahre, sein ganzes Wesen schien unter ihr zu zittern. Er redete mit sich selbst, murmelte leise und gebrochen Worte einer Sprache, die ich nicht verstehen konnte, und kramte in einem Winkel herum, in dem allerlei sonderbar aussehende Instrumente und zerfetzte Seefahrerkarten lagen. Sein ganzes Wesen war eine Mischung der üblen Laune zweiter Kindheit und der feierlichen Würde eines Gottes. Er ging alsbald wieder an Deck zurück. Und ich sah ihn nicht wieder.

Ein Gefühl, für das ich keinen Namen finde, hat von meiner Seele Besitz ergriffen – eine Empfindung, die keine Analyse zuläßt, und zu der ich in meinem vergangenen Leben keine Parallele finde, zu deren Erkenntnis mir, wie ich fürchte, auch die Zukunft keinen Schlüssel geben wird. Für einen Geist wie den meinigen ist diese letztere Überzeugung eine wahre Todesqual. Ich werde nie – ich weiß, ich werde nie – über das Wesen dieser Empfindungen belehrt werden. Und doch ist es nicht zu verwundern, daß diese Ideen ganz unbestimmbar sind, weil sie so ganz neuen Quellen entspringen. Eine neue Empfindung – eine neue Wesenheit ist in meiner Seele erwachsen.

Es ist schon lange Zeit verflossen, seit ich das Deck dieses fürchterlichen Schiffes zuerst betrat, und die Strahlen meines Schicksals sammeln sich zu einem Brennpunkte. Unbegreifliche Menschen! In Betrachtung versunken, die ich nicht erraten kann, gehen sie an mir vorbei, ohne mich zu bemerken. Es ist äußerste Torheit von mir, daß ich mich verberge, denn die Leute wollen nichts sehen. Eben jetzt ging ich dicht vor den Augen des Steuermanns vorüber; kurz vorher hatte ich mich in die Privatkajüte des Kapitäns gewagt und mir alles, was ich zum Schreiben nötig hatte, geholt. Ich werde diese Aufzeichnungen von Zeit zu Zeit vervollkommnen, wenn ich auch wahrscheinlich nie Gelegenheit haben werde, sie der Welt mitzuteilen; doch will ich es immerhin versuchen und das Manuskript im Notfall in einer Flasche verschließen und diese dem Meere übergeben.

Es hat sich neuerdings ein Ereignis zugetragen, das mir nachzudenken gibt. Sind dergleichen Dinge bloß Werke des unlenkbaren Zufalls –? Ich hatte mich aufs Deck hinaufgewagt und, ohne bemerkt zu werden, auf einen Haufen alter Segel niedergeworfen. Während ich über mein seltsames Geschick nachgrübelte, strich ich in Gedanken mit einer Teerbürste über den Rand eines Beisegels, das sorgfältig gefaltet auf einer Tonne neben mir lag. Dieses Segel ist jetzt aufgezogen worden, und die ganz unbewußt gemachten Bürstenstriche bilden das Wort Entdeckung.

Ich haben neuerdings verschiedene Beobachtungen über die Bauart des Schiffes gemacht. Obgleich mit Waffen wohl ausgerüstet, scheint es doch kein Kriegsschiff zu sein. Sein Takelwerk, seine Konstruktion, seine sonstige Ausstattung sprechen gegen eine solche Annahme. Was es nicht ist, weiß ich also genau, doch fürchte ich, daß es mir stets unmöglich bleiben wird zu sagen, was es ist. Ich weiß nicht, wie es geschieht – stets, wenn ich seinen seltsamen Bau betrachte, die sonderbare Gestalt seiner Mastbäume, seine riesigen Verhältnisse, die übergroße Zahl der Segel, seinen streng geformten einfachen Bug, das altmodische Achterschiff – dann erscheint es mir, als durchblitze eine Erinnerung an nicht unvertraute Dinge meine Seele, als überglänze diese schwankenden Schatten ein unerklärliches Gedenken an alte, seltsame Legenden und langversunkene Zeiten.

Ich habe die Zimmerarbeit des Schiffes untersucht. Sie ist aus mir unbekannten Materialien hergestellt. Das Holz hat eine Eigentümlichkeit, die es eigentlich für den Zweck, dem es dienen soll, ganz ungeeignet erscheinen läßt. Ich meine seine außerordentliche Porösität, die von der Wurmstichigkeit, die das Meerwasser oft zur Folge hat, und von dem natürlichen Verfall durch Alter ganz verschieden ist. Vielleicht findet man diese Bemerkung ein wenig spitzfindig, doch scheint es mir, als habe das Holz alle Eigenschaften der spanischen Korkeiche, vorausgesetzt, daß man deren Holz durch künstliche Mittel ausdehnen könnte.

Als ich die obenstehenden Sätze noch einmal überlas, kam mir der seltsame Kernspruch einer alten holländischen Teerjacke wieder ins Gedächtnis: „Das ist so gewiß wahr“, pflegte er zu sagen, wenn man irgendeinen Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit laut werden ließ, „wie es ein Meer, gibt, in dem das Schiff von selber wächst; gerade wie ein Mensch!“

Vor einer Stunde war ich kühn genug, mich unter eine Gruppe von Leuten der Mannschaft zu mischen. Sie schienen mich wieder nicht zu bemerken; denn obwohl ich mich gerade in ihrer Mitte hielt, nahmen sie keine Notiz von meiner Anwesenheit. Wie der Mann, den ich zuerst im Schiffsraum gesehen, trugen auch sie alle Merkmale grauen Alters. Ihre Knie schlotterten vor Schwäche, auf ihren Schultern lagerte der Verfall, ihre verschrumpfte Haut wurde im Winde von Schaudern überlaufen, ihre Stimme klang leise, zitternd und gebrochen, in ihren Augen standen die Tränen der Greisenhaftigkeit, und ihre grauen Haare flatterten unheimlich im Sturme. Um sie her, auf dem ganzen Deck verstreut, lagen sonderbare, längst veraltete mathematische Instrumente.

Ich habe oben von einem Beisegel gesprochen, das man neu angebracht hatte. Von jenem Augenblick an sauste das Schiff mit allen Segeln auf seiner schrecklichen Bahn nach Süden weiter und stürzte sich jeden Augenblick in Wasserschlünde, die wüster waren, als das Hirn des Menschen sie sich ausdenken kann. Ich habe das Deck verlassen müssen, da ich mich dort nicht mehr halten konnte, obwohl die Mannschaft nur sehr wenig Unbequemlichkeit zu verspüren scheint. Es bleibt mir ein unlösliches Rätsel, daß das ungeheuere Fahrzeug nicht jeden Augenblick zugrunde geht. Wir sind wohl verdammt, ewig um den Rand der Ewigkeit kreisen zu müssen, ohne in ihren Abgrund hineinzustürzen. In sausendem Fluge gleiten wir wie die Meerschwalben über Wellen dahin, die entsetzlicher sind als alles, was ich je gesehen. Wie Teufel des Abgrunds erheben ungeheuere Wogen ihre Häupter über uns – wie Teufel, die nur drohen, ach! nicht vernichten dürfen!

Nur ein einziger einigermaßen natürlicher Grund kann mir erklären, daß wir in all diesen Schrecken erhalten bleiben: Ich muß annehmen, daß das Schiff von irgendeiner starken, oberen oder unteren Strömung mit fortgerissen wird.

Ich habe den Kapitän in seiner eigenen Kajüte von Angesicht zu Angesicht gesehen – er jedoch bemerkte mich, wie ich erwartet, durchaus nicht. Obgleich der flüchtige Beobachter an seinem Äußeren nichts findet, das ihn als etwas Höheres oder Geringeres wie einen Menschen erscheinen läßt, mußte ich ihn mit unbezwinglicher Ehrfurcht, mit Angst und Verwunderung anschauen. Er ist ungefähr von meiner Größe, das heißt: etwa fünf Fuß acht Zoll hoch. Dabei fest und wohlgestaltet. Und doch ist seine Erscheinung weder durch besondere Kraft noch durch irgend etwas anderes bemerkenswert. Aber der seltsame Ausdruck seiner Züge – er war wie die wunderbare, starke, unbegreiflich gewaltige Offenbarung hohen Alters – erregte in mir eine unauslöschliche, unvergeßliche Empfindung. Seiner Stirn scheint, obschon sie nur leicht gefurcht ist, das Siegel von Myriaden von Jahren aufgedrückt zu sein – sein Haar hat das Grau unermeßlicher Vergangenheit – seine noch graueren Augen sind wie Sibyllen, die in die Zukunft schauen.

Auf dem Boden seiner Kajüte lagen sonderbare, eisenbeschlagene Bände, vermorschende wissenschaftliche Instrumente und veraltete, lang vergessene Karten umher. Sein Haupt ruhte in seiner Hand, und mit heißem, unruhigem Auge grübelte er über ein Schriftstück nach, das ich für eine Urkunde hielt und das das Siegel eines Herrschers trug. Er murmelte – wie es der erste Mann, den ich an Bord gesehen, tat – mit leiser, verdüsterter Stimme einige Worte in einer fremden Sprache vor sich hin; und obgleich ich dicht neben ihm stand, tönten die Laute wie aus meilenweiter Ferne an mein Ohr.

Das Schiff und alles, was es enthält, tönt von längst vergangenen Zeiten. Die Leute der Mannschaft wandeln hin und her wie die Geister begrabener Jahrhunderte; in ihren Augen lebt ein heißer, unruhiger Gedanke, und wenn in dem seltsamen Glühen der Laternen die Schatten ihrer Gestalten über meinen Weg fallen, überläuft mich ein Gefühl, das ich nie gekannt, obgleich ich stets das Altertum geliebt und mich im Schatten der gestürzten Säulen von Balbek, von Tadmor und Persepolis so oft ergangen habe, daß meine eigene Seele davon zur Ruine geworden.

Wenn ich um mich schaue, schäme ich mich meiner ersten Befürchtungen. Wenn mich der Sturm, der uns bis jetzt einhertrieb, schon erzittern ließ, so müßte mich dieser Kampf der Luftgewalten mit dem Ozean, von der die kargen Worte Orkan und Wirbelwind gar keine Vorstellung machen, mit Entsetzen schlagen. Die Finsternis der ewigen Nacht lagert über dem Schiff und dem wüsten Chaos schwarzen Wassers, das nicht schäumt; und doch können wir an jeder Seite, unbestimmt und eine Meile entfernt, schwindelnd hohe Eiswälle sehen, die sich wie die Grenzmauern der Welt bis in den trostlosen Himmel hinein auftürmen!

Wie ich gedacht, schießt das Schiff offenbar in einem Strome dahin, wenn man die Flut so nennen will, die an dem weißen Eise heulend und kreischend, mit der rasenden Schnelligkeit eines vom Felsen stürzenden Wasserfalles dem Süden zudonnert.

Es ist unmöglich, sich mein Entsetzen vorzustellen. Und doch überwiegt die Neugierde, die Geheimnisse dieser furchtbaren Regionen zu ergründen, noch meine Verzweiflung und ist stark genug, mich mit dem schauerlichen Anblick des Todes zu versöhnen. Es ist klar, daß wir irgendeiner furchtbaren Entdeckung zueilen – einem unmittelbaren Geheimnis, dessen Offenbarung den Untergang bringen muß. Vielleicht reißt uns der Strom zum Südpol selbst? Diese seltsam klingende Mutmaßung hat Wahrscheinlichkeit für sich.

Die Mannschaft geht zitternden, unruhigen Schrittes auf Deck hin und her; und doch liegt auf allen Gesichtern ein Ausdruck, der mehr von der Glut der Hoffnung als von der Erstarrung der Verzweiflung zu kommen scheint.

Wir fliehen noch immer vor dem Winde, und da das Schiff alle Segel entfaltet hat, werden wir manchmal hoch über das Wasser in die Luft getragen! O Grauen über Grauen! Die Eismauern öffnen sich plötzlich zur Rechten und zur Linken, und wir wirbeln pfeilgeschwind in ungeheueren konzentrischen Kreisen rund um ein riesenhaftes Amphitheater, dessen Gipfel sich in der Finsternis des Raumes verliert. Es bleibt mir nur wenig Zeit, an mein Schicksal zu denken. Die Kreise verengen sich mit reißender Schnelle – wir geraten in den Schlund des Strudels – und unter dem Brüllen, Bellen, Donnern des Ozeans und des Sturmes – geht ein Schauder durch das Schiff – und o Gott! – es – schießt – hinab ...

Edgar Allan Poe

Edgar Allan Poe