Die Entwicklung des Luftschiffs im letzten Jahre.

Aus: Die Umschau. Übersicht über die Fortschritte und Bewegungen auf dem Gesamtgebiet der Wissenschaft und Technik. sowie ihrer Beziehungen zur Literatur und Kunst.
Autor: Hildebrandt, Alfred (1870-1949) Hauptmann, Luftfahrtpionier und Schriftsteller, Erscheinungsjahr: 1909

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Luftschiffe, Zeppelin, Flugschiff, Luftballon, Luftschiffer, Lenkballon, Flugpioniere, Ballonfahrer
Nicht minder große Fortschritte wie in der Flugschifffahrt*) sind im vergangenen Jahre in der Aerostatik nachzuweisen. Dabei ist die Tatsache zu erwähnen, dass Deutschland in Bezug auf seine Erfolge an der Spitze steht: die Ergebnisse der glänzenden Versuchsfahrten mit dem Flugschiff des Grafen Zeppelin, mit dem Militärballon Basenach-Groß-Sperling und mit dem Parsevalballon der Motor-Luftschiff-Studiengesellschaft stehen einzig in der Welt.

*) Vgl. den Aufsatz von Hauptmann Hildebrandt, Umschau 1909, Nr. 9.

In Belgien hat der Oberst und Kommandeur der belgischen Luftschiffertruppe Le Clement de Saint-Marcq schon 1907 eifrigst an der Neuorganisation der militärischen Luftschiffertruppe gearbeitet und in der Nähe von Antwerpen einen vollständigen Luftschifferpark eingerichtet. Dieser Offizier verbindet mit reichsten mathematischen und physikalischen Kenntnissen auch einen äußerst praktischen Blick. Le Clement hat jetzt den Bau eines Luftballons in Angriff genommen, mit dem die Versuche bald begonnen werden sollen. Viel ist über diese Konstruktion nicht in die Öffentlichkeit gedrungen, und das wenige, was man darüber gehört hat, klingt so rätselhaft, dass man sich noch kein Bild daraus machen kann. Sicher ist nur, dass die Hülle Schotteneinteilung besitzt und der Konstrukteur ganz eigenartige Schrauben erfunden hat, von denen er sich einen besonders hohen Nutzeffekt verspricht. Nach Ansicht Le Clements, wie er sie wiederholt in theoretischen Abhandlungen ausgesprochen hat, böte der Bau von sehr großen Luftschiffen, etwa bis zu 100.000 cbm Fassungsvermögen, keinerlei Schwierigkeiten, und man könne tatsächlich auch bis zu einem gewissen Grade durch Steigerung der Größe auch eine Steigerung der Eigengeschwindigkeit erzielen. Er bestätigt hiermit die vom Grafen Zeppelin und dem österreichischen Major Hoernes ausgesprochenen Ansichten.

In Russland arbeitet jetzt der Leiter des militärischen Luftschiffer-Dienstes, General von Kowanko, daran, einen Lenkballon herzustellen. Er hatte im März v. Js. in Paris Gelegenheit gehabt, die französischen Kriegsluftschiffe zu besichtigen und ließ sich vom Verfasser in mündlicher Aussprache noch nicht ganz überzeugen, dass für russische Zwecke sich gerade der Parsevalballon besonders gut eigne. Ganz abenteuerliche und sehr unwahrscheinliche Berichte werden über die Erfindung eines russischen Ingenieurs namens Tatorinoff verbreitet; es erübrigt deshalb auf die Nachrichten über seine Konstruktion einzugehen.

In Italien hat man mit dem verbesserten Luftschiff des Grafen Da Schio einige erfolgreiche Aufstiege durchführen können. Bei diesem Ballon erreicht der Erfinder durch Einfügung einer starken Gummischicht, dass die Hülle bei der durch das Hochgehen bedingten Volumenvergrößerung des Gases sich entsprechend auszudehnen vermag. Ferner hat Major Moris, Kommandeur der italienischen Luftschiffertruppe, einen Aerostaten gebaut, der bei seinen Versuchsfahrten seine Verwendung für militärische Zwecke erwiesen hat.

In Spanien hat man bei der Luftschiffertruppe in Guadalajara einen Lenkballon konstruiert, der durch eine in der Mitte befindliche, sich ringsherum ziehende Einschnürung auffällt. Der Ballon ist nach dem bauleitenden Ingenieur "Torreo-Quovedor" benannt worden; Mitarbeiter daran ist der Flügeladjutant des Königs, Kapitän Kindelan. Letzterer ist weiteren Kreisen durch die Fahrt von Valencia bekannt geworden, bei der er mit seinem Ballon ca. 12 Stunden im Mittelländischen Meere trieb und nur mit knapper Not von einem vorüberfahrenden Dampfer gerettet wurde. Ende Januar weilte dieser Offizier mit dem Oberst Vives y Vieh in Berlin, wo eventuell ein Parsevalballon für Spanien angekauft werden soll.

In Amerika haben die Aeronauten Stevens und Baldwin der Regierung Lenkballons angeboten, die von August bis November zur Abnahme gelangt sind. Nach vorschriftsmäßiger Erledigung der Versuchsfahrt ist das Baldwinsche Fahrzeug bereits von der Regierung übernommen worden. Es hat 40 km Eigengeschwindigkeit erreicht und genügende Lenkbarkeit bewiesen.

In England finden jetzt Versuche mit dem wiederhergestellten "Nulli seeundus" und einem ganz neuen Ballon statt. Bislang ist die englische Luftschiffer-Abteilung sehr durch Missgeschick verfolgt worden.

Am weitesten ist man unzweifelhaft in Deutschland. Graf Zeppelin hatte mit seinem Luftschiff, Modell 1908, am 1. Juli eine zwölfstündige Fahrt von Friedrichshafen über Luzern nach Zürich und zurück ausführen können. Die Katastrophe, welche sich nach der Fahrt von Friedrichshafen über Basel, Straßburg, Mainz nach Stuttgart am 5. August bei Echterdingen ereignet hat, ist immer noch frisch in aller Gedächtnis. Das Vertrauen in seine Konstruktionen ist durch das Unglück nicht erschüttert worden, haben sich doch sowohl Prinz Heinrich als auch der deutsche Kronprinz dem Luftschiff anvertraut. Der Militärballon hat eine Reihe von befriedigenden Fahrten durchgeführt; am 1. Juli strandete er im Grunewald, nachdem er durch vertikale Luftströmung in eine Höhe von 1500 m geraten war. Wiederhergestellt und verbessert konnte er seine Fahrten bald von neuem aufnehmen. Die glänzendste Fahrt konnte er in der Nacht vom 11. auf den 12. September ausführen. In 13 Stunden und einigen Minuten flog er von Berlin über Rathenow, Stendal, Magdeburg, Potsdam zurück nach Berlin. Damit hält dieses Luftschiff den Weltrekord des Jahres 1908 in Bezug auf die Dauer. Der Zeppelinsche Rekord wurde über eine Stunde geschlagen. Bei einer weiteren Fahrt ereigneten sich unvorhergesehene Zwischenfälle und der Militärballon strandete im Haff bei Wollin. Die Insassen blieben unversehrt und das Material konnte geborgen werden. Der verbesserte Parsevalballon hat wiederholt längere Fahrten unternommen und ist nach einer zehnstündigen Fahrt von der Militärverwaltung übernommen worden.

Wenn auch die Fortschritte in der Aeronautik glänzende sind, soll man doch nie vergessen, dass wir uns noch immer im Anfangsstadium der Entwicklung lenkbarer Luftschiffe befinden und Unfälle der verschiedensten Art vorläufig nicht auszuschalten sind. Hierbei ist es ganz gleichgültig, ob die Ballons starr oder ob sie nach dem Prinzip der Ballonet-Luftschiffe erbaut worden sind; alle Systeme haben schon die verschiedensten Havarien erlitten und werden sie auch in Zukunft erleiden. Welches das beste System mal später sein wird, vermag man jetzt noch nicht zu sagen. Die größten positiven Leistungen hat bis jetzt der Zeppelinsche Ballon erzielt, wobei jedoch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen ist, dass auch die andern Systeme diese Leistung erreichen und übertreffen können.

Die wissenschaftliche Luftschifffahrt ist augenblicklich, was die Ergebnisse ihrer intensiven Arbeit anlangt, auf einen gewissen toten Punkt geraten. Es hat sich eben herausgestellt, dass unsre Kenntnisse über die Physik der Atmosphäre noch gewaltige Lücken aufweisen und bei gleichzeitigem weiteren Ausbau der Methode noch viele Untersuchungen angestellt werden müssen, bis wir etwas mehr Aufklärung über die Gesetzmäßigkeit der geheimnisvollen Vorgänge im Luftmeer erhalten. Immerhin scheint bis jetzt so viel sicher zu sein, dass die ständige Abnahme der Temperatur in mehr oder minder hohem Maße nur bis zu etwa 14 km Höhe vor sich geht, darüber hinaus aber alle vertikalen Luftbewegungen aufzuhören scheinen. Ferner kann es als sicher gelten, dass es in größeren Höhen, an der Grenze der vertikalen Luftbewegung, über den Polen weniger kalt ist, als über dem Äquator, wo die senkrechte Zirkulation höher hinaufreicht. Die Notwendigkeit, eingehendere Untersuchungen anzustellen, hat dazu geführt, dass man jetzt nicht nur der Forschung über der Terra firma, sondern auch der über den Meeren größere Aufmerksamkeit beimisst. Ebenso wie im Juli v. J. zahlreiche Schiffsexpeditionen ausgerüstet worden sind, hat man auch in diesem Jahre, allerdings in etwas geringerem Maße, Spezial-Dampfer entsandt, welche mittelst Registrier- und Pilotballons sowie durch Drachen die höheren Schichten der Atmosphäre untersucht haben. Von deutschen Expeditionen ist besonders diejenige des aeronautischen Observatoriums zu Lindenberg bei Beeskow zu erwähnen, dessen Direktor, Geheimrat Aßmann, seinen Assistenten Prof. Berson, sowie den Meteorologen Dr. Elias zum Viktoria-Nyanza-See entsandt hat. Auch die meteorologischen Arbeiten, welche unsere Kriegsschiffe im Ozean ausgeführt haben, sind von großer Wichtigkeit. Auf den Azoren hatte der Präsident der Internationalen Kommission für wissenschaftliche Luftschifffahrt für den Monat Juli eine besondere Station persönlich eingerichtet. Die Ergebnisse aller unsrer Expeditionen sind glänzende gewesen. Nähere Angaben können jedoch erst später gemacht werden, wenn das Material bearbeitet ist.

Noch besonders bemerkenswert sind die Untersuchungen, welche auf Veranlassung Dr. Bamlers, des verdienstvollen Gründers des niederrheinischen Vereins für Luftschifffahrt, von diesem Klub ausgeführt werden. Gelehrte und praktische Luftschiffer, wie Dr. Bamler, haben wiederholt bewiesen, dass die Ergebnisse der Beobachtungen bei Ballonfahrten und Drachenaufstiegen sehr wichtig zur Verbesserung der Wetterprognose sind.

In Bezug auf die Rechte und Pflichten der Luftschiffer werden jetzt in zahlreichen Staaten Erhebungen angestellt, die darauf hinzielen, ein internationales Reglement für die Aeronautik zu entwerfen, genau so, wie es schon seit langer Zeit für die Seeschifffahrt in Gültigkeit ist. Namentlich in neuster Zeit beschäftigen sich viele Abhandlungen mit der Frage, wie ein solches Recht am zweckmäßigsten und ohne Einigungen der besonderen Landesinteressen zu fundieren ist. Für den Kriegsfall gilt noch das Ergebnis der am 18. Oktober 1907 ratifizierten Beratungen der Friedenskonferenz. Hiernach ist die Erklärung der ersten Friedenskonferenz, dass es verboten sein solle, aus Luftschiffen Geschosse oder Sprengstoffe herabzuwerfen, nunmehr aufgehoben, weil diese Bestimmung nicht die Zustimmung aller beteiligten Staaten gefunden hat. Dagegen ist eine neue, sehr wichtige und wünschenswerte Vereinbarung getroffen worden, nach der auch Zivilpersonen, die in Luftschiffen im Kriegsfalle befördert werden, Mitteilung überbringen usw., bei ihrer Gefangennahme nicht als Spione zu behandeln sind.

Sehr rege hat sich das Vereinsleben betätigt. In Deutschland sind eine Reihe von neuen Vereinen in Breslau, Frankfurt, Hamburg, Dresden, Chemnitz und Mannheim gebildet worden, die sich alle dem deutschen Luftschifferverband angeschlossen haben. Besonders entwickelt hat sich der älteste deutsche Klub, der "Berliner Verein für Luftschifffahrt". Auch die Flugtechnik hat derselbe in seinem Programm aufgenommen und sich einen Gleitflieger von den Gebrüder Voisin in Paris gekauft, mit welchem einige seiner Mitglieder Flugversuche anstellen. Ferner hat der Verein von der Stadt Berlin ein besonderes Gelände bei den Schmargendorfer Gaswerken gepachtet, woselbst eine Ballonhalle errichtet worden ist.

Der deutsche Luftschifferverband tagte am 25. Mai 1908 in Düsseldorf, wo sehr wichtige Beschlüsse gefasst worden sind. So ist es für die Allgemeinheit nicht unerheblich, dass man die Bedingungen zur Erwerbung der Führerqualifikation erheblich verschärft hat. Die Ausarbeitung der bezüglichen Vorschriften ist jetzt beendet. Sie bezweckten, sowohl die subjektive Sicherheit für die in Luftschiffen zu befördernden Personen zu vermehren, als auch Garantien dafür zu gewinnen, dass nicht etwa bei den Fahrten erhebliche Sachbeschädigungen oder gar Verletzungen nichtbeteiligter Personen sich ereignen.

In Berlin hat sich außerdem unter dem Protektorat des Kronprinzen ein deutscher Aero-Klub konstituiert. Dieser Klub, dessen Ehrenpräsident der Herzog von Sachsen-Altenburg ist, mietete sich ein eigenes Klubhaus und betätigt sich eifrigst in der Praxis.

Diese außerordentlich vermehrte Zahl der Ballonfahrten hat das Bedürfnis nach aeronautischen Landkarten wachgerufen und hierbei haben sich die europäischen Staaten zum gemeinsamen Vorgehen entschlossen. Viele solcher Karten, welche namentlich Starkstromleitungen, Leuchttürme, sowie besonders auffallende Merkmale des Terrains markieren, sind bereits fertiggestellt. Namentlich die offen über der Erde angelegten Starkstromleitungen bilden eine große Gefahr. Sicher wird noch manches Unglück angerichtet werden, ehe man dafür Sorge trägt, dass diese gefährlichen Leitungen von der Erdoberfläche verschwinden. Deswegen die Ballonfahrten zu verbieten, wird wohl kaum angängig sein, zumal dieselben im Interesse der Landesverteidigung nicht zu entbehren sind.

Eine Internationale Aeronautische Ausstellung größten Stils wird im Sommer in Frankfurt a. M. stattfinden; die verschiedensten Systeme von Motorballons und Flugmaschinen werden dort ausgestellt sein und Fahrten unternehmen. Eine kleinere mehr private Ausstellung ist für das Frühjahr in Berlin in Aussicht genommen.
Die auf Anregung des Kaisers ins Leben gerufene "Motor-Luftschiff-Studiengesellschaft" hat ihre Arbeiten in intensiver Weise fortgesetzt. Als ein besonderes Resultat ist hervorzuheben, dass es der Gesellschaft gelungen ist, einen Wettbewerb für Luftschiffmotore durchzuführen. Diese Konkurrenz war mit Modellen verschiedenster Art beschickt und hat der Entwicklung der deutschen Luftschiff-Motoren-Industrie wesentlichen Vorschub geleistet.

Ganz erheblich hat die praktische Betätigung des Luftsports zugenommen. Überall im ganzen Deutschen Reiche finden täglich Ballonfahrten statt, und es ist ein erfreuliches Zeichen für die Weiterentwicklung, dass Deutschland nunmehr in Bezug auf die Qualität des verbrauchten Füllgases an erster Stelle steht und Frankreich übertroffen hat. Die Gründung eines internationalen Verbandes F. I. A. haben wir den Franzosen zu verdanken. Dieser Verband gewinnt in allen Ländern immer mehr Mitglieder; im Mai v. J. fand ein Kongress in London und gleichzeitig eine internationale Wettfahrt unter Beteiligung von 31 Ballons der verschiedensten Nationen statt. In Paris, Barcelona, in Brüssel und Berlin haben internationale Fahrten stattgefunden.

Das weibliche Geschlecht will auch bei der Betätigung des Luftsportes sich vom Mann nicht übertreffen lassen. Die englische Lady Asheton Harbord hat bereits über 100 Ballonfahrten ausgeführt und sich in Wettkämpfen mit dem stärkeren Geschlecht häufig erfolgreich bewiesen. Nun beginnt auch in Deutschland die Dame sich dem schönen Luftsport zuzuwenden. Bei einer internen Ballonfahrt fuhr Frau de la Quiante in ihrem Korb allein in die Höhe; mehrere andre Damen haben in diesem Jahre sogar die Qualifikation erworben, ein Luftschiff selbständig zu führen, wie beispielsweise Frau Hilde Bamler, die Gattin des oben genannten niederrheinischen Luftschiffers. In Österreich betätigt sich besonders Frau Hinterstoißer, die Gattin des bekannten Kommandeurs der Luftschiffertruppe.

Die Förderung der Luftschifffahrt verdankt einen wesentlichen Impuls der Aussetzung von Preisen. Bis jetzt ist man in Deutschland leider hierin gegen andere Länder noch weit zurück. Abgesehen von der schon erwähnten Motorluftschiff-Studien-Gesellschaft haben noch Dr. Gans in München 10.000 Mark und der Großindustrielle Lanz in Mannheim 50.000 Mark zur Verfügung gestellt. Wie wir hören haben sich für das laufende Jahr noch mehrere Mäzene bereit gefunden, die für Konkurrenzflüge auf der Frankfurter Ausstellung größere Preise gestiftet haben, so dass wir auf immer größeres Interesse und entsprechend intensivere Entwicklung des deutschen Flugwesens rechnen dürfen.

Luftschiff Graf Zeppelin_

Luftschiff Graf Zeppelin_

Luftschiff Graf Zeppelin

Luftschiff Graf Zeppelin