Die Einführung der Goldwährung in Russland

Die Einführung der Goldwährung in Russland wurde langsam vorbereitet. Man häufte den Goldvorrat an, man beschränkte den Warenimport, förderte die Exportpolitik und führte durch Gesetz vom 29. Aug. 1897 den Goldverkehr durch. In diesem Gesetz wurde bekannt gegeben, dass die ersten 600 Millionen Kreditrubel nur zur Hälfte mit Gold gesichert seien, während die späteren Emissionen vollwertig mit Gold gedeckt werden sollten. Durch das Gesetz vom 28. April 1900 wurde vorgeschrieben: „dass die Emission der Kreditpapiere genau nach der Grundlage unseres Erlasses vom 29. Aug. 1897 geschehe und künftighin nicht mehr zu einer Hilfsquelle der Staatskasse dienen solle“. Im allgemeinen ging diese Veränderung im Geldverkehr sehr gut von statten. Die Reform reifte allmählich heran und wurde ohne Erschütterung und so behutsam durchgeführt, dass die Bevölkerung es gar nicht merkte.

Trotz des verhängnisvollen Krieges, den wir führen, hat der Geldverkehr keine Erschütterungen erfahren. Am 16. Febr. 1905 gab es in der Staatsbank für 1 Milliarde und 11 Millionen Rubel Gold, während Kreditscheine auf 950 Millionen Rubel ausgegeben wurden *), so dass diese im Geldverkehr zirkulierenden Papiere völlig gesichert sind.


Die Geldreform ist indes nur unvollständig durchgeführt worden, da die Reichsbank keine Veränderung erfahren hat. Die Sicherheit des Geldverkehrs erfordert es, dass das Institut, welches die Wertpapiere emittiert, vom Finanzministerium unabhängig sei, die Reichsbank ist aber bis auf den heutigen Tag nur eine Abteilung dieses Ministeriums.

Der Staatskontrolle sind bei weitem nicht alle Operationen der Reichsbank unterworfen. Sie revidiert nur die Verwaltungsausgaben der Reichsbank, sowie die Operationen, welche diese auf Rechnung der Staatskasse vorgenommen, sie beaufsichtigt sodann den Voranschlag für die Ausgaben der Bank und legt Zeugnis ab für die in der Bank verwahrten Werte. Weitere Befugnisse besitzt die Staatskontrolle über die Staatsbank nicht.

Bei der Revision der Reichsbank hat man Fälle doppelter Verzeichnung derselben Kreditpapiere entdeckt, ferner einmal im Verkehr mehr Wertpapiere konstatiert, als in den Büchern der Bank angegeben waren (Bericht der Staatskontrolle für 1888).

Das Finanzministerium hält es für wichtig, die Goldwährung in Russland während des Krieges aufrechtzuerhalten, was gewiß sehr anerkennenswert ist. Es zieht vor, unter ungünstigen Bedingungen Anleihen zu machen, als Russland zur Papierwährung zurückkehren zu lassen.

*) Zum 16. Juli 1905 wurden 1 Milliarde Kreditrubel im ganzen emittiert, und gab es in der Staatsbank für 1 Milliarde 163,5 Millionen Rubel Gold.

Das Statut unsrer Reichsbank entspricht keineswegs ihrer neuen Verpflichtung, den Geldverkehr zu regeln. Nach dem Reglement von 1894 hatte die Reichsbank die Aufgabe, Landwirten, industriellen Unternehmungen, Handwerkern und Hausindustriellen gegen Waren, sowie Semstwos und Städten Kredit zu gewähren. Viele dieser Operationen müssen offenbar langfristige sein und sind mit der gegenwärtigen Rolle der Staatsbank unvereinbar. Das Reglement ist noch bis heute in Kraft, aber gewisse Operationen sind mit der Einführung der Goldwährung teils eingeschränkt worden, teils kommen sie gar nicht in Betracht. So betrugen am 16. Juli 1905 die Darlehen an die Landwirte 8,9 Millionen Rubel, an die Handwerker und Hausindustriellen 167.000, während Semstwos und Städte überhaupt nur 35.000 Rubel als Darlehen erhalten haben. Die gegen Waren gewährten Darlehen beliefen sich auf 23,9 Millionen Rubel, zu denen noch außerdem ausschließlich an industrielle Unternehmungen entliehene Summen im Betrage von 34,8 Millionen Rubel hinzukamen. Das Finanzministerium beschränkt also die Kreditfähigkeit nach verschiedenen Richtungen und entwickelt sie nach anderen Seiten hin. Diese Politik des Finanzministeriums, immer mehr Darlehen gegen Waren und an industrielle Unternehmungen zu gewähren, ist aber nur eine Art Subventionierung der Industrie, obwohl die Reichsbank alle Kreditoperationen solcher Art überhaupt aufgeben müßte, sobald sie die Regelung des Geldverkehrs übernommen hat. Hier werden aber die Interessen der Reichsbank wiederum der Großindustrie, die sich ohne ausreichenden Binnenmarkt entwickelt, geopfert.

Unser Steuersystem ist so organisiert, dass die Steuerlast hauptsächlich die Nichtvermögenden trifft. Wir haben keine Einkommensteuer, und die Erbschaftssteuer gibt lächerlich geringe Erträge, da die Einschätzung der Nachlässe in recht mangelhafter Weise vorgenommen wird. Das Budget wird vorzugsweise durch Steuern auf Konsumartikel gedeckt. Wie wir jedoch bereits ausgeführt haben, ist die Zahlungsfähigkeit der Bevölkerung aufs höchste erschöpft, und die Ausstände der Ablösungsgelder steigen ins Ungeheure. Nach dem kompetenten Zeugnis des früheren Ministers Witte haben die direkten und indirekten Steuern die äußerste Grenze erreicht; der Minister hat es geradezu für seine Pflicht gehalten, diese Tatsache dem Staatsrate bei der Festsetzung des Budgets 1903 zu erklären. (Bericht über die Verhandlungen des Staatsrates während der Session 1902 bis 1903, Petersburg 1904, Seite 480.) Witte sagte: „Eine weitere Belastung der besteuerten Klassen würde nicht nur eine unproduktive Maßnahme, sondern infolge der gegenwärtigen ökonomischen Lage des Landes auch nicht zu verwirklichen sein. Eine vernünftige Finanzpolitik muss jetzt vielmehr Mittel zur Verringerung der Steuerlast ausfindig machen.“ In dieser Hinsicht kommt in erster Linie die Herabsetzung der direkten Steuern und besonders der Ablösungen in Betracht, welche auf der zahlreichsten und ärmsten Klasse der Bevölkerung lasten.

In der Volkswirtschaft machen sich nach der Ansicht des Finanzministers bereits manche unangenehmen Symptome bemerkbar. So haben die ordentlichen Staatsausgaben für 1893 946 Millionen betragen, während sie sich nach dem Etat von 1903 auf 1.348,5 Millionen beliefen; die Staatsausgaben haben demnach während dieser Zeit um 402,5 Millionen oder um 42,5%, also jährlich um etwa 4% zugenommen. Es muss bemerkt werden, dass, um die verschiedenen Jahre vergleichen zu können, die für das staatliche Branntweinmonopol und dessen Durchführung, sowie für die Ausnutzung der Eisenbahnlinien gemachten Ausgaben aus den Etats sowohl von 1893 als von 1903 eliminiert worden sind. Ferner wurden die zum Ankauf von Betriebsmaterial für die bestehenden Staatsbahnen verwendeten Summen abgezogen, da diese Ausgaben bis zum Jahre 1901 zum außerordentlichen Budget gerechnet zu werden pflegten. Hingegen wurden die Ausgaben für den Etat von 1893 durch bedeutende Posten ergänzt, die früher in das außerordentliche Budget aufgenommen waren, nämlich Ausgaben für Häfen, für Ausbau der Schienenwege, für die Ausrüstung usw. der Reserve, im ganzen 51 Millionen Rubel. Diese Ausgaben wurden laut Reglements vom 5. Juni 1895 und vom 22. Mai 1900 auf das ordentliche Budget übertragen. Unter Berücksichtigung dieser Korrekturen beträgt also das durchschnittliche Wachstum der Ausgaben jährlich 4%. Die Vermehrung der ordentlichen Staatseinnahmen aber beginnt, abgesehen von den Einkünften aus den Eisenbahnen und dem Branntweinmonopol, sich merklich zu verlangsamen und beträgt in den letzten 5 Jahren — 1897 bis 1901 — nur 3,2% jährlich.

Das Defizit der Eisenbahnen wächst. Der Finanzminister hat erklärt, dass die Verluste der Eisenbahn Verwaltung für 1903 nicht weniger als 51 Millionen Rubel betragen dürften; wenn man noch dazu den Zuschuß für den Betrieb des ostasiatischen Schienenweges während der zweiten Hälfte des Jahres 1903*) (9 Millionen) hinzurechnet, so dürften die Verluste wohl 60 Millionen erreichen und sich im Jahre 1904 bis auf 84,5 Millionen erhöhen. Diese Zahlen und das steigende Defizit der Eisenbahnen könnte sich wirklich bedenklich gestalten, wenn dem Wachstum der Staatsausgaben keine Schranken gesetzt werden sollten. Die Zahlungsfähigkeit der Bevölkerung hat ihre Grenzen, die man unbeschadet des ökonomischen Wohlstandes des Landes nicht überschreiten darf. Deswegen pflichtete auch der Staatsrat der Erklärung des Staatssekretärs Witte bei, dass es unmöglich sei, die Steuern zu erhöhen. Der Staatsrat fand sogar, dass es notwendig sei, zur Befestigung des ökonomischen, finanziellen und politischen Wohlstandes des Reiches die Steuerlast zu erleichtern.“ Seit den 90er Jahren erhöhte man die Steuern vorzugsweise auf Konsumartikel, auf Zucker, Tabak, Naphta. Auch der Spiritus wurde infolge der hohen Preise, die durch die Einführung des Branntweinmonopols eintraten, schwer belastet.

Eine Analyse der einzelnen Einnahmeposten liefert interessante Züge unserer Staatswirtschaft: so z. B. kamen 1888 an Lösegeldern von den Bauern 77 Millionen Rubel, 1892 ca. 92 Millionen, 1893 99 Millionen, 1901 ca. 90 Millionen Rubel ein, während die Einkünfte aus der Gewerbesteuer seit 1892 bis 1901 fast um 94,4%, nämlich von 35,4 Millionen bis auf 68,8 Millionen Rubel gestiegen sind. Desgleichen gingen die Zolleinkünfte während dieser Zeit um 79,14%, nämlich von 130,5 Millionen auf 219,7 Millionen, hinauf.

Die Einkünfte aus der Tabaksteuer stiegen um 56,77%, nämlich von 27 Millionen Rubel im Jahre 1892 bis auf 42 Millionen im Jahre 1901. Die Zuckersteuer stieg um 159,22%, nämlich von 27,5 Millionen Rubel bis 71,3 Millionen. Die Einnahmen aus der Naphtasteuer stiegen um 222,2%, nämlich von 12,88 Millionen auf 28,6.

Wir sehen daher, dass, während die indirekten Steuern sehr rasch anwachsen, die direkten hingegen — darunter gerade die wichtigsten, die Lösegelder — auf demselben Niveau bleiben. Diese Tatsache beweist zur Evidenz, wie erschöpft die Zahlungskräfte der ländlichen Bevölkerung sind.

*) Nur die zweite Hälfte des Jahres kam in Betracht, da die Linie erst damals dem Verkehr übergeben wurde.

Die Einnahmen aus den indirekten Steuern wachsen zwar, dürfen indes keineswegs als Beweis für den wachsenden Wohlstand der gesamten Bevölkerung gelten, da der Konsum, wie die Statistik zeigt, in Russland nur in den Städten wächst; diesen Metropolen fällt der Löwenanteil des Konsums an Tee, Zucker und Petroleum zu. Zucker z. B. konsumieren die Städte 32,5 Pfund, das Land 6 Pfund pro Kopf; an Petroleum verbraucht die Stadt 2 Pud und 9 Pfund, das Land 4,89 Pfund; an Tee ist der Stadtkonsum 2 bis 3 Pfund (Petersburg sogar nicht weniger als 4 Pfund), der Landverbrauch 0,33 bis 0,08 Pfund.*)

*) Näheres siehe in meinem Buche „Das ökonomische Russland und seine Finanzpolitik am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts“ mit 72 Diagrammen. Moskau, 1905.

Interessant ist die Tatsache, dass selbst der Branntweinkonsum in der Stadt denjenigen auf dem Lande bei weitem übertrifft. Im östlichen Rayon kommt im Jahre 1900 auf den Kopf der Bevölkerung auf dem Lande 0,38, in den Städten 1,38 Eimer, in den südlichen und südwestlichen 0,43, bzw. 1,17, im Gouvernement Pskow 0,29, bzw. 2,34 Eimer (d. h. das 8 fache des ländlichen Konsums), im Gouvernement Nowgorod in 0,37, bzw. 2,26, im Gouvernement Olonez auf 0,23, bzw. 1,76.

Dieser Unterschied in dem Konsum der Stadt und des Landes mag wohl auch das Finanzministerium veranlaßt haben, die indirekten Steuern zu vermehren, die für das Wachstum unserer Städte so charakteristisch sind, aber leicht dazu führen, das wirkliche Bild der ländlichen Zustände zu verdunkeln. Das Leben im Dorfe schreitet nicht nur nicht vorwärts, sondern geht sogar wesentlich zurück, wofür die in erschreckendem Maße rückständigen Lösegelder ein beredtes Zeugnis ablegen.

Der Reinertrag aus dem Branntweinmonopol betrug 1898 22,5 Millionen Rubel, 1899 24,5 Millionen, 1900 17,0 Millionen, 1901 19,7 Millionen Rubel; dabei sind bereits die Verluste der Staatskasse infolge der mit der Einführung des Monopols eingetretenen Patentsteuerabnahme, die 1901 11,4 Millionen Rubel erreicht hat, abgezogen. Desgleichen sind die Ausgaben für die Durchführung des Branntweinmonopols, welche gegen Ende 1901 sich auf 147 Millionen Rubel beliefen, berücksichtigt worden, während 5% derselben, d. h. über 7 Millionen Rubel, von den Einnahmen der Staatskasse in Abzug gebracht wurden. Im ganzen hat die Reichskasse 1903 von der Getränkesteuer (nebst den Einnahmen aus dem Monopol selbst mit Abzug der Betriebsausgaben) 389,4 Millionen Rubel erhalten.

Wer über Russland nach den indirekten Steuern urteilen wollte, der würde behaiipten können, dass das Land Fortschritte macht; zieht er aber die Lösegelder in Betracht, die auf den Bauernmassen lasten, dann wird er begreifen, dass Russland in finanzieller Hinsicht im Sinken begriffen ist. Es sind gleichsam zwei Thermometer, von denen das eine steigt, während das andere fällt. So zeigt uns Russland ein doppeltes Gesicht, auf der einen Seite die im Niedergang begriffene Landwirtschaft und auf der anderen das emporkommende industrielle und städtische Leben mit Eisenbahnen und großen Fabriken nach westlichem Muster. Das letztere Russland aber, obgleich vermittelst geliehener fremder Kapitalien aufgebaut, schreitet vorwärts und entwickelt sich.

Um die für unser Budget nötigen Summen aufzubringen, sind wir gezwungen, zur Basis derselben die indirekten Steuern zu machen. Deswegen der bei uns in letzter Zeit verstärkte Eisenbahnbau, obwohl die Eisenbahnen uns nur Verluste bringen und von geliehenem Gelde gebaut werden, was unsere Staatsschuld nur vergrößert. Wie rapide der Bahnbau in den letzten Jahren war, beweisen folgende Zahlen: 1893 wurde dem Verkehr eine neue Strecke von 1.701 Werst eröffnet, 1895: 1.839 Werst, 1899: 4.692 Werst, 1901: 2.599 Werst, im ganzen waren gegen das Jahr 1901: 53.887 Werst übergeben. Man muss dessen eingedenk sein, dass die Regierung erst in den 80er Jahren den Eisenbahnbau in eigene Hände zu nehmen begonnen hat, nachdem sie mit der privaten Bahnbauwirtschaft schlechte Erfahrungen gemacht hatte.

Der starke Eisenbahnbau ist übrigens ebenfalls eine Folge unserer ökonomischen Lage und des nach allen Seiten gerichteten Bestrebens, Russland von der Naturalzu der Geldwirtschaft hinüberzuleiten. Wo die Industrie emporkommt, da ist ein gut entwickeltes Eisenbahnnetz unentbehrlich; denn erst die Eisenbahn eröffnet den Industrieprodukten neue Märkte. Der Fiskus sieht ja aber nur in der Industrie diejenige Quelle von Mitteln, die notwendig sind, um Russland zu seiner großen politischen Rolle zu verhelfen und ihm seine Ausdehnungspolitik zu ermöglichen.

Die russische Regierung macht sich die Erfahrung Westeuropas zu eigen, die ja zeigt, dass der Schwerpunkt des Budgets von der Landwirtschaft auf die Industrie übergeht. Dies erklärt sich bekanntlich durch die schwere Krisis, welche auch den Fiskus zwingt, die Landwirtschaft zu entlasten, während die Industrie durch die Gewerbesteuer gute Mittel zur Ausnutzung bietet Was Russland anbetrifft, so haben wir 1901 aus der Bodensteuer 9.871.000 Rubel, aus der Gewerbesteuer 68.821.000 Rubel gewonnen.

Kaschkarow gruppiert in seinen „Ergebnissen der Finanzen“ eine Reihe von Angaben, die dafür beredtes Zeugnis ablegen, wie rasch die Einnahmen aus der Konsumsteuer wachsen und umgekehrt die Einnahmen aus den direkten Steuern abnehmen, die auf dem Grund und Boden lasten. Er zieht vor allem die in den emporwachsenden Städten in steigendem Maße konsumierten, vom Staate besteuerten Artikel, wie Tee, Zucker, Petroleum und Spiritus, in Betracht.

Welches sind denn die Finanzresultate des starken Eisenbahnbaues? Die Ergebnisse lassen sich in ihrer Gesamtheit keineswegs mit denen der preußischen Eisenbahnpolitik vergleichen, weil bei uns noch hinzukommt, dass verschiedene Bahnen eine rein strategische, nicht aber kommerzielle Bedeutung haben, nämlich dort, wo sie noch von der in den Anfängen befindlichen Industrie nur mä?ig in Anspruch genommen werden. Allerdings könnte mancher mit Rücksicht auf die oft eintretende starke Verzögerung in der Verfrachtung, mit Rücksicht darauf, dass die Waren auf den Stationen liegen bleiben, den Eindruck gewinnen, als ob an unsere Bahnen nicht zu bewältigende Ansprüche herantreten, tatsächlich leiden sie aber an Arbeitsmangel; und das Vorhererwähnte findet nur in den Herbstmonaten statt, wenn die Ernte nach den Häfen transportiert wird.

Wenn sich nun aber unsere Eisenbahnen nicht rentieren, warum setzen wir denn den Bahnbau fort? — Es geschieht, um uns zu resümieren, aus verschiedenen Gründen: Erstens zur Unterstützung der Metallindustrie, die an einer Krisis leidet und bei der Armut der ländlichen Bevölkerung einen ausreichenden Binnenmarkt nicht haben kann, während ihr durch den Eisenbahnbau beträchtliche staatliche Bestellungen auf Eisen zugesichert sind. Zweitens bringt die Baubeschäftigung unmittelbar Geld unter das Volk und fördert die Nachfrage nach verschiedenen Industrieprodukten. Drittens aber dient der wachsende Verkehr der Industrie im allgemeinen. Eine Einschränkung des Bahnbaues würde sicherlich für die ganze Industrie schwerwiegende Folgen haben.

Nach der Berechnung der Staatskontrolle betrugen die Verluste der Eisenbahnen im Jahre 1900 2.600.000 Rubel; 1899 gaben sie zwar einen kleinen Überschuß von 1.200.000 Rubel, 1898 einen solchen von 8.700.000 Rubel, 1892 erreichte aber das Defizit 42,5 Millionen, 1893 20 Millionen und 1901 35.149.000 Rubel. (Die Angaben der Staatskontrolle über die Eisenbahnen für 1901, I. Teil, Petersburg 1903.)

Man beachte, dass die Staatskontrolle nur die Ausgaben für den eigentlichen Betrieb berechnet, dagegen die Ausgaben für die Ausbesserung und Ausrüstung der Bahnen mit Betriebsmaterial zum Eisenbahnkapital rechnet und dieselben mit 4,5% verrechnet.

Außer den bereits erwähnten Zielen, welche der fortwährende Eisenbahnbau in Russland anstrebt, bezweckt er auch noch, die Waren den Konsumenten in entfernten, sonst schwer erreichbaren Territorien zugänglich zu machen; so kostete in Irkutsk ein Pfund Petroleum früher 10 Kopeken, seit Eröffnung der sibirischen Bahn aber nur noch 5; selbstverständlich ist auch der Konsum gestiegen. Ein Pfund Zucker, das 30 bis 35 Kopeken gekostet hat, gilt jetzt nur halb so viel. Der Umfang des Warentransportes wächst schnell; so betrug 1897 der Import auf dem Wege über St. Petersburg 2.457.000 Pud, 1898 5.127.000, 1899 8.020.000 Pud.

Die Finanzpolitik Russlands zeichnete sich in den letzten Jahren durch eine stärkere Verstaatlichung der Eisenbahnen aus. Der Loskauf der Konzession geschieht in der Weise, dass der Staat entweder diemittlere Einnahme der letzten Jahre oder die Einnahme des letzten Jahres, wenn diese die mittlere Norm übersteigt, den privaten Eisenbahngesellschaften bis zum Ablauf der Konzessionsfrist jährlich ausbezahlt, bezw. kapitalisiert und duich einen einmaligen Betrag begleicht, wobei jedoch die kapitalisierte Summe nicht geringer als die von der Gesellschaft zur Anlegung der Bahn verwandte sein darf. Daneben ist es oft vorgekommen, dass private Eisenbahngesellschaf ten, die durch Garantie seitens der Regierung gesichert waren, nicht sonderlich bemüht waren, die Ertragsfähigkeit der Bahnen zu steigern, da sie wußten, dass die Erträge derselben die von der Regierung garantierten jedenfalls nicht übersteigen würden. Daher häuften sich bei vielen Gesellschaften große Schulden auf Rechnung der Dividendegarantie an; bei dem Loskauf der Eisenbahnen mussten solche Schulden in gewaltigen Beträgen verrechnet werden; denn es ging oft nicht, diese Schulden von der kapitalisierten Einnahme abzuziehen, da sonst das verausgabte Kapital der Gesellschaft nicht erreicht worden wäre.

So betrugen allein während der Regierungszeit Alexanders III. die Schulden, die bei der Verstaatlichung durch Verrechnung der Garantie übernommen werden mussten, 707 Millionen Rubel *). Diese Ziffer ist so groß, dass sie unbedingt Aufmerksamkeit erregen muss, aber die Schulden dieser Art — lesen wir weiter — sind bereits von der Kommission des Grafen Baranow als hoffnungslos verlorene erachtet worden. Ferner versucht dieses Werk des Ministerkomitees diese Verluste der Regierung bei dem Eisenbahnbau dadurch zu rechtfertigen, dass die Anlegung von Schienenwegen in verschiedenen Rayons des Reiches große Vorteile in politischer und ökonomischer Hinsicht gebracht hat, wie das Steigen der Bodenpreise, die Belebung des Handelsverkehrs und die vervollkommnete Mobilisierungsmöglichkeit.

*) Unsere Eisenbahnpolitik auf Grund der Dokumente aus dem Archive des Ministerkomitees unter Redaktion des Staatssekretärs Kulomsin, Bdd. III und IV, herausgegeben von der Kanzlei des Ministerkomitees zur Jahrhundertfeier derselben. Petersburg, 1902.

Ein ähnliches Argument könnte mit noch größerem Recht angeführt werden in bezug auf die Entlastung der Bauern von den erwähnten Schulden, denn dies hätte der Volkswirtschaft allerdings zu großem Vorteile gereichen können.

In diesem offiziellen Werke wird eine strenge Kritik der Eisenbahnwirtschaft geübt und darauf hingewiesen, dass die durch Regierungsgarantie gesicherten Gesellschaften, die auf Grund zahlreicher Beispiele auf die Beihilfe der Regierung rechneten, sich bei ihren Ausgaben nicht der geringsten Sparsamkeit befleißigt und schon für Verwaltung allein ungeheure Summen verschwendet haben. Daher verlangte die Regierung für sich das Recht, die Direktoren der südwestlichen Eisenbahnen zu bestätigen, mitunter sogar zu ernennen, und unterstellte die Rjasan-Ural-Linie ihrer Kontrolle.

Die Regierung musste also sowohl die mit Defizit arbeitenden Eisenbahnen, die auf eine selbständige Erreichung einer Dividende nicht mehr hofften und deshalb schlecht wirtschafteten, gerade so loskaufen, wie diejenigen, die Überschüsse ergaben und mit der ökonomischen Entwicklung Russlands im Werte stiegen, da zu befürchten war, dass die Verstaatlichung dieser Bahnen später mit größeren Opfern verbunden sein würde.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Finanzpolitik
Turgenew, Iwan Sergejewitsch 1818-1883

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Bauernhochzeit

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Auf dem Weg zur Hinrichtung

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Brennholztransport auf dem Ladoga-See. Im Hintergrund die Festung Schlüsselburg.

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Eine Großrussin

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