Die Entwicklung der Industrie in Russland

Unter diesen Verhältnissen war die Entwicklung der Industrie in Russland unvermeidlich geworden. Dies war der einzige Ausweg aus der landwirtschaftlichen Krisis, nur so war es möglich, das Budget auf eine feste Grundlage zu stellen. Wir sehen, wie im Westen die Last des Budgets von den Landwirten auf die Industriellen übergeht, aber auch die spezifischen Verhältnisse der russischen Bauernwirtschaften haben den russischen Fiskus noch mehr veranlaßt, für die Entwicklung der Industrie zu sorgen. Außerdem sollte gerade diese auch in die Landwirtschaft eine größere Mannigfaltigkeit der Kultur hineintragen und sie dadurch unterstützen. Der Verfall der bäuerlichen Landwirtschaft in Russland steht im Zusammenhang mit den allgemeinen Verhältnissen des Landes, und eine radikale Heilung der Landwirtschaft wird durch die abnormen Gesamtzustände des Reiches aufgehalten. Der Fiskus aber, der auf irgend eine Weise für das Budget sorgen musste, begann alle seine Kräfte auf Hebung der Industrie zu verwenden, und die Regierung suchte die industrielle Technik vom Westen so schnell als möglich auf Russland zu übertragen, man kann sagen, ganze Fabriken und Werke hinüberzunehmen. Als Hauptmaßnahme dafür galt der Schutztarif, der 1891 mit der bedeutenden Erhöhung der Zollsätze seinen Höhepunkt erreichte. Das Bestreben, Russland um jeden Preis zu einem industriellen Staate zu machen und für das Budget eine feste Grundlage zu schaffen, ließ die Frage der Schaffung eines stabileren Geldverkehrs und der Einführung der Goldwährung in den Vordergrund treten, weshalb es notwendig wurde, die vorhandenen Geldvorräte zu bewahren, neue zu erwerben und fremde Kapitalien heranzuziehen. Der Zolltarif erfüllt von da ab in Russland eine doppelte Funktion, indem er einerseits die industrielle Entwicklung fördert und andererseits die Anhäufung von Goldvorräten und die Erwerbung fremder Kapitalien anstrebt. Diese beiden Ziele geraten aber zuweilen miteinander in Konflikt. Pflegen doch übermäßig hohe Zollsätze mitunter die Entwicklung der Industrie nicht zu fördern, sondern vielmehr aufzuhalten; die industriellen Kreise sind nicht mehr so schöpferisch, lassen sich gehen und bauen stets auf die Hilfe der Regierung. Eine Herabsetzung der Zollsätze ist aber manchmal unmöglich, da eine Überschwemmung mit fremden Waren zu befürchten ist, welche man in Gold bezahlen muss, wodurch die Goldvorräte des Landes erschöpft werden; Russland hat aber alle Veranlassung, seinen Goldbesitz zu hüten, da es dem Auslande gegenüber stark verschuldet ist und vielfachen Verpflichtungen nachkommen muss.

Werden ja ohnehin große Summen von russischen Reisenden im Auslande ausgegeben, geht ja so wie so viel Gold für Erzeugnisse fremder Staaten aus dem Lande, während die Ausbeute an Gold im Innern nicht besonders groß ist und sich immer in unverändertem Zustande hält. Hieraus erklärt sich, dass für viele Produkte die hohen Zollsätze beibehalten werden, obwohl sie herabgemindert werden könnten. Aus diesem Grunde hat man die Bestellungen der Regierung im Auslande zu beschränken gesucht, und die ausländische Staatsschuld von der Couponsteuer befreit, wodurch gleichsam eine Exportprämie für die Ausfuhr der russischen Rente nach dem Auslande und deren Austausch gegen das notwendige Gold ausgesetzt wurde. Durch diese Tendenz, Goldvorräte heranzuziehen, erklärt sich auch unsere Exportpolitik; wir suchen so viel als möglich Zucker, Petroleum, Eier, Getreide usw. zu exportieren, um wiederum zum Tausch das nötige Gold zu erhalten: so exportieren wir 20 bis 42% vom Gerstenertrage des dem Exporte vorangehenden Jahres, Leinsaat 50 bis 91%, Roggen 20 bis 59%, Petroleum 56 bis 66%, wir selbst aber darben und sitzen im dunkeln. So geschieht es, dass ein Landbewohner nur 4,89 Pfund Petroleum im Jahre verbraucht, dass in dem an Naphta so reichen Russland nicht selten elende Kienspäne zu Beleuchtungszwecken benutzt werden.


Um den Warenexport zu verstärken, wurde in Russland eine Normierung der Zuckerindustrie eingeführt, die es den Zuckerfabrikanten ermöglicht, auf dem inneren Markte hohe Preise zu erzielen. Der russische Zucker wird mit Verlust nach dem Auslande exportiert, aber diese Verluste werden auf dem inneren Markte durch besonders hohe Preise gedeckt. Ermäßigte Exporttarife werden auf den Bahnen festgesetzt; so ist z. B. der Ausfuhrtarif für Petroleum zwar für das Inland hoch, für das Ausland jedoch sehr niedrig, so dass die Eisenbahnen zugunsten des Exportes nach dem Auslande starke Verluste erfahren: das ist eine Ausfuhrprämie eigener Art.

Dem Zolltarif wurde auf diese Weise die ihm ganz fernliegende Aufgabe zuteil, die Goldvorräte zu wahren, was seinem eigentlichen Zwecke nur zum Schaden gereichte. Zudem kam dieser ganze Zollschutz in Anwendung, gerade als die Landwirtschaft immer mehr zu verfallen begann, nicht wie in Amerika, wo die Landwirtschaft Fortschritte machte und der Protektionismus vorzügliche Früchte zu zeitigen vermochte: unter diesen Umständen stieß die junge, vom Tarif großgezogene Industrie bald auf Hindernisse, die in dem beschränkten Umfange des inneren Marktes lagen. Zur Charakterisierung unseres Binnenmarktes mögen folgende Angaben dienen: 1901 betrug der Konsum an Gußeisen in Großbritannien pro Kopf 9 Pud, in den Vereinigten Staaten 8,4 Pud, in Deutschland 6 Pud, in Russland 1,32 Pud; nach den letzten Berichten der englischen Parlamente (1903) nehmen, was den Verbrauch von Eisen betrifft, die Vereinigten Staaten mit einem Konsum von 448 englischen Pfund pro Kopf (Angaben von 1901) die erste Stelle ein, England verbraucht 403, Deutschland 308, Russland 44. Der Kohlenverbrauch des Jahres 1896 betrug pro Kopf der Bevölkerung in Großbritannien 237 Pud, in Belgien 155, in den Vereinigten Staaten 147, in Frankreich 60, in Russland 7 Pud; der Konsum an Tee pro Person in England im Jahre 1899 5,98 Pfund, in Russland im Jahre 1898 0,82 Pfund. England verbrauchte an Zucker pro Kopf 90,9 Pfund, Dänemark 60,2, Deutschland 25,8, Russland 9,7 Pfund. Unter diesen Verhältnissen musste der Staat, um seinem Lieblingskinde, der Industrie, unter die Arme zu greifen, ein weitgehendes System von Staatsaufträgen zur Anwendung bringen, Subsidien aus der Reichsbank gewähren und für neue Schienenwege sorgen und so der Industrie, die keinen genügenden Binnenmarkt hat, ausreichende Bestellungen sichern. Unter dem Ministerium Witte wurden in zehn Jahren für den privaten Eisenbahnbau mit Hilfe des Staatskredites 1.600 Millionen Rubel realisiert. Man sagt vollkommen richtig, dass wir ganz unabhängig vom Etat, sogar dann, wenn die Staatseinnahmen die Ausgaben übersteigen, infolge der für uns ungünstigen Bilanz, die auch immer neue Eisenbahnbauten erforderlich macht, immer neue Anleihen aufzunehmen gezwungen sind. Dieser Umstand hatte auch eine ganze Reihe spezieller Maßnahmen zur Folge.

Es kommt noch hinzu, dass bei uns der ProtektioniÄnus gehandhabt wird unter Verhältnissen, unter denen man für die Bildung und geistige Entwicklung des russischen Arbeiters gar nicht sorgt. Zwar wurde manches für seine technische Bildung getan, aber ohne die allgemeine kann auch diese nicht von großem Nutzen sein. Man suchte wohl die Hände geschickt zu machen, aber der Verstand wurde in Finsternis gehalten. Daher die fortwährenden Beschwerden über den Mangel an intelligenten, für eine verantwortliche Stellung geeigneten Arbeitern und die ungeheuren Unkosten für die Beaufsichtigung und Verwaltung der Arbeiten. In den besten russischen Spinnereien erfordern 1.000 Spindeln 12 bis 13 Arbeiter, während in Deutschland 8 bis 9 und in England 8,5 für Baumwollspinnerei und 6,5 für Mullspinnerei erforderlich sind. In England werden einem Arbeiter etwa 4 Webstühle unterstellt, in Amerika 6, während bei uns ein Arbeiter nur 2, oft sogar nur einen zu bedienen imstande ist. Wir brauchen für 4 — 6.000 Spindeln einen Aufseher; in England braucht man gar keinen. Die Verwaltungskosten sind bei uns im Verhältnis zu England ungeheuer groß: auf 1.000 Spindeln 230 Rubel gegen 7 Rubel in England. Daher kommt dem englischen Fabrikanten das Pfund Garn viel billiger zu stehen als dem russischen.

Wenn aber die Arbeit des englischen oder deutschen Arbeiters produktiver ist als die des russischen, wenn dies ferner in der Hauptsache an der besseren technischen Ausbildung der ersteren liegt, so muss diese Vorbildung mit einer allgemeinen Bildung verbunden sein. Ohne diese werden ausschließlich technische und Gewerbeschulen oder Kurse wenig nützen: man muss von vorn, nicht mit dem Ende anfangen.

Für die Selbsttätigkeit des Volkes wurde nicht gesorgt, den Arbeitern wurde das Vereins- und Koalitionsrecht nicht gewährt, um höhere Arbeitslöhne zu erreichen, die, wie die Amerikaner richtig sagen, ein Ansporn für den industriellen Fortschritt sind. Dies alles schien der Protektionswirtschaft keine Erfolge zu sichern. Unterdes rief die industrielle Klasse die Regierung flehentlich um Hilfe an und verwies darauf, dass sie selber große Kapitalien einsetze und an dem Zusammenbruch der Industrie unschuldig sei. So musste denn die Regierung, wie bereits erwähnt, bedeutende Subsidien und Darlehen aus der Staatsbank gewähren, Bestellungen zu hohen Preisen machen, ja sogar die industriellen Syndikate, obwohl solche Korporationen offiziell verboten sind, unterstützen. In den oberen Kreisen wirkte eine Art organisierter, wenn auch nicht formeller Vertretung der industriellen Interessen, und auf bestimmten Gebieten wurde nichts ohne Befragen und Zustimmung der industriellen Elemente unternommen. Dieses Liebäugeln mit den industriellen Kreisen geschah aus politischen Gründen; man wollte durch die Liebesgaben dem Übergange dieser einflußreichen Klasse zur Opposition vorbeugen.

Aus demselben Grunde fürchtete man bei uns die Einführung der Einkommensteuer, die den großindustriellen Elementen nicht genehm ist. Außerdem hätte ihre Einführung das Selbstbewußtsein im Volke weiter entwickeln müssen. Jeder würde eine solche Steuer unmittelbar empfinden, während eine indirekte Steuer unmerklich ausgezahlt wird. Wer aber die Zahlung unmittelbar empfindet, der wird auch natürlich ein gewisses Interesse dafür zeigen, wohin sein Geld geht. Dies würde eine überflüssige Anregung zur Befreiung der Presse von vielfachen Beschränkungen sein. Um also einerseits ein freiheitliches Selbstgefühl nicht aufkommen zu lassen und andererseits die Gunst der Großkapitalisten nicht zu verscherzen, willigte die Regierung trotz aller Forderungen in die Einführung der Einkommensteuer nicht ein.

Das ganze Verhalten der Regierung ist sehr erklärlich. Bei uns, wo die Gesellschaft und die Bureaukratie sich feindlich gegenüberstehen und von einander völlig geschieden sind, muss sich die Bureaukratie auf die industriellen Gruppen stützen im natürlichen Bestreben, die starken Elemente für sich zu gewinnen. Gerade deswegen befindet sich ihrerseits die ganze Klasse der Industriellen in Abhängigkeit vom Fiskus, da alle Fäden ihres ökonomischen Wohlstandes in den Händen der Bureaukratie zusammenlaufen: der Wohlstand der Industriellen beruht auf dem Zolltarife, der der Zuckerfabrikanten auf der Normierung der Zuckerindustrie, der der Branntweinbrenner hängt von der Höhe der Preise ab, welche die Regierung, die einzige Abnehmerin, für den Spiritus festsetzt.

Der Staat hat die gesamten Eisenbahnlinien in Besitz genommen, die Zollsätze bestimmt und dadurch einen ungeheuren Einfluß auf die verschiedenen industriellen Gruppen gewonnen, so dass in letzter Zeit keine einzige selbständige ökonomische Gruppe mehr existierte, die aus eigener Initiative zu handeln fähig gewesen wäre.

Die langsame Entwicklung Russlands ist eben dadurch zu erklären, dass bei uns auch die mächtigen Gruppen nicht frei handeln dürfen, sondern stets in gewissem Sinne bevormundet werden. Diese Bevormundung hat in ihnen die Energie im Kampfe um eine günstigere Zukunft, um die Verbesserung ihrer ökonomischen Lage und um die Beschaffung günstigerer Existenzbedingungen getötet. Sie wissen, dass sie schlimmstenfalls nach Petersburg fahren und dort gewisse Vorteile sich ausbitten — und alles ist in Ordnung . . . Wozu braucht man denn die sogenannte Selbständigkeit und Initiative? Dafür hat man wohl im Westen Verwendung, wo die Menschen über sich selber verfügen können, uns aber beschützt ja in so trefflicher Weise die Bureaukratie. Die Gruppen der Mächtigen erkennen sehr wohl ihre glückliche Lage im Schutze des bureaukratischen Regimes, steigern ihr Begehren immer mehr und mehr, und suchen ihre Loyalität so teuer als möglich zu verkaufen, indem sie neue Unterstützungen in Form von Staatsaufträgen für teures Geld und hohe Zollsätze fordern, indem sie Syndikate und Kongresse unter dem Schutze der Bureaukratie organisieren und das alles zu einer Zeit, da die andern Schichten der Bevölkerung von solchen Freiheiten völlig ausgeschlossen sind. Man darf sogar annehmen, dass die Forderungen der Mächtigen noch immer steigen werden. Vor der industriellen Klasse zittert man bei uns. Man weiß, dass in Petersburg eine nichtöffentliche Vertretung ihrer Interessen organisiert ist und in jedem Falle, bei welchem ihre Interessen in Betracht kommen, zu Rate gezogen werden. All dies gilt in geringerem Maße auch für die adligen Grundbesitzer, in geringerem Maße, sagen wir, denn diese Klasse genießt einen weniger starken Einfluß. Ja, bei uns regiert die Bureaukratie, aber sie ist in sich selbst zerfallen. Die Vertreter der verschiedenen Ministerien gleichen getrennten, kriegführenden Mächten, suchen sich gegenseitig Steine in den Weg zu werfen, schließen dann mitunter Frieden, indem sie einander Konzessionen gewähren usw. Manchmal vereinigen sich einige Ministerien zum Kriege gegen die andern und suchen jede Maßnahme, die aus dem feindlichen Lager kommt, zu entstellen oder einzuschränken. So kommen oft jene unbrauchbaren Gesetze aus den Petersburger Kanzleien heraus.

Das Interesse an dem eigenen Staate ist diesen Kreisen fremd. Ein Zustand aber, in welchem ein Ministerium dem andern, sobald es eine neue Maßregel durchführen will, ein Bein stellen will, führt naturgemäß dazu, dass wir immer rückständig sind. Wir beugen nicht der Krankheit vor, sondern versuchen erst, dieselbe zu heilen, wenn sie einen größeren Umfang angenommen hat; wir sehen zu, wie ein Brand um sich greift, und zanken darüber, wer ihn löschen soll. Bist du dran oder ich? Wenn du es bist, so werde ich mich dir sogar mit aller Macht widersetzen. Wir haben kein einiges Ministerium, auch würde die Bildung eines solchen zum völligen Bureaukratie-Despotismus führen.

Die Erreichung eines einigen Ministeriums ohne freie Presse würde der Einführung einer Art Großveziertum gleichen; dann würden die Ungerechtigkeiten, die jetzt bei der Uneinigkeit der Ministerien manchmal zutage kommen, nicht nur verdeckt werden, sondern jedes Recht würde überhaupt aus dem Lande schwinden.

Die Entwicklung der Großindustrie in Russland stößt, wie gesagt, auf Hindernisse in den beschränkten Binnenmärkten und in der dürftigen Beschaffenheit der Verkehrswege. So kamen auf 1 ? Werst mehr als 20 Saschen *) Chausseen in zwei Gouvernements, von 10 bis 20 Saschen auf 1 ? Werst in einem Gouvernement, von 5 bis 10 in 5 Gouvernements, während es in 14 Gouvernements gar keine Chausseen gab; dagegen kamen schon im Jahre 1889 in Frankreich 490 Saschen, in Belgien 444, in England 3337 Saschen auf 1 ? Werst. Das Postwesen ist bei uns ebenfalls mangelhaft. Nach den Angaben des „statistischen Jahrbuches des Gouvernements Twer“ für das Jahr 1901 kam eine Post- und Telegraphenanstalt auf 740,6 ? Werst in diesem Gouvernement; im Bezirke Nowotorschok kam eine Station auf 750,4 ? Werst. Es ist sehr natürlich, dass es in manchen Gegenden dieser Bezirke, wo die Poststation von den Dörfern 40 und mehr Werst entfernt ist, sehr schwierig ist, seine Korrespondenz richtig zu bekommen; die Briefe wandern unter den Bauern von Hand zu Hand weiter und gehen dabei nicht selten verloren.

Der hohe Zolltarif hat die Industriellen vollständig eingeschläfert **), so dass sie die erforderliche Organisation des Handels nicht durchgeführt haben: sie kennen ihre eigenen Märkte und die Bedürfnisse der Bevölkerung nicht, wie es in Westeuropa gang und gäbe ist. Aus den bereits erwähnten Gründen ist auch die Klasse der Großgrundbesitzer protegiert worden. Aus einer Staatslotterie wurde ein billiger Bodenkredit organisiert, die Bodensteuer herabgesetzt, das Bodeneigentum der Besitzer von der Erbschaftssteuer befreit; adlige Genossenschaftskassen wurden mit großen Subventionen der Regierung gegründet usw. Gegenwärtig aber, da die staatlichen Hilfsquellen erschöpft sind und man auf derartige Beihilfe schwerlich hoffen darf, jetzt, da der Kredit sinkt, beginnen die Industriellen in der Einsicht, dass sie alles, was unter der herrschenden Staatsordnung irgend herauszubekommen war, bereits erhalten haben, für große Reformmaßregeln zu plädieren, da nur noch eine völlige Umgestaltung der Verhältnisse in Russland eine normale ökonomische Entwicklung zu sichern imstande seien. Nur dadurch, dass den Massen der Zutritt zu Licht und Wissen eröffnet wird, dass ferner alle Schichten Organisationsmöglichkeiten erhalten, werden auch — so ist die allgemeine Überzeugung — die Produktivkräfte der Bevölkerung gehoben werden können. Die neuen Zustände werden den Binnenmarkt erweitern und der industriellen Entwicklung in weitestem Maße aufhelfen. Die gegenwärtige ökonomische Lage ist eine starke und sichere Bundesgenossin der radikalen Reformen und treibt die einflußreichen Gruppen gebieterisch auf den Weg der Reform.

*) Russisches Längenmaß, ca. 2,15 m.

**) Siehe meinen Artikel in der Zeitschrift Forum 1899, April: „The Industrial Development of Russia“.


Früher war den industriellen Kreisen an der Aufrechterhaltung des bestehenden Regimes, das ihre Interessen förderte, sie zu Herren der Situation machte und sie noch daneben vor den Ansprüchen der anderen Klassen schützte, sehr gelegen. Der Krieg aber, der die Kräfte des Landes erschöpft hat, hat sie selbst in eine andere Position gedrängt; sie sind nicht mehr am Bestände des Absolutismus interessiert, da sie einsehen, dass auch ihr Wohlstand nur auf dem erweiterten Binnenmarkte, auf der Hebung der Produktivkräfte des Landes, der Bildung usw. basieren kann.

Andererseits vermag man sich nicht mehr der Einsicht verschließen, dass es ein unerhörter Fehler der Regierung war, sich vom Schlepptau der Industriellen ziehen zu lassen, und aus Furcht, die Arbeiter könnten das Koalitionsrecht für andere Zwecke ausnützen, bei der Förderung der Industrie die Arbeiterklasse völlig zu ignorieren. Welchen Zündstoff dies erzeugt hat, haben die letzten Ereignisse in Russland bewiesen. So kann man sich denn jeden Augenblick auf Eruptionen gefaßt machen.

Drang doch die Bildung durch alle Türspalten und Ritzen ins Volk, es wuchs das Persönlichkeitsgefühl des Arbeiters, und er geriet in Konflikt mit den Verhältnissen, in denen zu leben und zu arbeiten er gezwungen war. Es wurde ihm zu eng; in der Tat haben wir große Massen von Arbeitern unter ein Dach zusammengezogen und nicht daran gedacht, dass ein Verkehr von so vielen Menschen ohne Licht und Wissen gefährlich werden kann. Wir haben keine Maßregeln getroffen, um dieses Feuer zu löschen, und so gehandelt, wie wenn wir Stroh und Zündmasse nebeneinander aufgehäuft und alle Löschmittel aus der Nähe entfernt hätten. Arbeiterorganisationen und Verbreitung von Bildung hätten genügt, um diese Feuersgefahr zu beseitigen.

Auch dann würden wohl nicht selten Explosionen eintreten, aber sie würden weniger gefährlich sein, die Arbeiter würden gelernt haben, vernünftige Forderungen zu stellen, die mit der Entwicklung der Industrie in Einklang zu bringen wären, während sie jetzt den albernsten Gerüchten und unrealisierbaren Illusionen ausgesetzt sind.

Das Festhalten der Arbeiter in völliger Dunkelheit garantiert nicht ein unbefangenes Verständnis der Wirklichkeit, sondern schafft einen ausgezeichneten Nährboden für fernabliegende Forderungen unmöglicher Dinge, unmöglicher wenigstens unter den gegenwärtigen Verhältnissen. In verschiedenen Ländern Westeuropas lernen Vertreter der Industrie und Arbeiterklasse in ihrem Zusammenarbeiten einander Vertrauen schenken, sich in die Lage der gegnerischen Partei versetzen und einander, wo es nötig ist, Konzessionen machen; unsere Politik hat aber systematisch das Mißtrauen einer Gruppe gegen die andere erzeugt, die Unternehmer ignorierten die Interessen der Arbeiter, und so wurden zwei feindliche Lager geschaffen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Finanzpolitik
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