Die Erfindung des Verderbens oder Vor der Flagge des Vaterlandes

Autor: Jules Verne (1828-1905), Erscheinungsjahr: 1896
Themenbereiche
Inhaltsverzeichnis
  1. Healthful House
  2. Graf d'Artigas
  3. Eine Doppelentführung
  4. Die Goélette ‚Ebba‘
  5. Wo bin ich?
  6. Auf Deck
  7. 2 Tage Seefahrt
  8. Back-Cup
  9. Im Innern
  10. Ker Karraje
  11. Im Lauf von 5 Wochen
  12. Ingenieur Serkös Ratschläge
  13. Wie Gott will!
  14. Die ‚Sword‘ im Kampf mit dem Tug
  15. In Erwartung
  16. Noch einige Stunden
  17. Einer gegen Fünf
  18. An Bord der ‚Tonnant‘
1. Healthful House

Die Visitenkarte, die der Direktor des Genesungsheims Healthful House eben – es war am 15. Juni – erhielt, zeigte, ohne Wappen oder Krone, einfach den Namen

GRAF D'ARTIGAS

Darunter stand, mehr an einer Ecke der Karte, mit Bleistift geschrieben die Adresse:

„An Bord der Goélette ‚Ebba‘ auf der Reede von New Berne, Pamplico–Sund.“

Die Hauptstadt von North Carolina, einem der zu jener Zeit vorhandenen 44 Staaten der Union, ist die nicht unbedeutende Stadt Raleigh, die etwa 150 Meilen (zu 1.609 Meter) tiefer im Landesinneren liegt. Nur infolge ihrer zentralen Lage war die genannte Stadt zum Sitz der Regierung gewählt worden, denn sie wird von anderen, zum Beispiel von Wilmington, Charlotte, Fayetteville, Edenton, Washington, Salisbury, Tarboro, Halifax und New Berne im Hinblick auf Handel und Industrie an Bedeutung übertroffen. Letztgenannte Stadt erhebt sich an der meerbusenartigen Mündung der Neuze in den Pamplico–Sund, eine Art großen Salzwassersees, den ein natürlicher Damm von Inseln und Eilanden vor der Küste von Carolina beschützt.

Der Direktor von Healthful House hätte nimmermehr erraten, weshalb ihm jene Karte zuging, wäre sie nicht von einer Zuschrift begleitet gewesen, durch die für Graf d'Artigas um Erlaubnis zum Besuch der erwähnten Anstalt ersucht wurde. Der Absender nahm an, daß der Direktor seine Zustimmung geben würde, und wollte sich im Lauf des Nachmittags mit Kapitän Spade, dem Befehlshaber der Goélette ‚Ebba‘, vorstellen.

Der Wunsch, das Innere dieses Genesungsheims kennenzulernen, einer Anstalt, die weit berühmt und von reichen Kranken aus den Vereinigten Staaten stark besucht wurde, mußte bei einem Landesfremden ja ganz natürlich erscheinen. Es war schon von andern besucht worden, die keinen so vornehmen Namen wie Graf d'Artigas führten, und diese hatten gegenüber dem Direktor von Healthful House mit lobender Anerkennung nicht gespart. Letzterer beeilte sich also, die erbetene Genehmigung zu erteilen und antwortete, daß er sich sehr geehrt fühlen werde, dem vornehmen Besucher die Pforten der Anstalt zu öffnen.

Healthful House, das auserwähltes Hilfspersonal hatte und von den berühmtesten Ärzten unterstützt wurde, war eine Gründung von Privatpersonen. Freier dastehend als öffentliche Hospitale und Krankenhäuser, doch der Oberaufsicht des Staates unterworfen, vereinigte es alle Bedingungen der Bequemlichkeit und der Gesundheit, die man von derartigen Anstalten, die zur Aufnahme einer reichbegüterten Kundschaft bestimmt sind, zu verlangen gewöhnt ist.

Man hätte schwerlich eine schönere und angenehmere Lage als die von Healthful House finden können. Geschützt auf der Rückseite eines Hügels liegend, erfreute sich die Anstalt eines Parks von 200 Acres (80 Hektar) mit den prächtigen Pflanzenarten, die Nordamerika in einer mit der der Kanarischen Inseln oder der Insel Madeira gleichen geographischen Breite hervorbringt. An der unteren Grenze des Parks öffnete sich das breite Becken der Neuze, stets erfrischt von einer Brise aus dem Pamplico–Sund und den Winden von der offenen See her, die über das schmale Uferland strichen.

In Healthful House, wo die reichen Kranken unter den vortrefflichsten hygienischen Verhältnissen behandelt und verpflegt wurden, waren Heilungsfälle häufig. War die Anstalt aber eigentlich mehr zur Behandlung chronischer Krankheiten bestimmt, so verweigerte die Verwaltung doch auch nicht die Aufnahme von Personen mit geistigen Störungen, wenn diese nicht zweifellos unheilbarer Natur waren.

Gerade zu dieser Zeit nun befand sich – ein Umstand, der die Aufmerksamkeit mehr als sonst auf Healthful House lenkte – eine sehr bekannte Persönlichkeit hier in Pflege, und das mochte wohl auch die Veranlassung zu dem von Graf d'Artigas erbetenen Besuch sein. Jener Insasse war seit 18 Monaten in der Anstalt, wo man ihm eine ganz besondere Aufsicht zuteil werden ließ.

Der Mann, um den es sich handelte, war ein Franzose namens Thomas Roch, und stand etwa im 45. Lebensjahr. Daß er unter dem Einfluß einer geistigen Störung stand, darüber herrschte keinerlei Zweifel; bisher hatten die Ärzte an ihm noch keinen wirklichen Verlust von Hirntätigkeit feststellen können. Sicherlich fehlt ihm bei den einfachen Vorkommnissen und Verrichtungen die rechte Auffassung der Dinge. Jedenfalls erwies sich sein Verstand aber unverändert, lebhaft und unanfechtbar, wenn man im Gespräch auf sein Genie kam; es ist ja bekannt, daß Genie und Wahnsinn sehr oft hart aneinandergrenzen. Im übrigen waren Vernunft und Sinnestätigkeit bei ihm schwer angegriffen. Wo sich diese äußern sollten, traten sie nur unbestimmt und lückenhaft zutage. So litt er am Fehlen des Gedächtnisses, an der Unmöglichkeit, aufmerksam zu sein, wie an Unklarheit des Bewußtseins und des Urteils. Thomas Roch war also ein der Vernunft beraubtes Wesen, das in keiner Weise für sich selbst sorgte, ja jeden Trieb der Selbsterhaltung verloren hatte, so daß man ihn wie ein Kind behandeln mußte. Man durfte ihn nie aus den Augen lassen und im Pavillon Nr. 17, den er im Park von Healthful House bewohnte, hatte sein Pfleger den strengsten Auftrag, ihn Tag und Nacht zu überwachen.

Der gewöhnliche Wahnsinn kann, wenn er nicht ganz unheilbar ist, nur durch moralische Mittel bekämpft werden. Medizin und Therapeutik sind dagegen untauglich, und ihre Nutzlosigkeit ist von den Irrenärzten auch schon seit langer Zeit anerkannt. Ob jene moralischen Mittel auch im Fall von Thomas Roch anwendbar waren, erschien zumindest zweifelhaft, selbst in der stillen, heilsamen Umgebung von Healthful House. Beständige Unruhe, steter Wechsel der Laune, Reizbarkeit und Wunderlichkeit des Charakters – diese unterschiedlichen Krankheitszeichen traten deutlich genug zutage. Kein Arzt hätte sich darüber täuschen können, und keine Behandlung erschien geeignet, sie zu unterdrücken oder nur zu mildern.

Man hat treffend gesagt, daß der Wahnsinn ein Exzeß der Subjektivität sei, das heißt, daß Seele und Geist sich zu sehr innerer Tätigkeit hingeben und Eindrücken von außen zu wenig zugänglich sind. Bei Thomas Roch traf das in höchstem Maß zu. Er lebte nur noch in seinem Innern, als Beute einer fixen Idee, die sich seiner völlig bemächtigt und ihn zuletzt auch hierher gebracht hatte. Ob es nun zu irgendeinem Ereignis, zu einer Art Rückschlag kommen würde, der ihn wieder „exteriorisierte“ – wenn dieses hier völlig angebrachte Wort erlaubt ist – das erschien zwar unwahrscheinlich, doch nicht ganz unmöglich.

Es dürfte hier die richtige Stelle sein, mitzuteilen, unter welchen Umständen dieser Franzose sein Vaterland verlassen, was ihn in die Vereinigten Staaten geführt und warum es die Bundesregierung für angezeigt und sogar notwendig erachtet hatte, ihn diesem Genesungsheim zuzuführen, wo man mit peinlichster Sorgfalt auf alles achten sollte, was er bei seinen gelegentlichen Anfällen unwillkürlich äußerte.

Vor 18 Monaten ging dem Marineminister in Washington das Gesuch um eine Audienz zu, bei der der genannte Thomas Roch dem hohen Beamten eine wichtige Mitteilung machen wollte.

Schon der Name des Nachsuchenden verriet dem Minister, um was es sich handelte. Obgleich er also die Natur der Mitteilung kannte und wußte, von welchen Forderungen sie begleitet sein würde, zögerte er doch nicht, die gewünschte Audienz sofort zu bewilligen.

Der Ruf jenes Thomas Roch war zu der Zeit schon so weit verbreitet, daß der Minister im Interesse der Angelegenheiten seines Ressorts gar nicht zögern konnte, den Gesuchsteller zu empfangen, um von den Vorschlägen, die ihm dieser persönlich machen würde, Kenntnis zu nehmen.

Thomas Roch war ein Erfinder – ein Erfindergenie. Schon hatten wichtige Entdeckungen seine Persönlichkeit in helles Licht gestellt. Durch ihn waren mancherlei bisher nur in der Theorie vorhandene Probleme der praktischen Anwendung zugeführt worden. Sein bereits bekannter Name wurde in der gelehrten Welt unter den ersten genannt, und der Leser wird selbst erkennen, infolge welcher Verdrießlichkeiten, Kränkungen, Enttäuschungen und sogar welcher Beschimpfungen, womit er von den Spottvögeln der Presse überhäuft wurde, er allmählich in das Stadium der Geistesgestörtheit geriet, das seine Unterbringung in Healthful House nötig gemacht hatte.

Seine letzte Erfindung auf dem Gebiet der Kriegsmaschinen trug den Namen ‚Fulgurator Roch‘. Dieser Apparat besaß, wenn man dem Erfinder glauben durfte, eine solche Überlegenheit gegenüber allen anderen, daß der Staat, der ihn sich sicherte, unbedingt der Beherrscher der Länder und Meere sein mußte.

Es ist ja bekannt, welch beklagenswerten Schwierigkeiten Erfinder oft begegnen, wenn es sich um ihre Erfindungen handelt, und besonders, wenn sie deren Annahme durch eine Staatsbehörde erstreben. Davon leben ja in aller Erinnerung noch zahlreiche und selbst höchst wichtige Dinge betreffende Beispiele. Wir brauchen hier darauf nicht näher einzugehen, denn derartige Dinge werden oft von schwer zu erkennenden Unterströmungen beeinflußt. Was Thomas Roch betrifft, muß man jedenfalls zugestehen, daß er, wie die meisten seiner Vorgänger, so unmäßige Forderungen stellte, den Wert seiner neuen Maschine zu einem so unermeßlichen Preis veranschlagte, daß es aussichtslos erschien, überhaupt mit ihm zu verhandeln.

Das lag aber – wie hier auch zu bemerken ist – daran, daß manche seiner früheren Erfindungen, die erfolgreiche praktische Verwendung gefunden hatten, mit wirklich seltener Kühnheit ausgebeutet worden waren. Da ihm dadurch die Vorteile, die er rechtmäßig davon erwartet hatte, entgangen waren, verfiel er allmählich einer bitteren Verstimmung. Er wurde mißtrauisch und nahm sich vor, nur höchst vorsichtig mit der Sprache herauszurücken, fest auf dem Wort zu beharren und auf jeden Fall eine so beträchtliche Geldsumme zu verlangen, daß auf solche Forderungen, noch dazu vor jeder Erprobung der Sache, kein Mensch eingehen konnte.

Zuerst bot dieser Franzose den Fulgurator Roch natürlich Frankreich an. Er informierte die zur Entgegennahme solcher Mitteilungen qualifizierte Kommission darüber, um was es sich handelte. Das war nämlich eine selbstgetriebene Maschine von ganz besonderer Konstruktion, die mit einem ganz neuen Explosivstoff geladen war und die nur unter der Wirkung einer ebenfalls neuen Zündmethode aktiviert wurde.

Wenn diese auf ihr Ziel losgelassene Maschine nicht durch Aufprall darauf, sondern einige hundert Meter davon entfernt explodierte, übte sie auf die umgebenden Luftschichten eine so furchtbare Wirkung aus, daß jedes Bauwerk, ein detachiertes Fort oder ein Kriegsschiff, in einem Umkreis von 10.000 Quadratmetern Größe augenblicklich zerstört werden mußte. Die Sache lief auf dasselbe Prinzip hinaus, wie die von der Zalinskischen pneumatischen Kanone geschleuderte Kugel, doch mit mindestens hundertfacher Wirkung.

Entsprach die Erfindung Thomas Rochs wirklich dieser Darstellung, so bedeutete sie für sein Vaterland die Übermacht in der Verteidigung wie im Angriff. Ob sich der Erfinder der Übertreibung schuldig machte, obwohl er die Wirkung ähnlicher, angeblich unvergleichlicher Maschinen kennen mußte, das konnten nur praktische Versuche lehren. Gerade auf solche Versuche wollte er aber nicht eingehen, ehe er nicht die Millionen in der Tasche hatte, auf die er seinen Fulgurator schätzte.

In den geistigen Fähigkeiten Thomas Rochs hatte sich bereits eine Art Gleichgewichtsstörung vollzogen. Er war nicht mehr in vollem Besitz seiner geistigen Fähigkeiten. Man merkte, daß er auf einen Weg geraten war, der ihn Schritt für Schritt zum Wahnsinn führen mußte. Keine Regierung hätte sich herbeilassen können, mit dem Mann auf die von ihm gestellten Bedingungen hin zu verhandeln.

Die französische Kommission mußte jeden weiteren Verkehr abbrechen, und die Zeitungen, selbst die der radikalen Opposition, sahen zuletzt ein, daß es schwierig war, diese Angelegenheit weiter zu verfolgen. Thomas Rochs Vorschläge wurden also abgelehnt, ohne daß man im übrigen befürchten mußte, daß ein anderer Staat darauf eingehen könnte.

Bei dem Exzeß von Subjektivität, die im tief gestörten Gemüt Thomas Rochs immer mehr aufwucherte, ist es nicht zu verwundern, daß die allmählich erschlaffte Saite des Patriotismus in ihm endlich zu schwingen aufhörte. Wir heben zur Ehrenrettung der menschlichen Natur hervor, daß Thomas Roch zu jener Zeit schon mehr unbewußt handelte. In ihm lebte nichts mehr unverletzt, als was sich unmittelbar auf seine Erfindung bezog; das beherrschte er auch jetzt noch mit genialer Kraft. Was dagegen die gewöhnlichsten Details des Daseins anging, trat sein geistiger Verfall jeden Tag mehr hervor und raubte ihm die Verantwortlichkeit für sein Tun und Lassen.

Was nun kommen mußte, kam. Unter zunehmender Reizbarkeit schliefen die Gefühle der Vaterlandsliebe, des heiligsten inneren Kerns des Menschen – der früher und mehr als sich selbst, seinem Vaterland gehört – in der Seele des Erfinders ein. Er dachte an andere Völker, überschritt die Grenze und bot den Fulgurator Roch dem Deutschen Reich an.

Nach dem Bekanntwerden der unmäßigen Forderungen Thomas Rochs lehnte es die Reichsregierung aber ab, sich mit ihm einzulassen. Übrigens war man hier schon mit der Prüfung einer neuen ballistischen Maschine beschäftigt und glaubte von der des französischen Erfinders absehen zu können.

Jetzt verdoppelte sich sein Ingrimm durch den Haß – einen instinktiven Haß gegen die Menschheit – insbesondere als auch seine Schritte beim Admiralitätsrat Großbritanniens völlig gescheitert waren. Die Engländer, als besonders praktische Leute, wiesen Thomas Roch freilich nicht von Anfang an ab, sondern suchten durch List etwas aus ihm herauszulocken. Thomas Roch ließ sich jedoch auf nichts ein. Sein Geheimnis war Millionen wert, und entweder erhielt er die oder das Geheimnis blieb unenthüllt. So zog sich schließlich auch die Admiralität von ihm zurück.

Unter diesen Verhältnissen und als sich sein Geisteszustand schon Tag für Tag verschlimmerte, unternahm er einen letzten Versuch bei Amerika ... etwa 18 Monate vor dem Anfang unserer Erzählung.

Noch praktischer als die Engländer, feilschten die Amerikaner gar nicht um den Fulgurator Roch, dem sie bei dem Ruf des französischen Chemikers einen außerordentlichen Wert beimaßen. Mit Recht hielten sie den Mann für ein Genie und trafen Maßnahmen, die durch seinen geistigen Zustand geboten erschienen, mit dem Vorbehalt, ihn später in entsprechendem Maß zu entschädigen.

Da Thomas Roch nämlich zu offenbare Beweise von Wahnsinn gab, hielt es die Regierung, schon im Interesse seiner Erfindung selbst, für geraten, ihn zu internieren.

Thomas Roch wurde, wie wir wissen, nicht in eine eigentliche Irrenanstalt gebracht. Die Anstalt Healthful House bot jede Sicherheit für die Behandlung des Kranken; doch obgleich ihm die aufmerksamste Pflege zuteil geworden war, war eine Heilung bisher nicht erzielt worden.

Wir betonen hier, da es wichtig genug erscheint, nochmals, daß Thomas Roch trotz seiner gewöhnlichen Geistesabwesenheit sofort ein ganz anderer wurde, wenn man irgendwie das Gebiet seiner Entdeckungen berührte. Dann lebte er gleichsam auf, sprach mit der Bestimmtheit eines Mannes, der seiner sicher ist, mit einer Überzeugung, die tiefen Eindruck machte. Im Feuer der Beredsamkeit schilderte er die wunderbaren Eigenschaften seines Fulgurators, die in der Tat außerordentlichen Wirkungen, die er haben sollte. Über die Natur des Explosivstoffs und des Zünders, über die Grundstoffe beider, die Herstellungsweise und über die nötigen Handgriffe bei der Verwendung bewahrte er aber eine Zurückhaltung, aus der ihn niemand reißen konnte. Ein- oder zweimal, bei besonders starken Krisen, schien es, als ob ihm das Geheimnis seiner Erfindung entschlüpfen wollte und man traf daraufhin alle Vorsichtsmaßnahmen ... vergeblich, und wenn Thomas Roch auch den Trieb der Selbsterhaltung verloren hatte, so hatte er wenigstens den der Erhaltung seines Geheimnisses nicht eingebüßt.

Der Pavillon Nr. 17 in Healthful House war von einem mit lebenden Hecken umschlossenen Garten umgeben, in dem der Klient unter Begleitung seines Pflegers umherspazieren konnte. Dieser Pfleger bewohnte denselben Pavillon wie er, schlief in demselben Zimmer, beobachtete ihn Tag und Nacht und verließ ihn keine Stunde. Er erspähte bei gelegentlichen Halluzinationen, die meist während des Übergangs vom Wachen zum Schlafen auftraten, seine geringsten Worte und belauschte sogar seine Träume.

Der Pfleger nannte sich Gaydon. Als er kurz nach der Einlieferung Thomas Rochs gehört hatte, daß man hier einen Pfleger suchte, der die französische Sprache beherrschte, hatte er sich in Healthful House vorgestellt und war als Pfleger für den neuen Patienten der Anstalt angenommen worden.

Der angebliche Gaydon war in Wahrheit ein französischer Ingenieur namens Simon Hart, der seit Jahren bei einer Fabrik für chemische Erzeugnisse in New Jersey angestellt war. Simon Hart zählte 40 Jahre, hatte eine breite Stirn mit Denkerfalten und ein sicheres Auftreten, das Entschlossenheit und Zähigkeit erkennen ließ. In den verschiedenen Fragen, die mit der Vervollkommnung der modernen Bewaffnung in Verbindung stehen, sehr bewandert und informiert über die Erfindungen, die deren Wert beeinflussen konnten, kannte Simon Hart auch ebenso gründlich alle bisher erzeugten Sprengstoffe, deren Anzahl sich am Ende des 19. Jahrhunderts auf etwa 1.100 belief. Ihm kam es nicht darauf an, einen Mann wie Thomas Roch erst zu prüfen; er glaubte an die mächtige Wirkung seines Fulgurators und bezweifelte nicht, daß er im Besitz einer Maschine war, die imstande wäre, die Grundlagen der Kriegführung zu Land wie zur See, für den Angriff wie für die Verteidigung umzugestalten. Da er gehört hatte, daß der Wahnsinn in dem Mann den Gelehrten noch verschont hatte, daß in diesem teilweise der Zerrüttung verfallenen Gehirn noch ein heller Schein, eine Flamme, die Flamme des Genies, aufleuchtete, beherrschte ihn nur noch der eine Gedanke, daß die französische Erfindung, wenn jener sie in einem Anfall einmal verriet, einem andern Land als Frankreich dienstbar werden könnte. Sein Entschluß stand fest, sich als Pfleger von Thomas Roch anstellen zu lassen, indem er sich für einen geläufig französisch sprechenden Amerikaner ausgab. Er nahm eine Reise nach Europa zum Vorwand, reichte seinen Abschied ein, wechselte den Namen, die Umstände begünstigten ihn, sein Gesuch wurde vom Direktor genehmigt und so versah er nun seit 15 Monaten den Pflegedienst bei dem Patienten von Healthful House.

Dieser Entschluß zeugte von einer seltenen Opferwilligkeit, von edler Vaterlandsliebe, denn es handelte sich für einen Mann von der Bildung Simon Harts um eine recht peinliche Dienstleistung. Man vergesse aber nicht, daß der Ingenieur den Erfinder Thomas Roch nicht um den Vorteil aus seinem Geheimnis, wenn dieser es sich entschlüpfen ließ, bestehlen, sondern ihm den verdienten Gewinn sichern wollte, wenn er die Vernunft jemals wieder erlangte.

Seit 15 Monaten lebte also Simon Hart, oder vielmehr Gaydon, bei dem Geisteskranken, beobachtete, belauschte ihn und richtete sogar bestimmte Fragen an den Armen, doch ohne daß er irgend etwas erreicht hätte. Hörte er den Erfinder aber von seiner Entdeckung sprechen, so überzeugte ihn das mehr und mehr von ihrer außergewöhnlichen Bedeutung. Vor allem fürchtete er freilich, daß der partielle Wahnsinn Thomas Rochs in allgemeinen Wahnsinn ausarten und daß ein heftiger Anfall sein Geheimnis mit ihm vernichten könnte.

Das war die Lage Simon Harts, das die Aufgabe, der er sich im Interesse seines Vaterlands widmete!

Trotz so vieler Enttäuschungen und Kränkungen schien die leibliche Gesundheit Thomas Rochs, dank seiner kräftigen Konstitution, doch nicht gelitten zu haben. Die Nervosität seines Temperaments hielt ihn auch gegenüber so vielen zerstörenden Einflüssen aufrecht. Von Mittelgröße, mit mächtigem Kopf, breiter Stirn, gewaltig entwickeltem Schädel, graugesprenkeltem Haar, mit verstörtem, doch lebhaftem, festem, gebieterischem Blick, wenn sein vorherrschender Gedanke darin einen Blitz aufleuchten ließ, mit dichtem Schnurrbart unter einer Nase mit beweglichen Flügeln, einem Mund mit festgeschlossenen Lippen, als sollten sie kein Geheimnis herausschlüpfen lassen, mit nachdenklichem Gesichtsausdruck und der Haltung eines Mannes, der schon lange gekämpft hat und entschlossen ist, auch noch weiter zu kämpfen ... so hat man sich den Erfinder Thomas Roch vorzustellen, der in einem der Pavillons von Healthful House untergebracht war, ohne davon eine Vorstellung zu haben, und den der Ingenieur Simon Hart unter dem Namen Gaydon sorgsam überwachte.