Die Völkerwanderung.

Ums Jahr 200 fingen die Not des Lebens und die Herrschsucht Einzelner einerseits, aber auch das ideale Streben nach einem deutschen Nationalstaate andererseits an, die lange ersehnten Völkervereinigungen und dauernden Bündnisse in Wirklichkeit zu schaffen. Es entstanden die Verbände der Alemannen am Oberrhein, der Franken am Niederrhein, der Sachsen zwischen dem Rhein und der Elde, der Goten an der Donau. Besonders mächtig waren die letztgenannten, die ihre Herrschaft zu Zeiten bis in des oströmische Reich und an das Schwarze Meer ausbreiteten. Doch muss man sich diese Verbände noch keineswegs als eine gänzliche Verschmelzung der genannten Völker unter einem bestimmten Führer und beständigen Oberleiter denken. Dazu war der wuchtige Anstoß nötig, welcher nunmehr als Alles erschütternde Katastrophe eintrat und so zu sagen alles Bestehende über den Haufen warf.

In der Mitte des vierten Jahrhunderts kamen aus dem fernen Asien große Volkerschwärme, die wie ein ungeheurer Strom bald ganz Europa überfluteten, unter diesen waren die Hunnen die ersten und am meisten gefürchteten. Sie waren ein wildes hässliches Reitervolk, das auf windschnellen Pferden mordend und sengend das Land überfiel und die Bewohner aus ihren Sitzen drängte. Diese warfen sich dann wieder auf andere, und dadurch entstand ein fast zwei Jahrhunderte andauerndes Bewegen und Rücken unter den Völkern Europas, die sogenannte Volkerwanderung. Dieselbe hat das Angesicht des ganzen Weltteiles verändert und vor allem dem tausendjährigen Bestände des mächtigen weströmischen Reiches ein Ende gemacht.


Damals zogen Sachsen und Angeln aus dem Norden Deutschlands nach Britannien und gaben dem Lande, seinen jetzigen Namen und die Hauptgrundlage seiner Sprache. Andere Stämme gingen nach Italien, zuletzt die Langobarden, deren Namen Oberitalien noch führt, Lombardei. Die Burgunder, Alemannen und Franken drangen über den Rhein, und von den letztgenannten leitet Frankreich seinen Namen her. Ganze Stämme — die Goten in Italien und Spanien, die Vandalen in Afrika, die Sueven in Portugal — gingen, nachdem sie mächtige Reiche von ein- bis dreihundertjährigem Bestehen gegründet, völlig unter oder vermischten sich, bis zu endlicher Unkenntlichkeit mit anderen, sie erdrückenden Volksstämmen. Aus der Verschmelzung mancher deutscher Stämme mit den unterjochten Römern entstanden die romanischen Völker, wie Italiener, Spanier, Franzosen, Rumänen und andere, die den Süden Europas bewohnen.

Die mehr unter sich gebliedenen germanischen Völker — Deutsche, Schweizer, Österreicher, Niederländer, Dänen, Schweden und Engländer — bewohnen, hier und dort mit slavischen Elementen vermischt, seither die Mitte und den Nordwesten von Europa, während eigentliche Slaven, Griechen und spater eingedrungene Türken den Osten innehaben.

Viel Unheil hat die Üderflutung Deutschlands während der Völkerwanderung diesem gebracht; aber auch Segen war in ihrem Gefolge, denn das rechte Bewusstsein deutscher Zusammengehörigkeit ist erst durch die gemeinsame Not zu größerer Stärke erwacht.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Deutschen