Erneuerung der veralteten Finanzformen

Aus allen unseren Betrachtungen geht also hervor, wie sehr wir gezwungen sind, für die Erneuerung der veralteten Finanzformen Sorge zu tragen. Für die Anleihen von 1904 und für die eventl. Anleihen von 1905, falls der Krieg sich noch weiter in die Länge zieht, werden wir nach der Berechnung Prof. Migulins allein 57 Millionen Rubel an jährlichen Zinsen zu zahlen haben; so werden unsere kulturellen Bedürfnisse nur in äußerst beschränktem Maße befriedigt und immer weniger berücksichtigt werden können. Dann kommt die Erneuerung der Flotte usw., usw. Wir werden also nach neuen Einnahmequellen trachten müssen. Hierfür kommt aber die Einkommensteuer in erster Linie in Betracht. Freilich, um diese einzuführen, muss unsere ganze Rechtslage umgeschaffen werden: dazu ist notwendig die Teilnahme der Bevölkerung an der Beratung des Budgets, an der Kontrolle der Verausgabung dieser Summen usw. Ohne diese werden die Steuerzahler ihre Einkünfte verheimlichen und ihre Erklärungen zu fälschen suchen. Wir müssen das Volk zum Bewußstein der Steuerpflicht erziehen, was aber erst durch eine völlige innere Umgestaltung zu erreichen ist.

So lange die Bevölkerung kein Recht auf die Kontrolle des Budgets hat, kann dieses in der Hauptsache nur durch Konsumsteuern gedeckt werden, welche in ihrer indirekten Belastung allerdings das Volk zu Selbstbewußtsein zu erziehen nicht imstande sind.


Die Entwicklung des industriellen Lebens sucht auch der Gewerbesteuer den Charakter einer Einkommensteuer zu verleihen, aber auch selbst dieser Apparat kann nur erst unter den erwähnten Voraussetzungen richtig funktionieren. Das Finanzministerium wäre eigentlich verpflichtet, auf diese Konsequenzen hinzuweisen; leider aber erwähnt es dieselben mit keinem Worte.

Infolge des Mangels an Kontrolle ist das bureaukratische System in vollständiger Auflösung; es verfolgt eigene Interessen und nicht die des Staates. Der Zusammenhang zwischen den zentralen, befehlenden, und den lokalen, ausführenden, Organen ist gelockert; zwischen der Bureaukratie und der Bevölkerung waltet ein unversöhnlicher Antagonismus. Sie geberdet sich als allmächtig, ignoriert die Bedürfnisse und die Rechte des Volkes — wenn man von solchen überhaupt sprechen darf — und fälscht die öffentliche Meinung.

Das Volk erkennt aber sehr wohl, dass es nur ein Objekt der Verwaltung ist, dass es für die Bureaukratie einzig und allein als melkende Kuh in Betracht kommt — dieses Volk verliert jedes Vertrauen zum herrschenden Regime, tötet in sich selbst das soziale Pflichtgefühl, es empfindet die ganze Qual und Tragik seiner geknechteten, gedemütigten Stellung, und wer nicht gerade auswandert, der fügt sich in ein unwürdiges Dasein und ergibt sich oft dem Trunk. So verbrauchen wir den zehnten Teil des Zuckers, den England konsumiert, aber der Konsum an Getränken ist bei uns derselbe, wenn nicht ein größerer, obwohl wir erheblich ärmer sind. Die Durchführung der notwendigen Reformen wird aber von der Bureaukratie immer wieder verschoben; „morgen, morgen, nur nicht heute,“ — damit wird das Volk vertröstet, und es liegt die Gefahr nahe, dass wir diese Saumseligkeit mit einer völligen ökonomischen Deroute werden büßen müssen. Und doch wäre durch Förderung der Bildung, durch Zubilligung des Versammlungsrechts und der Pressfreiheit wohl möglich, den im Volke angesammelten Zündstoff ungefährlich zu machen; einige Exzesse wären zwar voraussichtlich unausbleiblich, aber sie würden vorübergehen und wären so selbstverständlich wie der schmerzhafte Zahndurchbruch bei einem Kinde. Um dieses großartige Werk an dem bisher im Dunkeln schmachtenden Volke zu vollziehen, ist es aber notwendig, dass alle, alle dazu helfen; nicht von gedungenen rohen Händen darf es ausgeführt werden, sondern Seele gehört dazu — die Seelen gebildeter, fein fühlender Menschen müssen bei dieser Wiedergeburt ihrer Mitmenschen hilfreich sein.

Was folgt daraus für die Reform der Finanzen? Wenn das Hauptaugenmerk darauf gerichtet wird, nicht die Interessen der Bureaukratie, sondern diejenigen der großen Massen zu berücksichtigen, so wird es nicht mehr notwendig sein, mit den Industriellen zu liebäugeln, und die Möglichkeit, die Einkommensteuer einzuführen, wird gegeben sein. Dann wird man auch die Normierung der Zuckerindustrie abschaffen können, was wiederum den Konsum und die Einkünfte der Staatskasse erhöhen wird. Die Interessen der arbeitenden Schichten müssen anerkannt werden, wodurch sich ihr Wohlstand und infolge des letzteren auch der Binnenmarkt heben wird. Zwischen der Bevölkerung und den zentralen Behörden wird ein festerer Zusammenhang herrschen, und dieser wird wohltätig auf die Finanzreformen rückwirken.

Dann wird ein jeder Gelegenheit haben, sich zu entwickeln und um bessere Daseinsbedingungen zu kämpfen, solange er dabei seinen Mitmenschen nicht im Wege steht.

Trotz der jetzigen schweren, kritischen Lage Russlands blicken wir doch mit großer Zuversicht in die Zukunft und erhoffen von derselben insbesondere auch eine Besserung der finanziellen Lage. Russland ist reich, sehr reich, aber noch schlummern in ihm die großen Schätze; wir haben Sibirien und den Kaukasus, wir haben unsere Berge wie die Schweiz, unsere Flüsse wie Amerika, wir haben unsere Meere, unsere Gold- und Silbererze. Dieser gewaltige Koloß hat gewaltige Völkermassen auf seinen unermesslichen Gebieten zusammengezogen und es verstanden, sie durch Sprache, Religion, Gesetze und Staatseinrichtungen zu einem einzigen Volke zu vereinigen. Dieser Riese ist jedoch gefesselt, er schläft im Gefängnis der Finsternis, aber es wird die Zeit kommen, wo er erwacht und seine Kräfte zu entfalten beginnt. Er musste nur sein Nervensystem stärken (Eisenbahnen, Posten, Telegraphenverbindungen anlegen), er musste sich selbst genügend organisieren und seine Industrie entwickeln. Groß ist die Anstrengung gewesen, und sein Hirn ist noch schlaftrunken.

Der Krieg hat ihn aber wachgerüttelt, und alle haben eingesehen, dass man so nicht weiter leben kann. Am 18. Februar dieses Jahres wurde von oben ein Erlaß veröffentlicht, laut welchem zur Beratung der Gesetze Volksvertreter herangezogen werden sollen. Es ist zu hoffen, dass die schöpferischen Kräfte des Volkes, die von dem jetzigen bureaukratischen Regime niedergehalten werden, bald erwachen werden.

Ohne Zweifel werden die vorhandenen Mittel dann auch mehr Verwendung für kulturelle Zwecke finden, und es werden nicht wie im Jahre 1904 nur 12,2 Millionen Rubel für Elementarschulen ausgegeben werden, indes für Gefängnisse 15,75 Millionen erforderlich waren.

Zweifellos wird auch unser Steuersystem reformiert werden, und die Steuerlast wird von den Schultern der Bedürftigen auf diejenigen der Wohlhabenden gelegt werden. Dann wird auch die Regierung keinen Grund haben, für die Staatsordnung zu fürchten, und sie wird im Volke genug Energie finden, um seine Interessen von denjenigen der Arbeitgeber zu trennen.

Die ökonomische Politik wird ebenfalls einer Kontrolle unterzogen werden müssen: wir müssen die Industrie entwickeln, aber es kann auf verschiedenem Wege erreicht werden. Es ist etwas andres, wenn man, anstatt wie bisher fertige Fabriken ohne Rücksicht auf den Bedarf vom Westen herüberzubringen, jetzt die Entwicklung der kleinen Industrien zum Ausgangspunkt nehmen und den Binnenmarkt dadurch erweitern würde. Dies können wir erreichen, wenn wir einen Kleinkredit schaffen und für bessere Bildung sorgen, so dass wir das Kleingewerbe allmählich bis zur Großindustrie entwickeln werden. Ich bin durchaus kein Verfechter des Kleingewerbes, aber, wie jeder Nationalökonom in Russland, behaupte auch ich, dass die Industrie organisch emporwachsen muss. Selbstverständlich wird sich dann auch die Landwirtschaft heben, wir werden Kredit haben, und die Auswanderung wird unter günstigen Bedingungen bewerkstelligt werden können, so dass Sibirien tatsächlich eine Goldgrube für das Land werden wird. In breiten Wellen wird die Aufklärung ganz Russland überfluten, und wenn schon auswärtige Anleihen gemacht werden müssen, so wird man sie dazu verwenden, um das ganze Land mit einem Schulnetze zu versorgen. Mit der Heranziehung der Volksvertreter zur Gesetzgebung wird Russland zu einem neuen Leben erwachen, es wird stark und mächtig werden, und die jüngste Vergangenheit wird in unserer Erinnerung nur wie ein lähmender Alpdruck erscheinen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Finanzpolitik
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