Staatsetat und Staatsschuld

Unsere Etats schließen in der Regel glänzend ab; so übertrafen die Einkünfte die Etatposten 1894 um 14,83%, 1896 um 10,43%, 1898 um 10,15%, 1900 um 6,92%. Diese Tatsache ist auf die vom Finanzminister gemachte Aufstellung des Etats zurückzuführen: die Etatposten werden bei uns stets geringer angegeben, als sie tatsächlich sind, so dass die Einkünfte dieselben natürlich übertreffen müssen. Auf das Fehlerhafte dieses Verfahrens ist bereits vom Staatsrat hingewiesen worden. Zwar sichert uns dies vor Defiziten, aber wir haben zurzeit der Etataufstellung niemals Gelder zur Disposition; daher müssen notwendige Ausgaben immer wieder verschoben werden, und die Ministerien werden stets zu äußerster Sparsamkeit ermahnt. Die Überschüsse, die aus den Einkünften im Vergleich zu den künstlich niedriger veranschlagten Ausgaben hervorgehen sollen, bilden das „freie Dispositionskapital“ der Staatskasse. Auf der andern Seite werden als Betriebskapital die Reste der ausländischen Anleihen verbraucht; solche Anleihen müssen wir aber, wie ich bereits vorher erwähnte, machen, um aus den früher angegebenen Gründen die Goldvorräte zu sichern und den Eisenbahnbau zu heben.

Russlands Staatsschuld betrug gegen Ende des Jahres 1903: 6.651 Millionen Rubel. Wir erkennen die Wichtigkeit des Staatskredits für uns an, und bis jetzt ist Russland auch pünktlich seinen Verpflichtungen nachgekommen.


Russland sieht sich als ein junges Land genötigt, Kredit zu suchen, Eisenbahnen zu bauen und fremde Kapitalien heranzuziehen. Seinen Kreditverpflichtungen ist Russland allerdings stets nachgekommen, wenn auch die Symptome drohender Natur sich mehren: so ist der Boden an vielen Punkten erschöpft, Wälder sind ausgetilgt, Fischereien versiegen *), hie und da erweitern sich gewaltig die Schluchten infolge der Entwaldung, Flußbetten verflachen und ganze Landstrecken versanden. Das Landwirtschaftsministerium entrollt in seinem Berichte ein düsteres Bild über die erwähnten Schluchten, wonach Russland einer Fabrik gleicht, deren Fundament vom Wasser unterwühlt wird. Dennoch fährt Russland fort, den ausländischen Gläubigern hohe Dividenden zu zahlen, und sie brauchen nicht zu fürchten, dass sie ihr Geld in russischen Papieren angelegt haben. Denn Russland bedarf ihrer und muss pünktlich sein. Um die Gläubiger sicher zu stellen, ist durch den Erlaß von 1898 die Auszahlung in Gold vorgeschrieben worden.

*) So z. B. ist seit 1885 der Fang des Wolga-Herings stark zurückgegangen. 1885 betrug er 328.200.000 Stück, von da ab fällt er allmählich und beträgt 1902 nur 100 Millionen. Es gab Jahre, wo der Fang noch geringer war, so betrug er z. B. im Jahre 1898 nur 58.300.000 Stück. Daher kommt der ungeheure Preisaufschlag auf diesen Fisch, von 10 — 11 Rubel pro Tausend im Jahre 1885 bis auf 71 Rubel im Jahre 1899, so dass dieses Volksnahrungsmittel nunmehr ein nur den wohlhabenden Klassen zugängliches Produkt geworden ist. Das gleiche fand auch mit einem andern billigen Fische statt, mit dem Wobla, so dass jetzt in den Zentralgouvernements ein Stück 5 — 10 Kopeken kostet, was der arme Bauer nicht erschwingen kann. (Der Fischfang im Kaspischen Meere und in der V/olga und seine ökonomische Bedeutung von N. Borodin, herausgegeben von dem Departement der Agrikultur, Petersburg 1903.)

Neuerdings sind bei uns große Konversionen vorgenommen worden. Eine der größten Operationen war die Konversion von 1894 auf die Summe von über einer Milliarde Rubel. Seitdem ist das mit 4% verzinste Staatspapier für Russland typisch. Zum Schluss einige Bemerkungen über unsern Etat von 1905.

Für 1905 ist unser Budget mit 1994,6 Millionen Rubel angegeben, wobei 14,8 Millionen aus dem Fond der Staatskasse gedeckt werden müssen. Die für den Krieg erforderlichen Gelder sind zwar in dieser Summe nicht enthalten, aber nach der Meinung des Finanzministers sind sie, auch wenn der Feldzug sich über das ganze Jahr 1905 ausdehnen sollte, teils bereits vorhanden, teils ohne Schwierigkeiten zu beschaffen.

14,8 Millionen aufzutreiben, um das Budget zu begleichen, ist natürlich höchst einfach, um so mehr, als die einzelnen Etatposten wie gewöhnlich zu gering veranschlagt sind. So sind die Zolleinkünfte mit 205 Millionen Rubel angegeben, d. h. um 23,5 Millionen weniger als 1904, und um 36,5 Millionen geringer als 1903. Ebenso sind auch die andern Etatposten zu niedrig veranschlagt worden. Das Finanzministerium sagt darüber: „eine besondere Vorsicht bei der Aufstellung des Etats ist unbedingt notwendig, da man die Einwirkungen des Krieges auf das ökonomische Leben noch nicht voraus zu beurteilen vermag und sich in der gegenwärtigen Lage leicht in seinen Berechnungen irren kami.“

Freilich macht es uns der Krieg unmöglich, uns über die Etataufstellungen kategorisch zu äußern; aber 1903 veranschlagte das Zolldepartement seine Einkünfte auf 214,6 Millionen Rubel, das Departement der Staatsökonomie erhöhte dieses auf 218,6 Millionen, und es kamen 241,4 Millionen Rubel ein. Das Departement der Staatsökonomie, das die Richtigkeit dieser Voranschläge bestritten hatte, fand, dass „die Berechnungen des Finanzministeriums in Bezug auf die Zolleinkünfte sich zu sehr auf allgemeine Erwägungen stützten“. Das Departement erklärte noch 1901, dass diese Art Etatberechnungen zu Missverständnissen mit der Kontrollabteilung Veranlassung geben, und verlangte ausführliche Berichte über die einzelnen Warengruppen, die sich auf statistische Berechnungen gründen sollten. Dieser Wunsch blieb unerfüllt, und das erläuternde Memorandum zum Voranschlag von 1903 wurde in althergebrachter Weise gemacht; wiederum wurde der Durchschnitt der drei letzten Jahre der Berechnung zugrunde gelegt. „Es ist zu bemerken, dass diese Art des Voranschlages nach den Regeln des Etats nur auf zufällige Einnahmen Anwendung finden kann, nicht aber auf solch große, wie die Zolleinkünfte. Eher wäre schon ein solches Verfahren für andre Einkünfte als die aus Steuern oder Zöllen stammenden anzuwenden, da in diesen Fällen das Gesetz die Höhe der Einnahme festsetzen kann. Wo aber die Einnahme von veränderlichen Umständen abhängt, müssen die wirklichen Einkünfte des dem Etat vorangegangenen Jahres mit Berücksichtigung des Steigens und Fallens der Einnahmen während der letzten fünf Jahre als Grundlage dienen. Bei der Anwendung dieses Verfahrens ist jedoch in Betracht zu ziehen, dass 1900 die Zollsätze auf wichtige, viel gebrauchte Produkte stark erhöht worden waren, weshalb die Zollsätze seither um 8 Millionen Rubel im Durchschnitt gestiegen sind. Unter dieser Ergänzung hätte das Ministerium die Ziffer der Zolleinnahmen höher veranschlagen müssen.“ (Bericht des Staatsrates für 1902 und 1903, Petersburg 1904, Bd. I, S. 451.)

In dem alleruntertänigsten Berichte finden wir die Versicherung, dass in der Finanzwirtschaft alles in bester Ordnung sei. So hat sich der Goldvorrat (d. h. das Gold in der Reichsbank, im Staatsschatz und im Volksverkehr) um 82,3 Millionen Rubel vergrößert. Es darf aber nicht vergessen werden, dass wir 1904 eine auswärtige Anleihe gemacht haben, die 282 Millionen brachte, dann überstieg unser Import den Export um 300 Millionen; folglich brachten wir nach Russland 582 Millionen Rubel in Gold herein, wovon 82 zurückgeblieben, während 500 verschwunden sind. Diese Tatsache ist nicht sehr tröstlich, denn immer werden wir gezwungen sein, Gold in großen Massen herüberzuziehen, wenn wir nur einen ganz kleinen Vorrat davon im Lande haben wollen.

Zudem müssen wir gegenwärtig Anleihen unter ungünstigen Bedingungen abschließen; so wurde die letzte Anleihe mit 4%% mit der Nettozugrundelegung von 90,5 bis 91, d. h. fast mit 5% realisiert. Diejenigen, welche die Papiere halten, haben das Recht, nach einer Reihe von 5 bis 6 Jahren ihr Geld zurückzufordern und 100 für 90,5 bis 91 Rubel zu erhalten, d. h. eine einmalige Prämie von 9 Rubel zu bekommen. Folglich betragen die wirklichen Zinsen 6,5%. Das Finanzministerium vertröstet in seinem Berichte damit, „dass kein einziger Staat in der Lage sei, während eines Krieges die Verschlechterung seiner Finanzen zu vermeiden“. Ja, dies ist richtig; die Staatspapiere standen 1904 99,5, im April 88 ¼. Anfang Februar 1905 standen sie in London 90 ¾, am 9. Februar 89,5. Die japanischen 5%igen Anleihen dagegen notierten im März 1904 in London 75 ¾, im Februar 1905 100 ¾.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Finanzpolitik
Das heutige Russland

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