Die Deutschen in Russland
Eine patriotische Zeitskizze
Autor: Wimmer, Hermann Dr. (?-?), Erscheinungsjahr: 1847
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Russen, Deutsche, Heimat, Auswanderung, Auswanderer, Kolonisten, Das Geschäftsleben der Bäcker und Apotheker, der Schneider, der Kaufleute, der Buchhändler, der Lehrer, Privatlehrer, Hauslehrer, Gymnasiallehrer, Universitätslehrer, Das Gesellschaftsleben, Die gute Gesellschaft, Die schlechte Gesellschaft, Die Frauen, Die Karten, Die Musik
Vor Kurzem aus Russland zurückgekehrt, wollte ich mich der bunten Gedanken, welche die Fremde im Lichte der Heimat bei mir angeregt hatte, baldigst entschlagen. So entstand dieses Buch, das um freundliche Aufnahme bittet, und dafür zwar mit keiner Belehrung, aber mit einiger Unterhaltung zu lohnen hofft. Scherz und Ernst wechseln darin mannigfach ab, aber der Scherz ist ein Kind des Ernstes, und der Ernst mit dem Spaße verbrüdert.
Dresden.
H. W.
Inhalt.
Einleitung
Das Geschäftsleben
der Bäcker und Apotheker
der Schneider
der Kaufleute
der Buchhändler
der Lehrer
Privatlehrer
Hauslehrer
Gymnasiallehrer
Universitätslehrer
Das Gesellschaftsleben
Die gute Gesellschaft
Die schlechte Gesellschaft
Die Frauen
Die Karten
Die Musik
Schluss
Die Deutschen in Russland.
Mein Standpunkt ist der Kreml in Moskau. Da, wo das Leben der Nation in seiner Ursprünglichkeit zu finden ist, wo der Quell des alten Russentums ewig frisch hervorquillt, da lasst uns den Haufen von Fremden betrachten, die mit dem halben Spottnamen „Nemzi“ bezeichnet werden, so echt auch das Diplom ist, das die Meisten von ihnen für ihre russische Untertänigkeit aufzuweisen haben. Ich folge derselben von Sprache und Abstammung entnommenen Einteilung; denn sonst, wenn ich die zu russischen Untertanen gewordenen Deutschen ausnehmen wollte, würde die Zahl derer, von welchen ich hier zu reden hätte, so klein werden, dass ich kaum mit gutem Gewissen ein Buch über sie schreiben könnte. Zu groß darf die Zahl aber auch nicht werden, und darum bleiben die Petersburger Deutschen von unserer näheren Betrachtung ausgeschlossen, um so mehr, als das dort vorherrschende deutsch-europäische Leben und die große Masse der dort lebenden Ausländer den Einzelnen leichter seine Eigentümlichkeit bewahren lässt, als dies in Moskau der Fall ist. Petersburg ist und bleibt das Fenster, durch welches Asien nach Europa guckt; wenn man sich zu lange dabei aufhält und der Wind gerade ungünstig ist, so ist man hier leichter einer Erkältung ausgesetzt, als anderswo. Aber Moskau ist die freundliche Unterschenke mit großem Gastzimmer, vielen Spielstuben und einer Menge komfortabler Wohnungen, in denen man recht behaglich lebt und gut bedient wird, wenn nur in dem Zimmer eine Klingelschnüre angebracht ist. So kehre denn auf einen Tag mit mir hier ein, freundlicher Leser, und hoffe mit mir, dass es Dir wohlergehe; dem bärbeißigen Russenfeinde aber sei es gesagt, dass es auf der Erde ein Geschlecht kleiner Tiere gibt, Iltisse genannt, welche in Schmutzrinnen sich herumtreiben und doch den schönsten und reinsten Pelz sich bewahren. Er mag den armen Brüdern in Russland eine Träne weihen; es werden sich auch Andere finden, denen das Los derselben nicht so bedauernswert erscheint, dass sie nicht auf einige Zeit mit ihnen tauschen möchten. Jedenfalls wollen wir den durch die „Zwei Jahre in Paris“ in grässlichen Verruf erklärten Patriotismus noch eine Weile festhalten und ihn auch an denen üben, die sich davon gänzlich losgesagt zu haben scheinen. Man muss nach Osten auswandern, um das Vaterland recht liebzugewinnen; die westlichen Abenteurer haben zwar das angenehmere Teil erwählt, aber häufig vor lauter Weltbürgertum und großer Völkerverbindungsidee ihr Bestes, das Vaterland, verloren. Wir sind nun einmal eine stolze Nation, wie ein Franzose von 1846 in einem Buche von 15 Bogen (Des Allemands, par un Francais. Paris) gründlich beweist, und die Franzosen nach Paul Louis Couriers Ausdruck ein Bedientenvolk (un peuple de valets); wollen wir also für den ersten Ausspruch weitere Belege suchen und zusehen, wie die Deutschen Moskau eroberten (La Russie envahie par les Allemands, 1844), indem wir die Bestätigung des zweiten den westlichen Auswanderern anheimgeben. Herr Staatsrat Wigel aber, der als der Verfasser des eben genannten Pamphlets gilt, erwarte nicht, an mir einen Werkgehilfen gefunden zu haben; denn ich gedenke in aller Unschuld das Leben der russischen Deutschen zu schildern, wie ich es jetzt vorgefunden habe. Er hebt von dem Dunkel der russischen Barbarei an und schreibt ein beliebiges Buch über russische Geschichte an allen den Stellen aus, wo ein Deutscher oder die Deutschen in die Fortentwickelung Russlands mächtig eingreifen. Es kann nicht fehlen, dass die verdächtigende Schmähschrift vor unparteiischen Lesern in ihr Gegenteil umschlägt und zu einer eindringlichen Lobrede auf das Deutschtum sich gestaltet. Herr Wigel ist auch deutschen Ursprungs; es geht ihm wie den getauften Heiden oder den zur alleinseligmachenden Kirche zurückgekehrten Protestanten: ihr Teil ist der Fanatismus; jene werden mindestens Missionare, diese meist Jesuiten. Wohl wahr, es gibt viele Renegaten in Russland, und noch mehr, die es gern werden möchten; denn diese Leute gehören fast insgesamt den höheren Rangklassen an. Es ist wohl anzunehmen, dass der neue Ukas, nach welchem der Erbadel erst mit der fünften Klasse beginnt, geeignet sein wird, der Vaterlandsliebe der Deutschen einigermaßen unter die Arme zu greifen. Kurze Zeit nach ihrem Regierungsantritte musste die große Katharine zur Ader lassen, und indem sie ihren Arm dem englischen Arzte Rogerson mutig darreichte, soll sie zu ihm gesagt haben: „Nehmen Sie mir viel Blut, recht viel, damit nicht ein einziger Tropfen deutschen Blutes in meinen Adern zurückbleibe.“ (Saignez, saignesz moi bien, afin qu’il ne reste plus une seule goutte de sang allemand dans mes veines!) Dieser Vorfall hat noch heut zu Tage seines Gleichen, nur mit dem Unterschiede, dass es jetzt meist ohne Blut abgeht, und dass die jetzige Generation aus kleinen Menschen besteht, wahrend jenes die große Katharine war, der man Alles, also auch einen Scherz zu gute halten muss. Machen wir doch diese bittere Erfahrung in noch weit größerem Maßstabe an unsern Stammgenossen im nahen und weiten Westen; haben wir ja im Lande selbst keinen Mangel an Gallound Anglomanen, die als emanzipierte Vorläufer des zwanzigsten Jahrhunderts mit dem kosmopolitischen Nachtwächterhorne tuten; was wollen wir uns wundern, wenn es Einige in Russland gibt, die ihre Mutter verschmähen, um sich der slawischen Amme an die vollen Brüste zu werfen? Die Milch ist gut, und wir wollen ihnen dieses Labsal gönnen; nur der beseligende Mutterblick fehlt ihnen, und dafür müssen sie zu Zeiten durch einen brüderlichen Händedruck aus der Ferne entschädigt werden. Ich wünsche nichts mehr, als dass sie den meinigen für wohlgemeint und aufrichtig halten. Wie Blücher bei seinem Einzuge in England sich mit einer ledernen Vorhand zu versehen gezwungen war, die er dann dem zudringlichen Volke zu Gruß und Kuss aus dem Wagen darreichte, so habe auch ich, um dem demütigenden Übergange a majori ad minus eine Steigerung hinzuzufügen, in ähnlicher, wenn auch umgekehrter Lage, indem ich selbst den Zudringlichen mache, mir einen Blechhandschuh angelegt, der den nordischen Gegendruck hoffentlich aushalten wird. Wenn ich nun aber bei dieser Gelegenheit links und rechts einige Stöße wider Willen versetzen sollte, ehe ich noch zu meinen Lieben durchgedrungen bin, so mag man es meinem Streben und dem Blechhandschuh zu gute halten, und fürs Erste aus christlicher Liebe und Duldung voraussetzen, dass man sich selbst daran gestoßen habe. Ich muss es endlich sagen:
ich bin kein Misorusse, aber auch kein Russoman, was mir die Russen um so eher vergeben werden, da sie ja selbst keine sind. Ich achte und ehre die russische Gastfreundlichkeit, diesen alt-natürlichen oder natürlich-verjährten Rest, der sich freilich, wie überall, mehr und mehr verliert und wohl vorzugsweise noch in den Steppen und entlegenen Weilern zu finden ist. Ich achte und ehre die russische Betriebsamkeit und Geschäftsgewandtheit, wenn sie sich auch nur bis zu einem gewissen Grade geltend macht und meist nur in entlehnten Gestalten auftritt. Ich liebe die russische Leutseligkeit und Dienstgefälligkeit; denn gewiss nur von den wendischen Slawen gilt das harte Wort, das auf die Frage des Wanderers nach dem rechten Wege so antwortet: „Gehst du rechts, gehst du links, gehst du alleweil nichts um.“ Ich liebe den russischen Frohsinn, der freilich mehr in der ungeschminkten Rede der Bauern in und bei den Trinkhäusern, als in den melancholischen Gesangsweisen ihrer Lieder zum Durchbruche kommt. Aber ich hasse — nun, was ich hasse, wird sich am besten gelegentlich sagen, oder vielmehr verdecken lassen. Vielleicht gelingt es mir, mit einiger Dialektik dem Guten und seiner Negation so beizukommen, dass die schroffen Gegensätze in fortwährendem Übergehen und Umschlagen auftreten, und dass, wenn ich vielleicht einmal in übler Laune das Böse fixiert zu haben glaube, dasselbe schon in seinem Gegenteile, dem Guten, aufgegangen ist. „Was wirklich ist, ist vernünftig“, so lautet der verhängnisvolle Ausspruch des weisesten aller Meister; und obwohl Hegel dabei gewiss nicht insonderheit an Russland gedacht hat, so muss doch ein wahres Wort allenthalben seine Anwendung finden. Aus Bescheidenheit wollen wir nur mäßigen Gebrauch davon machen und nur in Hinsicht darauf uns vorzugsweise mit Darstellung der Wirklichkeit befassen, indem wir das Urteil über die Vernünftigkeit den verschiedenen Schulen anheimstellen.
Dresden.
H. W.
Inhalt.
Einleitung
Das Geschäftsleben
der Bäcker und Apotheker
der Schneider
der Kaufleute
der Buchhändler
der Lehrer
Privatlehrer
Hauslehrer
Gymnasiallehrer
Universitätslehrer
Das Gesellschaftsleben
Die gute Gesellschaft
Die schlechte Gesellschaft
Die Frauen
Die Karten
Die Musik
Schluss
Die Deutschen in Russland.
Mein Standpunkt ist der Kreml in Moskau. Da, wo das Leben der Nation in seiner Ursprünglichkeit zu finden ist, wo der Quell des alten Russentums ewig frisch hervorquillt, da lasst uns den Haufen von Fremden betrachten, die mit dem halben Spottnamen „Nemzi“ bezeichnet werden, so echt auch das Diplom ist, das die Meisten von ihnen für ihre russische Untertänigkeit aufzuweisen haben. Ich folge derselben von Sprache und Abstammung entnommenen Einteilung; denn sonst, wenn ich die zu russischen Untertanen gewordenen Deutschen ausnehmen wollte, würde die Zahl derer, von welchen ich hier zu reden hätte, so klein werden, dass ich kaum mit gutem Gewissen ein Buch über sie schreiben könnte. Zu groß darf die Zahl aber auch nicht werden, und darum bleiben die Petersburger Deutschen von unserer näheren Betrachtung ausgeschlossen, um so mehr, als das dort vorherrschende deutsch-europäische Leben und die große Masse der dort lebenden Ausländer den Einzelnen leichter seine Eigentümlichkeit bewahren lässt, als dies in Moskau der Fall ist. Petersburg ist und bleibt das Fenster, durch welches Asien nach Europa guckt; wenn man sich zu lange dabei aufhält und der Wind gerade ungünstig ist, so ist man hier leichter einer Erkältung ausgesetzt, als anderswo. Aber Moskau ist die freundliche Unterschenke mit großem Gastzimmer, vielen Spielstuben und einer Menge komfortabler Wohnungen, in denen man recht behaglich lebt und gut bedient wird, wenn nur in dem Zimmer eine Klingelschnüre angebracht ist. So kehre denn auf einen Tag mit mir hier ein, freundlicher Leser, und hoffe mit mir, dass es Dir wohlergehe; dem bärbeißigen Russenfeinde aber sei es gesagt, dass es auf der Erde ein Geschlecht kleiner Tiere gibt, Iltisse genannt, welche in Schmutzrinnen sich herumtreiben und doch den schönsten und reinsten Pelz sich bewahren. Er mag den armen Brüdern in Russland eine Träne weihen; es werden sich auch Andere finden, denen das Los derselben nicht so bedauernswert erscheint, dass sie nicht auf einige Zeit mit ihnen tauschen möchten. Jedenfalls wollen wir den durch die „Zwei Jahre in Paris“ in grässlichen Verruf erklärten Patriotismus noch eine Weile festhalten und ihn auch an denen üben, die sich davon gänzlich losgesagt zu haben scheinen. Man muss nach Osten auswandern, um das Vaterland recht liebzugewinnen; die westlichen Abenteurer haben zwar das angenehmere Teil erwählt, aber häufig vor lauter Weltbürgertum und großer Völkerverbindungsidee ihr Bestes, das Vaterland, verloren. Wir sind nun einmal eine stolze Nation, wie ein Franzose von 1846 in einem Buche von 15 Bogen (Des Allemands, par un Francais. Paris) gründlich beweist, und die Franzosen nach Paul Louis Couriers Ausdruck ein Bedientenvolk (un peuple de valets); wollen wir also für den ersten Ausspruch weitere Belege suchen und zusehen, wie die Deutschen Moskau eroberten (La Russie envahie par les Allemands, 1844), indem wir die Bestätigung des zweiten den westlichen Auswanderern anheimgeben. Herr Staatsrat Wigel aber, der als der Verfasser des eben genannten Pamphlets gilt, erwarte nicht, an mir einen Werkgehilfen gefunden zu haben; denn ich gedenke in aller Unschuld das Leben der russischen Deutschen zu schildern, wie ich es jetzt vorgefunden habe. Er hebt von dem Dunkel der russischen Barbarei an und schreibt ein beliebiges Buch über russische Geschichte an allen den Stellen aus, wo ein Deutscher oder die Deutschen in die Fortentwickelung Russlands mächtig eingreifen. Es kann nicht fehlen, dass die verdächtigende Schmähschrift vor unparteiischen Lesern in ihr Gegenteil umschlägt und zu einer eindringlichen Lobrede auf das Deutschtum sich gestaltet. Herr Wigel ist auch deutschen Ursprungs; es geht ihm wie den getauften Heiden oder den zur alleinseligmachenden Kirche zurückgekehrten Protestanten: ihr Teil ist der Fanatismus; jene werden mindestens Missionare, diese meist Jesuiten. Wohl wahr, es gibt viele Renegaten in Russland, und noch mehr, die es gern werden möchten; denn diese Leute gehören fast insgesamt den höheren Rangklassen an. Es ist wohl anzunehmen, dass der neue Ukas, nach welchem der Erbadel erst mit der fünften Klasse beginnt, geeignet sein wird, der Vaterlandsliebe der Deutschen einigermaßen unter die Arme zu greifen. Kurze Zeit nach ihrem Regierungsantritte musste die große Katharine zur Ader lassen, und indem sie ihren Arm dem englischen Arzte Rogerson mutig darreichte, soll sie zu ihm gesagt haben: „Nehmen Sie mir viel Blut, recht viel, damit nicht ein einziger Tropfen deutschen Blutes in meinen Adern zurückbleibe.“ (Saignez, saignesz moi bien, afin qu’il ne reste plus une seule goutte de sang allemand dans mes veines!) Dieser Vorfall hat noch heut zu Tage seines Gleichen, nur mit dem Unterschiede, dass es jetzt meist ohne Blut abgeht, und dass die jetzige Generation aus kleinen Menschen besteht, wahrend jenes die große Katharine war, der man Alles, also auch einen Scherz zu gute halten muss. Machen wir doch diese bittere Erfahrung in noch weit größerem Maßstabe an unsern Stammgenossen im nahen und weiten Westen; haben wir ja im Lande selbst keinen Mangel an Gallound Anglomanen, die als emanzipierte Vorläufer des zwanzigsten Jahrhunderts mit dem kosmopolitischen Nachtwächterhorne tuten; was wollen wir uns wundern, wenn es Einige in Russland gibt, die ihre Mutter verschmähen, um sich der slawischen Amme an die vollen Brüste zu werfen? Die Milch ist gut, und wir wollen ihnen dieses Labsal gönnen; nur der beseligende Mutterblick fehlt ihnen, und dafür müssen sie zu Zeiten durch einen brüderlichen Händedruck aus der Ferne entschädigt werden. Ich wünsche nichts mehr, als dass sie den meinigen für wohlgemeint und aufrichtig halten. Wie Blücher bei seinem Einzuge in England sich mit einer ledernen Vorhand zu versehen gezwungen war, die er dann dem zudringlichen Volke zu Gruß und Kuss aus dem Wagen darreichte, so habe auch ich, um dem demütigenden Übergange a majori ad minus eine Steigerung hinzuzufügen, in ähnlicher, wenn auch umgekehrter Lage, indem ich selbst den Zudringlichen mache, mir einen Blechhandschuh angelegt, der den nordischen Gegendruck hoffentlich aushalten wird. Wenn ich nun aber bei dieser Gelegenheit links und rechts einige Stöße wider Willen versetzen sollte, ehe ich noch zu meinen Lieben durchgedrungen bin, so mag man es meinem Streben und dem Blechhandschuh zu gute halten, und fürs Erste aus christlicher Liebe und Duldung voraussetzen, dass man sich selbst daran gestoßen habe. Ich muss es endlich sagen:
ich bin kein Misorusse, aber auch kein Russoman, was mir die Russen um so eher vergeben werden, da sie ja selbst keine sind. Ich achte und ehre die russische Gastfreundlichkeit, diesen alt-natürlichen oder natürlich-verjährten Rest, der sich freilich, wie überall, mehr und mehr verliert und wohl vorzugsweise noch in den Steppen und entlegenen Weilern zu finden ist. Ich achte und ehre die russische Betriebsamkeit und Geschäftsgewandtheit, wenn sie sich auch nur bis zu einem gewissen Grade geltend macht und meist nur in entlehnten Gestalten auftritt. Ich liebe die russische Leutseligkeit und Dienstgefälligkeit; denn gewiss nur von den wendischen Slawen gilt das harte Wort, das auf die Frage des Wanderers nach dem rechten Wege so antwortet: „Gehst du rechts, gehst du links, gehst du alleweil nichts um.“ Ich liebe den russischen Frohsinn, der freilich mehr in der ungeschminkten Rede der Bauern in und bei den Trinkhäusern, als in den melancholischen Gesangsweisen ihrer Lieder zum Durchbruche kommt. Aber ich hasse — nun, was ich hasse, wird sich am besten gelegentlich sagen, oder vielmehr verdecken lassen. Vielleicht gelingt es mir, mit einiger Dialektik dem Guten und seiner Negation so beizukommen, dass die schroffen Gegensätze in fortwährendem Übergehen und Umschlagen auftreten, und dass, wenn ich vielleicht einmal in übler Laune das Böse fixiert zu haben glaube, dasselbe schon in seinem Gegenteile, dem Guten, aufgegangen ist. „Was wirklich ist, ist vernünftig“, so lautet der verhängnisvolle Ausspruch des weisesten aller Meister; und obwohl Hegel dabei gewiss nicht insonderheit an Russland gedacht hat, so muss doch ein wahres Wort allenthalben seine Anwendung finden. Aus Bescheidenheit wollen wir nur mäßigen Gebrauch davon machen und nur in Hinsicht darauf uns vorzugsweise mit Darstellung der Wirklichkeit befassen, indem wir das Urteil über die Vernünftigkeit den verschiedenen Schulen anheimstellen.