Ausdrucksbewegung und Bildkomposition

Man kann dies am besten an der Rolle erkennen, die die Ausdrucksbewegung im künstlerischen Gestaltungsproblem des Deutschen spielt. In Michelangelos Gestalten ist die Mimik herausgewachsen aus dem Gesamtmotiv des Körpers, der ganzen Erscheinung. Der Deutsche sieht dagegen in der Geste nicht bloß eine Bewegung oder ein Erscheinungsmotiv, sondern den Ausdruck einer übersinnlichen Idee, die, an das Motiv der Geste gebunden, die Gesamterscheinung des Körpers oder Raumes bestimmt und sie nur so weit zu Wort kommen lässt, als sie sich der Geste anzupassen vermag. Rafael ist erst sehr spät und unter Einfluss von Michelangelo auf diese Probleme gestoßen. Aber auch dann ist ihm die Ausdrucksbewegung Mittel zum Zweck der Realisation seines Einheitsideals. Für den Deutschen bleibt meist die Gestaltung der vergeistigenden, übersinnlichen Idee das formale Problem der Darstellung. Hierin folgt die deutsche Renaissancekunst ganz den Spuren des mittelalterlichen Geistes und sie hat diese Ideen sowohl bei der Körper- als auch bei der Raumgestaltung zur Durchführung zu bringen versucht.

Die Heiligendarstellungen des 13. Jahrhunderts aus einem Kalendarium der Münchener Hof- und Staatsbibliothek sind hierfür ein lehrreiches Beispiel (Abb. 7). Der Geist, der Gesicht und Hände leitet, regiert auch die Formen der Gewandung. Während die Renaissance durch Stoffdraperien die Glieder des Körpers organisierte und dessen Positionen in eine imposante Geste zu verwandeln verstand, wird hier die Erscheinung der Gewandung zum formgewordenen Willen reiner Geistigkeit. Den Italienern wird die Körperbewegung so leicht zur Geste. Deshalb war einer ihrer Größten Michelangelo. Der Deutsche kommt hier von der Geste, als dem determinierenden Gestaltmotiv, zur Erscheinung. Die Handbewegung des heiligen Andreas (links beg.) scheint sich in der zweimaligen Ausladung der Gewandung nach rechtshin zu wiederholen und die exakte, spitzwinklig gebrochene Grenzkontur der Kleidung ist eine willkommene Resonanz für die spitzfindige Logik, die aus dem Denkergesicht des Heiligen spricht. Auf den nüchternen Gelehrten folgt sodann in dem Symon mit dem kurzen Barte und den leidenschaftlich geschwungenen Kurven um die verdüsterte Stirne, der Choleriker. Alles ist streng zusammengefasst, die weißen Grenzkonturen verschwinden gegenüber den breiten massiven Farbflächen, die in ihren straffen, steilen, querverlaufenden Silhouettierungen überall wie Ketten die tatbereiten Glieder umschließen, indes oben in gewittrigem Antlitz Blitze aus den Augen schießen und nervös die Finger über die Bibel spielen. Der jugendliche Melancholiker in dem heiligen Thomas, mit der weichen, in langen schlichten Kurven müde herunterhängenden Gewandung, aus der die Silhouette des leicht geneigten Kopfes sich entwickelt, ähnlich wie der steife Nacken des Symon in der steilen Kurve des Mantels wurzelt. Die Hand, die das Buch in dem Mantelstreifen hält, geht bei Thomas in einer runden Kurve in das Buch über, beim Symon entsprechend dem allgemeinen Charakter des Ganzen läuft sie in kantigen Grenzlinien aus. Die Farbdifferenzen in der Gestalt wiederholen sich auch im Buche, das beim Symon dem künstlerischen Gesamteindruck ebenso angepaßt ist als wie das Gesicht. In dem kahlköpfigen Paulus, zuletzt der schulmeisterliche Pedant und Phlegmatiker, dessen fades Kopfoval das Grundmotiv für die ganze Gewandung geworden ist, die gehorsam wiederholt, was das Gesicht oben sagt.


Auch die beiden Apostel Albrecht Altdorfers (Abb. 8 und Abb. 9), über zwei Jahrhunderte später entstanden, stehen prinzipiell noch auf demselben Standpunkt wie ihre Vorgänger des 13. Jahrhunderts. Die Geste ist determinierendes und charakterisierendes Gestaltmotiv geworden, das über die bloße Beschreibung körperlicher Positionen hinweg, die Idee dieser Ausdrucksbewegung aus den besonderen sinnlichen Zusammenhängen der ganzen Figur abzuleiten versucht. Der handfeste, derbe Draufgänger bei Petrus, die verhaltene Leidenschaft des jungen Schwärmers bei Johannes; die körperliche Gesamterscheinung ist das „Gesicht“ der Gestalt.

Eine besonders charakteristische Leistung stellt auf diesem Gebiete Grünewalds Entwurf (Abb. 10) zu einem Christus in Gethsemane dar. Die Metaphysik der Geste hat sich hier auf die ganze Erscheinung des Körpers übertragen; wie ein verwundetes Tier mit Tod und Leben kämpfend, kriecht der Held der christlichen Heilsgeschichte tastend und schwankend über den Boden fort, greift wie ein Blinder in die leere Luft, richtet den Oberkörper auf und bricht hinten schon wieder in sich zusammen. Der Körper ist nur das sekundäre Bindeglied für diese ergreifende Mimik der Extremitäten, deren Erscheinungsmotive, in markanten Wülsten der Gewandung rhythmisch wiederholt, wie lastende Ketten sich über den Körper ziehen. Der Körper wird so zu einer vervielfachten Wiederholung der Geste und bleibt im übrigen nur Gelenk, während die großen Italiener ihn zum bestimmenden Ausgangspunkte aller Motive machten. Grünewald schildert nicht das Ringen eines Helden — das schöne, starke Menschentum, nicht das Heroische, sondern den elementarsten Lebenswillen jenseits aller Menschlichkeit, die Brutalität der Natur. —

Ähnliches wie für die Einzelfigur gilt gelegentlich auch für das gesamte Raumbild. Die Gestaltungsweisen des Mittelalters wusste die deutsche Kunst der Renaissance im Gegensatz zur italienischen sich zu erhalten oder wieder zu erringen. In der Erschaffung Evas (Abb. 11), einer Miniatur der Pariser Nationalbibliothek, sind Himmel und Erde, Wasser und Wolken aus demselben sich rundenden Grenzmotiv geformt, dessen welligen Motiven die Bäume ebenso folgen wie die Silhouetten des Körpers Adams oder die gliedernden Gewandfalten Gott-Vaters. Es ist dasselbe sinnliche Grundmotiv, dasselbe Lebensprinzip, aus dem hier die Erscheinung alles Lebendigen sich formt. Diese anschauliche Einheit wird deshalb hier nicht durch die dreidimensionale Richtigkeit des Raumes, nicht von einer überindividuellen Bildidee her wie in der Hochrenaissance, sondern durch die sinnliche Wesensähnlichkeit der Teile gewonnen. Man darf dabei nicht vom „Stilisieren“ sprechen. Denn auch das Wandbild in Wienhausen (Abb. 12) wäre im gewissen Sinne „stilisiert“. Aber in der Erscheinung der Figuren und der übrigen räumlichen Einzelheiten ist mehr das Individuelle, das Verschiedene als das Gemeinsame betont und dem entspricht auch die bloße Beschreibung der persönlichen Handlung in der Bewegung, die in dem Pariser Bilde sich in einer überpersönlichen Stimmung verflüchtigt, genau so wie die individuelle Erscheinung dem Formenwillen des Ganzen sich unterwirft.

Der Fall liegt in Dürers Krönung der Maria durchaus analog (Abb. 13). In dem Motiv der Wolken formt sich derselbe Wille, der in den fliegenden Mänteln der Engel tobt und den widerspenstigen Geistern mit sicherer Schöpferhand ihren Platz bei dem Haupte der Maria anweist, Ordnung in das krabblige Chaos zu ihren Füßen bringt und die Engelserscheinungen aus nächtlichem Dunkel zum harten Licht des Tages zwingt. Man sieht nirgends eine isolierende Grenze, sondern in der übersprudelnden Lebendigkeit unüberschaubarer Gestaltenfülle lebt das unsichtbare, gestaltlose Gesetz, der im Verborgenen schaffende Schöpfergeist, der uns vom launigen Eigenwillen des Kleinen zur heimlichen Majestät des Großen führt. In Rafaels vatikanischem Bild mit der Krönung der Maria erschöpft sich der künstlerische Gestaltungswille in der Organisation des Figürlichen. Die Ausdruckskraft des Künstlers reicht nur soweit als die Grenze des Körperlichen. Die Engel wie Bälle über den Häuptern der Gruppe; bei Dürer formen sie sich aus den Wolken und verlieren sich in wolkenlose Fernen. Man kann die Analoga hierzu nicht in der Sixtina suchen; denn dort gehen die Engel wohl in die flimmernde Unendlichkeit über, trennen sich aber gleichzeitig von der schönen Endlichkeit, sind nicht aus demselben Gestaltmotiv geformt wie der beherrschende Mittelpunkt des Ganzen, die Madonna; bei Dürer sind — sinnlich gesprochen — alle gleichen Wesens, sie sind allzumal Diener eines gemeinsamen, unsichtbaren Herrn. Man darf die schönen Positionen oder Einzelsilhouetten der Gestalten Rafaels nicht mit ihren sinnlichen Relationen verwechseln. Es gibt da sinnlich viel Unebenheiten in den Beziehungen dieser oft nur für sich gesehenen Einzelmotive, selbst in Rafaels reifsten Werken. Die geometrischen Figurationen, die Rafaels Gruppenbilder bestimmen, sind deshalb abstrakte Sondermotive in den Bildern, weil sie wohl die räumliche Position der Figuren, nicht aber auch ihren eigenen Ausbau bedingen. Insofern als bei Dürer Gruppengrenze und Figuren-Silhouette aus denselben Motiven entwickelt sind, mag man behaupten, dass an künstlerischer Einheit seine Schöpfung die Rafaels übertrifft 3). Damit soll aber Dürer nicht gegen Rafael ausgespielt werden, sondern nur angedeutet sein, worin die Individualität der deutschen Kunst überhaupt besteht. Die deutsche Kunst ist ja selbst von italienischen Gestaltungsprinzipien nicht frei geblieben und man findet sie sogar noch vor der Zeit, in der sie durch die Berührung mit der italienischen Kunst ihre entscheidenden Richtlinien erhielt. — Dass diese Art künstlerischer Gestaltung nicht etwa das naheliegende Resultat der „Holzschnitttechnik“ gewesen ist, sondern vor allem sich aus der besonderen, auch anderwärts um diese Zeit zu findenden deutschen Erkenntnisweise entwickelte, lässt die Kreuzigungsdarstellung Hans Baldung Griens (Abb. 14) erkennen 4). Auch hier wird man vergeblich nach differenzierenden Gebärden Umschau halten. Die Idee des Ganzen, der Schmerz, versinnlicht sich in der flackernden Unruhe des die nächtliche Dunkelheit durchzitternden Lichtes, das jenseits aller Gegenständlichkeit oder Handlung selber das transzendente Geschehen im sinnlichen Sein zu erfassen versucht. In der Dürer zugeschriebenen Kreuzigungsdarstellung (Abb. 15) kommt der Gedanke mehr im Sinne der italienischen Renaissance zum Ausdruck: Die Geste ordnet sich der anmutigen Pose der Figuren und der kompositionellen Klarheit und Ruhe der Gruppe unter, deren Pyramidalmotiv sich in der Landschaftskulisse wiederholt. Die Ausdrucksbewegung hat mithin nur insoweit ein Recht im Bilde, als sie sich dem von ihrem metaphysischen Gehalte unabhängigen Ideal der körperlichen und räumlichen Einheit und Klarheit zu fügen vermag. Die Trauer will Schönheit, nicht all erfüllende Idee sein, wie in dem Bilde Griens (Abb. 14). Die Handlung wird in dem Dresdner Gemälde zur konventionellen Devotion, in der Zeichnung dagegen die gesamte Bilderscheinung zum überpersönlichen Ausdruck des dramatischen Gedankens.

Abb. 007. Kalenderheilige aus einem Kalendarium der Hof- und Staatsbibliothek, München, 13. Jahrd., Thüringische Schule.
Abb. 008. A. Altdorfer, Petrus. Stift Seitenstetten.
Abb. 009. A. Altdorfer, Johannes. Stift Seitenstetten.
Abb. 010. Grünewald, Entwurf zu einem Christus in Gethsemane (?), Dresden.
Abb. 011. Erschaffung Evas, Miniatur, 13. Jahrd., Paris.
Abb. 012. Erschaffung Evas, Wandgemälde Kloster Wienhausen, 13. Jahrhundert.
Abb. 013. A. Dürer, Maria als Königin der Engel, Holzschnitt (1518).
Abb. 014. H. B. Grien, Kreuzigung. Handzeichnung Berlin, K. Kupferstichkabinett.
Abb. 015. Schule Dürers, Kreuzigung Dresden.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Deutsche Malerei. Band 1
Abb. 007. Kalenderheilige aus einem Kalendarium der Hof- und Staatsbibliothek, München, 13. Jahrd., Thüringische Schule.

Abb. 007. Kalenderheilige aus einem Kalendarium der Hof- und Staatsbibliothek, München, 13. Jahrd., Thüringische Schule.

Abb. 008. A. Altdorfer, Petrus. Stift Seitenstetten.

Abb. 008. A. Altdorfer, Petrus. Stift Seitenstetten.

Abb. 009. A. Altdorfer, Johannes. Stift Seitenstetten

Abb. 009. A. Altdorfer, Johannes. Stift Seitenstetten

Abb. 010. Grünewald, Entwurf zu einem Christus in Gethsemane (?), Dresden

Abb. 010. Grünewald, Entwurf zu einem Christus in Gethsemane (?), Dresden

Abb. 011. Erschaffung Evas, Miniatur, 13. Jahrd., Paris.

Abb. 011. Erschaffung Evas, Miniatur, 13. Jahrd., Paris.

Abb. 012. Erschaffung Evas, Wandgemälde Kloster Wienhausen, 13. Jahrhundert.

Abb. 012. Erschaffung Evas, Wandgemälde Kloster Wienhausen, 13. Jahrhundert.

Abb. 013. A. Dürer, Maria als Königin der Engel, Holzschnitt (1518).

Abb. 013. A. Dürer, Maria als Königin der Engel, Holzschnitt (1518).

Abb. 014. H. B. Grien, Kreuzigung. Handzeichnung Berlin, K. Kupferstichkabinett.

Abb. 014. H. B. Grien, Kreuzigung. Handzeichnung Berlin, K. Kupferstichkabinett.

Abb. 015. Schule Dürers, Kreuzigung Dresden.

Abb. 015. Schule Dürers, Kreuzigung Dresden.

alle Kapitel sehen