Die Deutschen Meere

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 4. 1927
Autor: Dettmar Heinrich Sarnetzki, Erscheinungsjahr: 1927

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Nordsee, Ostsee, Deutschland, Skandinavien, Finnland, Russland, Sturmfluten, Inseln, Deiche, Dänemark, Schweden, Kurische Nehrung, Friesische Haff,
Nur schmal sind die Küsten der beiden den deutschen Ländern vorgelagerten Meere, der Nord- und der Ostsee; nicht vom Meere umspült wie die Insel der Angelsachsen, hat Deutschland auch keine gestreckte freie Küste wie die atlantische und mittelmeerische der Franzosen oder die großen Meeresküsten der Vereinigten Staaten — und ist dennoch weltbedeutend geworden: als habe sich auf diese schmale Basis des großen Landes ein großer Teil der deutschen Spannkraft und Energie gesammelt, vorzustoßen in die erschlossenen und unerschlossenen Handelsräume der Erde. Nord- und Ostsee gehören zu den Flachmeeren: die Nordsee, das Deutsche Meer — Dänen und Norweger nennen es die Westsee —, ist ein sogenanntes Randmeer, die Ostsee, das Baltische Meer, ein interkontinentales Mittelmeer.

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Die Nordsee, etwa fünfhundertachtundvierzigtausend Quadratkilometer groß, umschließt die Senkung zwischen Großbritannien, den Niederlanden, Deutschland, Dänemark und dem südlichen Norwegen, ist also ganz von germanischen Völkerstämmen umwohnt und hat vier Tore ins Weltmeer: den Kanal mit der Meerenge von Calais, die Pentlandstraße zwischen Schottland und den Orkneyinseln, eine breitere Straße zwischen den Orkneys und den Shetlandinseln und das tiefe Tal zwischen diesen und Norwegen in das Nordmeerbecken; das Kattegatt, der Sund und die beiden Belte und der künstliche Wasserweg des Kaiser-Wilhelm-Kanals, der die Provinz Schleswig-Holstein zwischen Brunsbüttel und unterhalb Holtenau nördlich von Kiel durchschneidet, bilden die Verbindungsstraßen zur Ostsee. Dieses Meer hat nur vierhunderteinunddreißigtausend Quadratkilometer Umfang, ist aber abgeschlossener, gestreckter und, zwischen Deutschland, Skandinavien, Finnland und Russland gelegen, reicher gegliedert durch die gabelförmige Spaltung in den Bottnischen, Finnischen und Rigaischen Meerbusen. Nord- wie Ostsee haben größere Meerbusen und diesen vorgelagerte Inseln, durch die nagenden Wasser und Sturmfluten im Laufe der Jahrtausende gewühlt und aufgespült: die Nordsee im Süden den Dollart, die Mündungsbusen der Jade, Weser und Elbe (sie durchbrach auch die Verbindung zur Zuidersee, die bis zur Römerzeit ein Binnensee war), im Westen den Wash-, Forth-, Moray- und Dornochbusen, im Osten den Bukkefjord; vorgelagert sind der niedrigen, durch Dämme und Deiche geschützten deutschen Küste die west-, ost- und nordfriesische Inselreihe. Die Ostsee ist reicher an Inseln, die oft wie nicht ganz schließende Riegel vor die Buchten und Busen gesetzt sind: im Westen vor das Kattegatt die dänischen Seeland, Fünen, Falster und Laaland und weiter vorgeschoben Bornholm und das deutsche Rügen, vor den Bottnischen Meerbusen die finnischen Alandsinseln, vor den Rigaischen Meerbusen die baltischen Dagö und Ösel, vor die schwedische Küste Öland und Gotland. Die deutsche Küste, die südliche der Ostsee, hat drei Haffe: das Kurische vor der Kurischen Nehrung, das Frische Haff vor der Frischen Nehrung und das Stettiner Haff mit den Inseln Usedom und Wollin, außerdem vier Buchten: die Danziger mit der Putziger Wiek, die Pommersche mit dem Greifswalder Bodden, die Neustädter Bucht vor Lübeck und die Kieler Bucht. Soweit die wichtigsten geographischen Umrisse und Notizen.

Nord- und Ostsee haben von der Vorzeit her — viele ihrer Erscheinungen sind erst durch ihre geologische Entwicklungsgeschichte zu verstehen — grundlegende Verschiedenheiten, bedingt durch ihre Lage und durch den Wesensunterschied ihres Seins. Die Zahl der Gegensätze ist sogar von erstaunlicher Vielheit und mündet in der wissenschaftlichen Forschung letzthin in die eine einfache Erklärung, dass die Nordsee offenes Meer, die Ostsee ein riesiger Binnensee ist und nach der Eiszeit schon, die norddeutsche und einen Teil der russischen Tiefebene einschließend, aus einem Salzsee ein Süßwassersee geworden war, als die dänischen Inseln und ihre Umgebung noch um fünfzig bis sechzig Meter höher lagen. Am Ende der Tertiärzeit, zur Pliozänzeit, war der Boden der Nordsee Festland, und die Forschung hat erwiesen, dass der Rheinstrom zum Beispiel in nordwestlicher Richtung durch die fischreiche Silberkule, eine sechzig bis siebzig Meter tiefe Rinne südlich der flachen Doggerbank, an der Küste Nordenglands entlanggeströmt, mit der Themse als Nebenfluss, und in der Höhe von Norfolk in einer versumpften Deltalandschaft ins Meer gemündet sei. So also hat man sich zu denken, dass in der Vorzeit wahrscheinlich Schottland mit der norwegischen Küste, die britische Insel mit dem Festland und Jütland mit Schweden verbunden war. Die Nordsee ist überhaupt, was nur wenig bedacht wird, einem seichten Becken zu vergleichen, im Durchschnitt von nur geringer Tiefe und für die Schifffahrt voller Tücken und Gefahren durch große und zahlreiche Sand- und Gesteinsbänke; die Wassertiefe über der Doggerbank, die an Umfang so groß ist wie Schleswig-Holstein, beträgt nur zwischen fünfzehn und dreißig Meter, der übrigen Nordsee nur fünfunddreißig bis höchstens vierzig Meter, so dass fast alle Kirchtürme, in die Nordsee gesetzt, ihre Spitzen aus den Wassern hervorstrecken würden. Erst nördlich der Doggerbank sinkt das Meer an der norwegischen Küste in Tiefen von sechshundertsiebenundachtzig Meter, in der Färöer Rinne in über tausend Meter, im arktischen Mittelmeer in Tiefen bis zu dreitausend Meter. Die Nordsee und die Küstenbildung mit den Meeresstraßen ist also erst Ergebnis der letzten geologischen Wende, als das Land sich senkte und die Flut nach Süden hin alles Festland überströmte. Diese Hebungen und Senkungen des Landes haben auch den Charakter und den Umfang der Ostsee zu verschiedenen Zeitwenden bestimmt und geformt; ist die Nordsee ein großes Becken, so ist die Ostsee ein von flussähnlichen Rinnen durchzogenes Tal, deren Tiefen von Westen nach Osten abnehmen und durchschnittlich zwischen dreißig und siebzig Meter betragen, bei Bornholm über hundert Meter, in der Danziger Bucht bis hundertdreizehn Meter, östlich von Gotland an Zweihundertfünfzig Meter und allein im Süden von Stockholm in einer kesselförmigen Senke eine Wassertiefe von über vierhundertsechzig Meter erreichen. Ist der Grund der Nordsee vorwiegend sandig, so der der Ostsee voll von Steingründen, voll der Findlinge, vielleicht zum Teil vom Eise der Vorzeit aus dem nördlichen Gebirgsland in die Wasser der Ostsee getragen und geschoben, vorwiegend aber wohl Reste überfluteter und zerstörter Inseln. Der Unterschied der Strömungen und des Salzgehaltes der Wasser in beiden Meeren ist eine ganze Wissenschaft für sich; die Nordsee wird beeinflusst durch den Zugang ozeanischen Gewässers, die Ostsee durch den der Landwasser — es münden in sie etwa Zweihundertfünfzig Flüsse — und des atmosphärischen Zustroms. So ist der Salzgehalt der Nordsee größer (3,1 bis 3,3 Prozent), deren schwereres Wasser als Unterstrom durch die Belte in die Ostsee eindringt, während umgekehrt das leichtere Wasser der Ostsee (0,75 bis 1,5 Prozent Salzgehalt) obenhin an der schwedischen Küste entlang durch den Sund in die Nordsee strömt. Der Austausch ist verhältnismäßig stark, zu den Jahreszeiten verschieden, auch die Temperaturen sind verschieden und wechseln — das Wasser der Ostsee ist kälter und klarer—, und es tritt unter anderem der Einfluss der Winde hinzu, den Austausch zu fördern oder zu hemmen. Ebbe und Flut, die Gezeiten oder Tiden — bekanntlich bedingt durch die Anziehungskraft des Mondes und der Sonne —, die in der Nordsee durch die Gezeitenwelle vom Atlantischen Ozean her einen durchschnittlichen Unterschied zwischen Hoch- und Niedrigwasser von zweieinhalb bis dreieinhalb
Meter Hervorrufen, sind in der Ostsee, die übrigens 2,6 Meter über dem Niveau der Nordsee liegt, nur wenig bemerkbar. Es stehen zwei Meerwelten nebeneinander, zwar durch natürliche Röhren miteinander verbunden, aber fast in allem verschieden: in der Bildung und im Gepräge der Küsten, und verschieden in der Welt der Pflanzen und Tiere — aber dennoch zwei Meere, über denen deutsches Wesen liegt.

Durchweg rau, wild, heroisch ist die Landschaft der Nordsee, von Stürmen und Nebeln durchwogt, die Küsten von Sanddünen übertürmt, von der Salzflut überspült. Kaum ein Baum auf den Inseln und an den Ufern, es sei denn im Windschutz — mit Ausnahme von Norderney und Sylt —, aber in allem ein Spiegel von Kraft wider Kraft, von Wind und Welle wider die feste Erde, Kampf der Naturgewalt wider Menschenwerk. Tief im Lande erst, weit hinter den endlosen, baumlosen Dünen und Deichen stromaufwärts baute der Mensch seine Siedlungen und Städte. An der Küste ist ein Rest geblieben von der Stimmung vorzeitlicher Größe und Einsamkeit, etwas von der Stimmung, in der von Norden aus die Wikinger auf ihren geschnäbelten Schiffen sonne- und beute- und abenteuerlüstern die Meere gen Süden befuhren. Kampf ist die Losung vor allem an den Rändern der Nordsee. Die gefürchteten Nordweststürme werfen die Wogen oft bis zu sieben Meter Höhe empor und schleudern sie gegen und über die Deiche, Land und Menschenleben vernichtend. Nicht weniger als fünftausendfünfundfünfzig Quadratkilometer sind an Marschboden seit dem Mittelalter durch Sturmfluten, seit dem elften Jahrhundert nicht weniger als hundertvierundvierzig Ortschaften verlorengegangen; zweitausendfünfhundertachtundachtzig Quadratkilometer hat die zähe, ausdauernde, kluge Entwässerungsarbeit des Menschen dem Meere wieder abgerungen, die gegenwärtig durch Dammbauten zwischen Sylt und Schleswig noch weiteres Festland gewinnt und erhält. Der Friese, dem Wasser und Wetter vertraut sind und der seit Menschengedenken auf den Halligen sitzt, die ewig gefährdet sind, fühlt sich auf Leben und Tod mit diesen Inseln verbunden: das Meer ist sein Element, der Boden seine zu jeder Stunde verteidigte Heimat, sein einsames Königtum ihm Himmel und Erde ... Die Ostsee hingegen, wenn auch sie von Stürmen heimgesucht wird, gewährt eher ein Bild des Friedens: die Meerbusen, die Förden, stehen unter Laubwald auf überhöhter Küste; in der Kette der Städte wohnen die Nachkommen jener alten Bürgergeschlechter, die einst dies Land und Meer dem Deutschtum eroberten; und bis hinauf nach Samland finden wir weite Dünenzüge mit windverbogenen Kiefern und Steilküsten, malerisch, großartig und dennoch freundlich.

Was so stark die Seele bewegt und erregt und so vielen Ausdrucksmöglichkeiten Raum bietet wie das Meer in der Vielfältigkeit seiner Erscheinung, es muss auch seinen Niederschlag in den Künsten finden, neben der Malerei in der Dichtung. So wie das Meer seine ewige Stimme hat, so umrauschen es heute, bezwungen von seiner Kraft und Schönheit, unzählige Preislieder in der Sprache von Dichtung und Prosa. Und fanden ihren letzten großen Ausdruck im Weltkrieg, im Heldentum, im Kampf und Untergang der deutschen Flotte. Vielleicht sind dies die schönsten Meerlieder, die Lieder der opfervollen Tat, die niemals gesungen wurden.

Die Gemäldewiedergaben auf Seite 467 bis 470 sowie der vortreffliche Artikel von Dettmar Heinrich Sarnetzki sind Kostproben aus dem prächtigen Werk „Die See“, das im Verlag von Hoursch & Bechstedt in Köln erschienen ist. In dreiundfünfzig trefflich ausgewählten und vorzüglich wiedergegebenen Gemälden ziehen die Nord- und die Ostsee, ihre Häfen und Küsten, ihre Seele und ihre Stimmung an dem Beschauer vorüber, und nicht minder wertvoll ist der textliche Inhalt, den der weltbekannte Graf Felix von Luckner durch einen fesselnden Beitrag eröffnet. Mit diesem ausgezeichneten Werk bekannt zu werden, wird vielen unserer Leser Freude und Genuss bereiten. Drängen doch das deutsche Gefühl und die deutsche Entwicklung gleichermaßen wieder über die Meere nach der weiten Welt.

Maritimes - Vor dem Wind

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Maritimes - Der gefährdete Deich

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Maritimes - Vernichtung

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Maritimes - Dörfchen auf Rügen

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