Karl Emil Franzos

Karl Emil Franzos

Karl Emil Franzos ist vor vier Jahren gestorben. Daß seine Würdigung so spät erfolgt, hat seine Ursache teilweise in äußeren Gründen. In einer Beziehung ist diese Verzögerung jedoch höchst erwünscht. Durch sie ist es möglich, zu konstatieren, daß Franzos' Ruhm kein so kurzlebiger ist, wie der vieler anderer modernen Autoren. Seit seinem Tode ist nicht nur ein von ihm druckfertig hinterlassener Roman erschienen, der einen berechtigten großen Erfolg hatte, fast größer als irgendeine seiner früheren Arbeiten, sondern mehrere Neuauflagen früherer Werke stellten sich als notwendig heraus. ältere Arbeiten wurden in Zeitschriften wiederholt und in neuen Versetzungen verbreitet. Diese Tatsachen, die hoffen lassen, daß Franzos noch lange unvergessen bleiben wird, legen die Pflicht aus, über ihn zu reden.


Ein solcher Versuch rnuß nun entsprechend dem Organ, in dem er erscheint, und dem Raume, der ihm zugewiesen werden kann, beschränkt und in seinem Inhalt etwas einseitig sein. Ein reiches äußeres und inneres Leben, ein umfassendes schriftstellerisches Wirken kann in wenigen Bogen klar angedeutet werden, ein jüdisches Jahrbuch wird aber naturgemäß in erster Linie Jüdisches berücksichtigen.

*) Das rein biographische Material zu dieser Skizze verdanke ich hauptsächlich der Witwe des Verstorbenen, Frau Ottilie Franzos, die durch ihre Treue, ihre schriftstellerische Begabung, ihr emsiges und von den besten Erfolgen begleitetes Erforschen jedes auch des kleinsten Details gewiß am ehesten zur Ausführung einer Würdigen und großen Biographie ihres Gatten berufen wäre. Für die Kindheit und Jugendgeschichte sind außer vielen Anspielungen und Schilderungen in zahlreichen Skizzen und Erzählungen besonders wichtig zwei selbstbiographische Aufsätze: die „Geschichte des Erstlingswerkes“, Berlin 1984, und das Vorwort zu dem nachgelassenen Roman „Der Pojaz“ (1905)

Karl Emil Franzos wurde in Czortkow in Galizien am 25. Oktober 1848 geboren. Sein Geschlecht führte er auf Spanien zurück und er fühlte einen gewissen Stolz auf diese Abstammung. Sein Vater Dr. Heinrich Franzos, dessen ärztliches Wirken von Privaten und Behörden mit Dank und Bewunderung anerkannt wurde, verheiratete sich 1835 mit Karoline Klarfeld (1810—1891) aus [/b]Odessa[/b], der Tochter eines gebildeten, aber unvermögenden Mannes Abraham Klarfeld, der aus Liebe zur Lektüre, besonders schöngeistiger, sein Geschäft vernachlässigte (lebte 1870 noch in Odessa). Aus der Ehe der Eltern entstammten viele Kinder. Von ihnen starben drei in frühester Kindheit. Ein Sohn, Max, ein dichterisch veranlagter Jüngling, von dem sich z. B. ein stimmungsvolles Gedicht „Judenhochzeit“ erhalten hat, starb 1857 als 20-jähriger Student der Medizin. Nur zwei Schwestern erreichten ein höheres Alter: Julie 1838-97, die etwas schwachsinnig blieb, und Leonore (Lorzia) 1840 (?)—1900, die als Kind von ihrer Wärterin fallen gelassen worden war und Zeit ihres Lebens bucklig blieb. Karl Emil, in seinem Vaterhause Milko genannt, war das jüngste Kind. Er wurde von seinem Vater, dem er auch äußerlich sehr ähnlich sah, besonders geliebt, der Vater versprach sich viel von seinem jüngsten Sprössling. Doch erlebte der tüchtige Arzt die Entwicklung des Knaben nicht, er starb bereits am 1. Juli 1858. Das Andenken des Vaters hielt der Sohn stets heilig und er gedachte seiner gern und oft in mündlichen Erzählungen wie in Schriften als einer idealen Gestalt. Der Mutter und den Schwestern blieb der Knabe und der Mann innig ergeben. Schwester Julie hals in der ersten Zeit dem Bruder aus, wo sie konnte, in den letzten Jahrzehnten ihres Lebens wurden die Schwestern von diesem reichlich unterstützt, ja lebten nach dem Verlust ihres Vermögens ausschließlich von ihm.

Der Knabe, dessen erster Lehrer ein Trainsoldat war, den der Dichter später häufig poetisch verklärte, besuchte zuerst die Klosterschule seiner Vaterstadt. Nach dem frühen Tode des Vaters übersiedelte die Mutter mit den drei Kindern nach Czernowitz. Karl Emil bezog nach kurzem erfolglosen Besuch der Realschule das Gymnasium (vgl. die Erzählung Friedele), das unter dem vortrefflichen Rektor Stephan Wolf stand, einem Bannerträger deutscher Kultur im Osten (gestorben 27. Februar 1898), den der dankbare Schüler wiederholt in seinen Skizzen, noch in der letzten, die er schrieb und veröffentlichte, ein ehrendes Denkmal setzte. Dieser Lehrer war ein vortrefflicher Philologe. Er verstand es in angezeichneter Weise, seinen Zöglingen die alten Sprachen lieb zu machen und sie zu einer hervorragenden Kenntnis anzuleiten. Mit manchen Schulgenossen, von denen der eine später Professor, zwei andere tüchtige Juristen, ein vierter Pfarrer wurde — sie sind alle in „Ungeschickte Leute“, „Stille Geschichten“, „Der Pojaz“ geschildert — kam er in innigen Verkehr und blieb mit ihnen in dauernder Verbindung.

Der Gymnasialschüler mußte, da der nicht übermäßig große Nachlaß des Vaters nur zur Bestreitung des Notwendigsten ausreichte, seinen Unterhalt durch Stundengeben erwerben. Schon als Gymnasiast hielt er im Auftrage seiner Kollegen einzelne wirkungsvolle Reden und veröffentlichte kleine Aufsätze. Bereits 1866 publizierte er im Bukowinaer Hauskalender seine erste Novelle. Dann 1867 eine Bukowinaer Liebesgeschichte aus der Römerzeit, eine Geschichte, die besonders unter den Mitschülern rühmliches Aussehen machte. 1867 plante er gleichfalls in Czernowitz eine Freiligrath-Feier, war aber genötigt, von ihrer Ausführung abzusehen, weil in ganz Czernowitz außer ihm und seinem Mitveranstalter kaum jemand eine Ahnung von dem deutschen Dichter hatte, und mußte seinen dafür bestimmten Prolog zu einem Fest für die durch ein großes Unwetter Geschädigten umgestalten. Trotz dieser ganz ungewöhnlichen Tätigkeit eines Schülers und trotz seines durch seine ärmlichen Lebensverhältnisse schwer zu befriedigenden Hanges zu Büchern war er kein Stubenhocker und kein Bücherwurm. Vielmehr übte er durch seine Fröhlichkeit ermunternden Einfluß auf seine Kameraden und ließ sich in seiner Heiterkeit durch die Prophezeiung einer Kartenlegerin, die ihm ein schlimmes Ende voraussagte, nicht allzu stark anfechten. Am 3. August 1867 bestand er als Primus seine Maturitätsprüfung mit Auszeichnung. In den folgenden Wochen besuchte er in Begleitung seiner Mutter den Großvater in Odessa und zog, nachdem er für großjährig erklärt worden war, um sein Erbteil an seine Mutter abtreten zu können, nach Wien, um Jurisprudenz zu studieren.

Auch als Student stand er trotz seiner Jugend — er war kaum 19 Jahre alt — völlig auf eigenen Füßen, gewann durch Stundengeben und literarische Arbeiten schwer genug sein knappes Auskommen, ließ aber den Mut nicht sinken und sich die Lebensfreudigkeit nicht stören. Zu seinen gleichaltrigen Studiengenossen gehörten Hubert Janitschek, der sich später als Kunsthistoriker, Alfred Klaar und Anton Schlossar, die sich als Literarhistoriker einen geachteten Namen erwarben, auch mit dem weit älteren Dr. K. Lueger saß er zusammen im „Akademischen Leseverein“. Er beteiligte sich sehr eifrig an studentischen Angelegenheiten. Er gehörte der Burschenschaft Teutonia an, als deren Vertreter er 1868 den Burschentag in Berlin besuchte, und mit der er noch bis 1882 in einem gewissen Zusammenhange war, hielt auch in dem Akademischen Leseverein wissenschaftliche Vorlesungen über Stifters „Studien“ und „Ein Lobgesang des Todes“. Wie die Czernowitzer Schulzeit, so war und blieb ihm das Wiener Universitätsjahr von all dem unvergänglichen Zauber der Jugend umflossen. Gern gedachte er in seinen Skizzen dieser Zeit und seiner Gefährten; „Unser Hans“ erschien 1881 im Feuilleton der „Neuen freien Presse“ und erregte bei der Studentenschaft freudiges Staunen.

Sein zweites Universitätsjahr, vor dessen Beginn er die Ferien zu Hause verbrachte, sowie die folgenden, verlebte er in Graz, in der Hoffnung, die sich nicht ganz erfüllte, in diesem billigeren Orte leichter sein Auskommen zu finden. Dort bestand er die Prüfungen, die erste juristische Staatsprüfung mit Auszeichnung. Wie in Wien, so beteiligte er sich auch in der zweiten Universität lebhaft am studentischen Leben, war Präsident der studentischen Verbindung Orion, trat als solcher mit Wilhelm Scherer und Julius Fröbel in Berührung, hielt Reden in Volksversammlungen der Deutsch-Nationalen, unterzeichnete den Aufruf an die deutschen Hochschulen vom 25. Juli 1870, spielte eine hervorragende Rolle bei dem am 6. Oktober 1870 für die Witwen und Waisen der gefallenen deutschen Krieger veranstalteten Feste und war Leiter eines deutsch-nationalen Kommerses am 5. Dezember 1870 — eine Tätigkeit, die er durch eine Geldstrafe büßen mußte, nachdem er bereits 1868 polizeiliche Schikanen erduldet hatte — und im Komitee des Siegesfestes vom 6. März 1871. Wo er auftrat, wirkte er außerordentlich durch seine Reden und Deklamationen, z. B. 1869 bei der Feier des 100. Geburtstages Alexander v. Humboldts in Czernowitz, in demselben Jahre, und zwar in Graz, bei der Gedenkfeier für Ernst Moritz Arndt, bei der auch sein junges Herz in Liebe erglühte („Sophie“ in „Stille Geschichten“). Während eines Ferienaufenthaltes in Czernowitz 1869 übernahm er, der als Grazer Student für manche österreichische Blätter korrespondiert und auch in einzelnen deutschen Zeitungen und Zeitschriften Aufsätze veröffentlicht hatte, seine erste Redaktion, die der „Buchenblätter“ (1. Jahrg. 1870)) die in manchen Zeitungen ehrenvoll genannt wurden.

Graz war und blieb ihm zeitlebens lieb; es ist die Stätte vieler seiner Erzählungen, auch der Schauplatz seiner einzigen Versnovelle „Mein Franz“; Lokalschilderungen, poetische Verwertungen einzelner Personen: seiner Kommilitonen, ehrsamer Bürger und vornehmer Herren finden sich in vielen seiner Geschichten, nicht etwa nur in denen, die während seiner Studentenzeit entstanden.

Schon während seines Grazer Aufenthaltes muß er mit der „Neuen freien Presse“ in Wien liiert gewesen sein; als deren Berichterstatter reiste er 1872 nach Straßburg zur Eröffnung der Universität. Die sonnige Erinnerung an diese Tage der Universitätsfeier, besonders die Fahrt nach dem Odilienberg, ist ihm durch sein ganzes Leben geblieben. Besonders erfreulich war ihm die Begegnung mit Josef Victor von Scheffel und Berthold Auerbach, deren er gern gedachte, - der letztere war, wie er berichtete, als Student mit Heinrich Franzos zusammen gewesen. Am 13. Mai 1872 kehrte Karl Emil nach Graz zurück, fest entschlossen, die Juristerei aufzugeben und sich ganz der Literatur zu widmen. Er übernahm zwar bald die Stelle eines Redakteurs am „Pester Journal“, verlor sie aber schon im Sommer desselben Jahres durch Schuld des Verlegers, der dann gerichtlich genötigt wurde, ihm eine ziemlich beträchtliche Entschädigung zu gewähren. Dann lebte er längere Zeit in der Hauptstadt Ungarns als eifriger Feuilletonmitarbeiter am „Pester Lloyd“ und berichtete für dasselbe Blatt von Wien aus über die dortige Weltausstellung. Die außerordentlichen Anstrengungen der letzten Monate und Jahre zwangen ihn zu einer längeren Ausspannung. Um diese sich zu verschaffen, verbrachte er den Winter 1873/74 in Italien, wo er sich in Nervi, Riva, Florenz und Capri längere Zeit aufhielt. Auch später war er noch wiederholt in Italien, wahrscheinlich auch im Frühjahr 1873, und empfing von Rom tiefe Eindrücke.

Im Jahre 1873 schlug er seinen Wohnsitz in Wien auf und nahm dort für mehr als ein Jahrzehnt seinen dauernden Aufenthalt. Von 1873 an waren in der „Neuen freien Presse“ die Novellen und Skizzen erschienen, die in außerordentlich vielen Zeitungen nachgedruckt wurden, die den Inhalt seines ersten Buches „Aus Halbasien“ Bd. I und II ausmachten. Die in „Die Juden von Barnow“ enthaltenen Novellen sind in verschiedenen Blättern zuerst erschienen. Es machte sehr viel Mühe, für diese Arbeiten einen Verleger zu finden.

Gerade diese Schwierigkeiten ließen ihn das Elend des freien Schriftstellerlebens so schwer fühlen, daß er im Herbst 1874 nahe daran war, Reporter zu werden; zu seinem Glücke konnte dieser Plan nicht ausgeführt werden. Er hatte den Sommer im Bad Dorna-Vatra in der Bukowina verlebt, war mit den 100 Gulden, die er von Wien aus mitgebracht hatte, zwei Monate lang ausgekommen; von dem Ertrage einiger Aufsätze konnte er die Rückreise nach Wien bestreiten. Drei Novellen, die er vorher geschrieben hatte, wanderten von Redaktion zu Redaktion und kehrten immer wieder zu ihrem Autor zurück. Er glaubte, daß nur die Anstellung im Bureau einer Zeitung ihn retten könnte. Daher ging er zu Etienne, dem Herausgeber der „Neuen freien Presse“, bot sich zu einer solchen Stellung an, wurde aber abgewiesen. Er war über diese Abweisung ganz verzweifelt, mußte am 1. Oktober zum erstenmal in seinem Leben seiner Wirtin die Miete schuldig bleiben und vermochte erst abends, als erste warme Mahlzeit des Tages, eine Tasse Kaffee zu sich zu nehmen. Dabei las er, daß demnächst in Würzburg die Gerichtsverhandlung gegen den Böttchergesellen Wilhelm Kullmann, der Bismarck in Kissingen angeschossen hatte, stattfinden würde. Er stürzte zur „Reuen dreien Presse“, um sich als Berichterstatter anzubieten, fand aber nicht den Mut hinauszugehen, sondern schrieb an Etienne und erhielt am nächsten Tage die Zusage, für eine Entschädigung von 200 Fl. inklusive Reisekosten und Spesen, nach Würzburg fahren zu dürfen. Freilich war der Aufforderung die Drohung hinzugefügt, niemals wieder einen Auftrag zu erhalten, wenn ein anderes Wiener Blatt besser über den Prozess berichtete. Zu seinem Glücke war dies der Fall. Die Berichterstatter der übrigen Wiener Blätter, die den Neuling scheel ansahen, überflügelten ihn trotz seiner unermüdlichen Arbeit. So waren wirklich, trotz aller Mühe, Franzos’ Berichte die kürzesten und unvollständigsten gewesen, und seine Reporterträume vernichtet.

In diesen Jahren 1875 und 76 erwarb Franzos durch die beiden schon genannten Bücher große und allgemeine Anerkennung. Sie sind nach meiner Überzeugung fast die besten Arbeiten; in ihnen liegen die Keime für vieles andere. In ihnen zeigt sich seine Eigenart, die er selbst einmal als „romantischen Realismus“ bezeichnete. Romantisch, weil trotz des entschiedensten Widerspruchs abgelebte Zustände mit einer gewissen Verklärung geschildert wurden; Realismus, weil der Autor mit großer Wirklichkeitstreue das darzustellen vermochte, was er sah. Und noch eine zweite Eigentümlichkeit zeigt sich schon in diesen ersten Büchern: die meisterhafte Behandlung der ethnographischen Novelle. Und zwar bewährt sich eine Doppelkunst, die den Romantikern in geringem Maße oder gar nicht eigen war: die eine, fremde Völkerschaften in ihrer Wesensart und Bedeutung darzustellen, die andere, die Landschaft in ihrem ganzen fremdartigen Zauber, in ihrer Gewalt und Lieblichkeit zu schildern. Frühlingswonne und Sommerlust sind viel seltener als Herbststimmung und Winterstürme; aber die letzten werden prächtig dargestellt. Die trübe und dunkle Natur gibt aber nur den entsprechenden Rahmen ab für traurige Zustände. Denn diese Bücher berichten weniger von Freude als von Leid, statt von glückseliger Ruhe melden sie von erbitterten, oft blutigen Kämpfen.

Der Kampf, den der Verfasser in dem Buche „Aus Halbasien“ führt, ist zunächst der gegen die unberechtigte Herrschaft des polnischen Elements in seiner Heimat. Die Stätte, in der die Geschichten spielen, ist des Dichters Geburtsstadt, die er Barnow nennt und bei deren Schilderung er die rührendste Anhänglichkeit beweist.

Ein höchst anmutiges Bild von diesem Städtchen entwirft er in der Skizze „Schiller in Barnow“, einem unvergleichlichen Stück, das von allem etwas hat, von erschütternder Tragik, von derbern Humor und rührender Innigkeit. Es ist die Geschichte von fünf Exemplaren der Schillerschen Gedichte, des einen, das im Besitz eines elenden, ruinierten Grafen sich befindet und lieben dem Casanova verstaubt, des zweiten im Besitze des Stadtarztes, der, in kleinen Verhältnissen aufgewachsen, emsigem Studium ergeben, nun durch die Lektüre ein besserer und glücklicherer Mensch wird; des dritten, das die Frau des Bezirksrichters liest, wenn sie sentimentale Anwandlungen hat; des vierten, aus dem ein jüdischer, verkümmerter Gelehrter sich gelegentlich Begeisterung holt; endlich des fünften, eines zerlesenen Exemplars von Schillers Gedichten, welches das gemeinsame Eigentum eines katholischen Mönchs, eines ruthenischen Schulmeisters und eines Barnower Juden bildet, dreier Menschen, verschieden in ihrer Bildung, verschieden in ihrem Geschick, aber einig in ihrem Streben und einig in ihrer Empfindung. Sie genießen die heiligste Weihe aus diesem Buche. „Die drei waren im Dunkeln und haben sich nach Licht gesehnt, sie waren in der Wüste und haben nach einem Quell gedürstet . . . Und was von Licht und Labung in ihrem armen, dunklen Leben leuchtet und quillt, ist ihnen aus diesen löschpapiernen Blättern gekommen.“

Aber nicht nur literarische Bewegung kennt das Städtchen, auch von politischen Stürmen wird es erregt. In dem Aufsatz „Jüdische Polen“ wird die Wahlagitation erzählt, welche das Städtchen in zwei feindliche Parteien spaltete, der Wahlkampf, in dem der mächtige polnische Graf unterlag, und der jüdische Advokat, welcher das Deutschtum und die Verfassung vertrat, obsiegte. Zwar wurden die Juden von des Grafen Knechten geprügelt, die „jüdischen Polen“ werden wohl auch bald wieder zu „polnischen Juden“; aber die Sache der Freiheit hatte einen Sieg errungen.

Neben der friedlichen Wahlschlacht der blutige Krieg: „Der Aufstand von Wolowce“ schildert die Untaten eines Grafen gegen die neuvermählten Frauen seiner Untertanen und seine fürchterliche Bestrafung. Der Humor kommt in der Geschichte „Wladislav und Wladislava“, der Erzählung von einem durchtriebenen Gaunerpaar, zu seinem Recht, einem Paar, das sich eine Zeitlang mit Glück als Patrioten aufzuspielen gewußt. Auch aus Rumänien weiß Franzos nichts Erfreuliches zu berichten. Es sind traurige Bilder, die er in „Gouvernanten und Gespielen“ von dem Schicksal junger nach diesem Lande gebrachter oder, fast möchte man sagen, verkaufter Mädchen entwirft, oder von jüdischen Wucherern, die, wie er in „Tote Seelen“ berichtet, für große Summen Totenscheine für lebende Verbrecher beschaffen, von der Unbildung, Modesucht und Pflichtvergessenheit der „rumänischen Frauen“, von dem „Richter Jancu“, der sein Weib und seinen Knecht und eine Zigeunerin ermordet, weil die ersteren in ehebrecherischem Umgang gelebt, durch Gift, welches sie von der letzteren erhalten, sein Kind getötet haben, ihn selbst töten wollten und an der Leiche des Kindes ihr Verbrechen fortsetzen, von diesem Richter, der vor dem Gerichtshof seine entsetzliche Geschichte erzählt und zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt wird.

Wir werden die Trauer nicht los, auch wenn wir von Rumänien nach Süd-Russland ziehen. Es packt uns mächtig, wenn wir in der Geschichte „Am Altare“ lesen, wie der russische Leutnant in einem alten Schlosse bei der Beerdigung des Besitzers den Popen, der an dem Altar prophetisch das Ende der Gewaltherrschaft verkündet, niederschießt.

Und sind es denn fröhliche Geschichten, die der Verfasser aus Österreich zu erzählen weiß? So spaßhaft die Geschichten auch sind, die er unter dem Titel „Kossuthjagden“ zusammenstellt, so sind sie doch von bitterem Ernste erfüllt, von innigem Mitgefühl für die verhängnisvollen Torheiten einer noch nicht längst vergangenen Zeit.

Aber bei einem Lande hellt sich des Erzählers Sinn auf, bei der Bukowina. Wenn er „von Wien nach Czernowitz“ fährt und die Reise beschreibt, sieht er nach der langen Trübsal der Reise am Ziele Erquickendes; wie hübsch weiß er sein Land „zwischen Dnjestr und Bistrizza“ uns vorzuführen; wie warm und erhebend „ein Kulturfest“, die Feier bei der Gründung der Universität Czernowitz, zu schildern. Und selbst wenn er Seltsames erzählt, wie die Geschichte der „ Leute vom wahren Glauben“, so hält er sich doch fern von spöttischer Übertreibung oder tadelnder Herabsetzung, mit einer Mischung von scheuer Verwunderung und herzlichem Mitleiden zeigt er uns die Dörfer und das Kloster dieser armen Leute, die, wie ihr Abt spricht, „lieber Gut und Geld, lieber Leib und Leben verlieren, als — den Himmel“.

Unter den angeführten Skizzen, welche nur den Inhalt des reichen Buches andeuten, nicht erschöpfen sollen, sind viele, die zum Teil durch ihren Stoff, ganz besonders aber durch die Art ihrer Schilderung einen gewaltigen Eindruck auf den Leser machen; als ergreifendste ist mir aber die Erzählung „Der Richter von Biala“ erschienen. Auch hier wieder die Mischung von Humor und Ernst, von Freude an einigen Personen und Trauer über die allgemeinen Verhältnisse. Es ist die Geschichte eines Mannes, der Soldat werden muß, während seiner Dienstzeit die Geliebte verliert, welche sich mit einem Vetter verheiratet, diesem, obgleich er ihn tödlich haßt, in Todesgefahr beisteht und das Leben rettet, und wegen dieser Tat zum Dorfrichter gewählt wird. Und als solcher erlebt er Grausiges und bewährt sich als ein mutvoller Mann. Die Tochter seiner einstigen Geliebten wird von einem Jäger geliebt, aber von dessen Herrn, dem Grafen verführt, der Graf von seinem Diener, der nach der Tat als Räuber in die Wälder flüchtet, erschossen, und nun muß der Richter dem alten Grafen, der racheschnaubend die Bauern anfährt, entgegentreten und kommt bei seinem kühnen Widerstand nur durch einen glücklichen Zufall mit dem Leben davon. In einem jahrelangen Kampfe muß er den widerwärtigsten Quälereien gegenüber seine eigene Sicherheit behaupten und die Interessen der bedrohten Gemeinde siegreich vertreten.

Ob diese Geschichte wahr ist? Ob alle die anderen Erzählungen und Schilderungen volle Wahrheit enthaltend Ich weiß es nicht. Aber eines weiß ich, daß sie nicht müßige Erfindungen eines witzigen Kopfes zur Unterhaltung einer sensationsbedürftigen Menge sind, sondern wahre Herzensergießungen eines tief empfindenden Menschen, der das Elend anderer nicht von der Ferne neugierig gaffend betrachtet, sondern fühlt, wie es die eigene Brust durchschneidet, und der auf Abhilfe des entsetzlichen Schicksals sinnt; daß sie ertönen wie die traurigen sehnsuchtsvollen Klagen des Patrioten, der das Land, das er liebt, der die Stämme, in denen er tüchtige Elemente erkennt, übermächtigen Gewalten preisgegeben, und wenn nicht unrettbar verloren, so doch einem schaurigen Untergang allmählich entgegenwanken sieht; daß sie uns ins Herz schneiden als die Hilferufe eines guten Deutschen, der den Rückgang der deutschen Kultur, welche ehedem in den Osten einzuziehen versuchte und nun gewaltsam aus denselben entfernt werden soll, grollend mit anblickt.

Uns interessiert hier am meisten die Schilderung der Juden. Auch sie ist, wie man aus den kurzen Analysen vielleicht schon erkannt hat, ein Kampf. Und in dieser Streitbarkeit liegt die Hauptbedeutung des Buches, sein starker Gegensatz gegen die früheren Ghettonovellen. Diese hatten, jede in ihrer Art, eine Verklärung der abgelebten Zustände im Sinn. Die Poesie des „Cheder“ wurde in ergreifenden Bildern vorgeführt, die Innigkeit des jüdischen Familienlebens, die friedliche Beschränkung in ihrer Abgeschlossenheit vorn Geräusche der Welt wurde mit dem Zauber der Romantik umkleidet. Kompert erkannte seine Spezialität darin, die Möglichkeit der Assimilation zwischen Juden und Christen zu betonen, schöne Jüdinnen vorzuführen, die zugleich mit den Segnungen der modernen Kultur, die Liebe zu einem Christen empfinden, geisteskräftige Männer, die eine Brücke bauen zwischen den anscheinend unvereinbaren Gegensätzen des Judentums und Christentums. Von solchen Tendenzen ist zwar Franzos nicht völlig frei, aber sein eigentliches Wesen ist ein anderes. Auch hier ist zu beachten, daß er nicht nur Dichter, sonderst auch Kulturhistoriker ist, und daß er als Dichter in weit höherem Grade Realist ist als seine Vorgänger. Dazu kommt noch ein anderes. Die früheren Ghettoerzähler wuchsen im Ghetto auf; ihre Jugendbildung war keine deutsche, sondern eine hebräisch-jüdische, sie hatten ein ganz anderes inneres Verhältnis zu diesen Zuständen, von denen sie sich selbst nicht ohne Mühe und vielleicht nicht ohne Schmerz losringen mußten. Franzos dagegen ist ein Deutscher von Geburt, Sohn eines deutschen Vaters, in deutscher Weise erzogen. Dadurch hat er keine Nachteile, sondern nur Vorteile; er hat schon als Knabe ein Ideal des Judentums in sich gefühlt, das jene sich erst mühsam erkämpfen mußten, er empfing früh geläuterte, religiöse Begriffe, befreit von allen Schlacken, er sah das Judentum historisch an und erkannte ihm wie eine Vergangenheit so eine Zukunft zu. Die Resignation, die ein starker Bestandteil in jener Wesen war; das Gefühl, die Juden seien nun einmal in die Verbannung zum Leiden geschickt, existierte nicht für ihn; der dumpfe Fatalismus, der darin bestand: Gott, der das Leiden gebracht habe, werde es auch wenden, war ihm völlig fremd. Er glaubte an eine Mission der Juden, an die Zukunft des Judentums. Der Geist der Religion erfüllte ihn, der Glaube hatte in ihm feste Wurzel. Nicht durch Vernunftgründe suchte er seinen Gottesglauben zu erhärten; die Pietät, die ihn beim Judentum festhielt, war es nicht ausschließlich, die seine Religiosität gestaltete, noch weniger Schwäche, die ihn veranlaßte, einen starken Halt außer sich zu suchen, sondern das Gemüt, das von der bloß materialistischen Weltanschauung abgestoßen, sich nach etwas Außerweltlichem sehnte, das ihn beruhigte und erhob. Er fühlte sich nicht veranlaßt, offen ein Glaubensbekenntnis abzulegen, aber seinen Vertrautesten gegenüber bekannte er seine Gläubigkeit.

Aus solchen Anschauungen erwuchs ihm seine Stellung zum Judentum und zu den Juden. Zu dem Judentum, dem er einen Platz unter den Faktoren der Weltentwicklung einräumen wollte, zu den Juden, die er zu modernen Menschen zu gestalten suchte. In dieser Weise ist sein oft angeführtes und nicht selten missverstandenes Wort „Jedes Volk hat die Juden, die es verdient“ zu begreifen, denn es will sagen, daß die Juden in sich die Assimilationsfähigkeit, die Kulturmöglichkeit, die Liebe zum Vaterlande, den Hang der Entwicklung zu nützlichen Staatsbürgern besitzen, daß sie aber in dieser Tätigkeit und in diesem Streben von den feindlichen Nationen zurückgedrängt werden. Aber so sehr Franzos die Sache der Juden zu der seinigen machte, so sehr er ihre menschenwürdige Behandlung verlangt, so sehr er gegen die Willkür, die gegen sie angewendet wird, protestiert, so ist er doch weit entfernt davon, alles in ihrem Wesen, in ihrem Handeln zu billigen. Auch hier strebt er nach Wahrheit. Er beschönigt ihre Mängel nicht, er weist nachdrücklich aus die Spitzbübereien hin, die manche Juden des Ostens in ihrer langen Leidenszeit als einzige Widerstandsmöglichkeit ersannen und ausübten, er zeigt empört und nicht mitleidsvoll ihre Fehler auf, ihr Beharren in kulturfeindlicher Absonderung; er fordert ihre Annäherung an europäische Sitten.

Solche Forderungen vereint mit warmherziger Teilnahme für die Unterdrückten zeigen sich schon in den Novellen und Skizzen der besprochenen Bände. Sie tritt noch deutlicher in dem ausschließlich den Juden gewidmeten Buche: „Die Juden von Barnow“ hervor (Stuttgart, 1877, 8. Aufl. 1907). Das Buch ist Leopold Kompert gewidmet. Jede der sechs in diesem Bande vereinigten Geschichten (seit der 3. sind zwei, seit der 4. noch eine hinzugefügt) ist charakteristisch für die Manier des Erzählers. Ausschließlich mit Juden haben es nur zwei zu tun. Beide sind streitbar, sie nehmen den Kampf auf gegen Vorurteile und Aberglauben. Die eine „Ohne Inschrift“: eine Frau, die ihr eigenes Haar auch nach der Ehe trägt, wird, nachdem sie einem Kinde das Leben geschenkt, gewaltsam ihres Schmuckes beraubt, stirbt und liegt ohne Inschrift begraben. Die andere „Ein Kind der Sühne“ fährt machtvoll gegen den Aberglauben los, der ein Kind verdammt, weil die Eltern schon bei ihrer Verheiratung in Zeiten schwerer allgemeiner Krankheit zum Opfer ausersehen waren, und gibt eine herrliche Schilderung der Mutterliebe, der Liebe, die den Tod besiegt.

Eine Art Mittelstellung unter den Erzählungen nimmt „Baron Schmule“ ein. Es ist die Geschichte eines von einem gräflichen Gutsbesitzer misshandelten Juden, der sich nun als Lebenszweck setzt, diesen Grafen zu ruinieren, es mit allen Mitteln fertig bringt, die Güter des Grafen an sich zu reißen, nach Annahme der Taufe den Adel erlangt und schließlich den gänzlich verlumpten, durch Trunk ruinierten Adeligen zu sich nimmt, ihn pflegt unter der Bedingung, daß er keinen Schnaps bekommen soll, — der Säufer weiß sich doch diesen Labetrunk zu verschaffen und stirbt. Jüdische Beurteiler haben sich über diese und ähnliche Erzählungen in späteren Bänden sehr entsetzt und dem Verfasser große Vorwürfe gemacht darüber, daß er ein solches Märchen ersonnen oder diesen Zug aus dem wirklichen Leben verewigt habe, aber die Anschuldigungen, die oft zu dreisten Verwünschungen ausarteten, sind ungerechtfertigt. Denn der Dichter soll kein Schönfärber sein, der Kulturhistoriker hat kein Recht, Missstände zu verheimlichen. Es kann nicht in Abrede gestellt werden, daß solche planmäßige Vernichtung eines Adeligen gelegentlich erfolgte; behandelt ein Dichter einen solchen Stoff, so hat er nur dafür zu sorgen, daß seine Schilderung eine folgerichtige ist. Gerade dieses Vorwärtsbewegen der Handlung, dieses eherne Einherschreiten eines unabwendbaren Schicksals weiß der Dichter meisterlich anzuzeigen.

Handelt es sich in dieser Geschichte um ein Aufeinanderprallen von Juden und Christen, so steht sie doch insofern allein, als hier die Taufe eines grimmigen Christenfeindes oder eines Juden, der einen Christen verderben will, nur durch den Haß hervorgerufen wird. Ein anderes Motiv der Annäherung von Angehörigen beider Glaubensgemeinschaften oder ihrer Entfremdung bildet die Liebe. Auch dafür bietet der Band eine Reihe eigentümlicher Beispiele. Tragisch sind sie alle, wenn sie auch nicht gerade mit dem Tode des Helden enden. Sehr eigentümlich ist „Das Christusbild“ (ursprünglich „David der Bocher“), die älteste Geschichte unseres Verfassers (1868). Es ist die Geschichte eines jüdischen jungen Mannes, der sich in der Fremde zu einem großen Arzt entwickelt, eine Gräfin liebt, von ihr wieder geliebt, aber verstoßen wird, weil er Jude ist. Der Verstoßene wird nicht verbittert, sondern bleibt ein edler Mensch. Es kommt nach Jahren zu einem letzten Zusammentreffen der beiden durch das Geschick getrennten, aber zu keiner Vereinigung, der tüchtige Mann lebt in stiller Entsagung, in edler Tätigkeit und wahrhaft priesterlicher Hoheit weiter. Die Geschichte ist gut erzählt, wenn auch ein bißchen breit. Der Autor beherrscht die Technik noch nicht vollkommen und vermag nicht ganz die von ihm berichteten Vorgänge glaubhaft zu machen.

Besonders wichtig dagegen, geradezu vorbildlich für Franzos' ganze Art, sind zwei andere Geschichten. Die eine ist „Der Shylock von Barnow“. Ein Jude betrachtet seine Tochter, die durch Lektüre und Erziehung verdorben und mit einem Christen durchgegangen ist, als eine Verlorene. Nach Jahren, da sie fast verhungert in seinem Hause Einlass begehrt, wird sie von ihm verstoßen, dem Hunger preisgegeben. Der Vater stirbt infolge eines Schlaganfalls. Erzählungsweise und Schilderung sind typisch für den Autor. Man kann diese als Kontrastwirkung, als Vermischung der Arten bezeichnen, mit dem düsteren Dahinleben des einsamen Mannes kontrastiert die fröhliche, laute Gesellschaft der Nachbarn, mit der Schilderung des traurigen Judenlebens die Darstellung einer frivolen, vergnügungssüchtigen Menge. In dieser aus christlichen Beamten und Adligen bestehenden Gesellschaft lauter schurkische oder leichtsinnige Männer, angefaulte, mindestens kokette Frauen; ihnen als Lichtgestalt gegenüber der jüdische Arzt, menschenfreundlich trotz seines Sarkasmus. Auch ein anderer kleiner Unstand verdient hervorgehoben zu werden: die einzige anständige Frau der Gesellschaft ist eine Deutsche; aber sie, deren Sittlichkeit unantastbar ist, besitzt keinen übermäßigen Verstand. Ein ferneres wichtiges Moment für die Erzählungsart ist folgendes: die Geschichte wird nicht fortlaufend berichtet, sondern eigentlich wird nur das Ende erzählt. Der Hauptteil wird eingeflochten in die Schilderung des frivolen Gesellschaftstreibens. Das möchte ich als Mischung der Arten bezeichnen, denn diese ganze Weise gehört schon eigentlich dem Drama an, das in vorbereitenden Szenen, in kurzen Dialogen die Vorgeschichte ergänzt und auf die Haupthandlang vorbereitet.

Die bedeutendste Geschichte aber ist „Nach dem höheren Gesetz“. Chane Silberstein, geb. Bilkes, lebt in zufriedener Ehe mit einem tüchtigen Mann, der sie achtet und liebt, nur ihr Inneres nicht zu erregen, ihre Leidenschaft nicht zu erwecken vermag. Da empfindet sie die wirklich große Liebe zu einem christlichen Beamten, einem Herrn von Negruß. Der Mann läßt sich, da er den Zwang der Leidenschaft ahnt, um nicht die geliebte Frau in Schuld zu bringen, von ihr scheiden, er selbst bleibt unvermählt, denn ihm bot die Ehe alles, was er von der Gemeinschaft mit einem Weibe verlangt. Auch die christlichen Eheleute leben zufrieden, und doch sind sie verfehmt; die Gesellschaft beachtet sie nur, insoweit sie es dem äußeren Anstand nach muß: ihr, der frivolen, lüsternen, verbrecherischen Sippe gilt dieser Mann, der einer großen Leidenschaft gefolgt ist, als Ehebrecher, und die Frau, die dem höheren Gesetz der alles verzehrenden Liebe gehorchte, als Buhlerin, oder, was den meisten noch schlimmer dünkt, als Jüdin. Das Eigenartige in dieser Geschichte ist nun, daß der Erzähler in seiner Sympathie schwankt. Er, der Herzenskündiger, müsste, so sollte man meinen, den Triumph der beseligenden Liebe mit mächtigen Worten verkünden, und gewiß sind die Liebenden mit ersichtlichem Wohlgefallen geschildert, aber doch wendet sich die innige Neigung dem schlichten, jüdischen Dulder zu, der sein Unglück, das man kaum ein selbstverschuldetes nennen kann, mannhaft trägt, weder den Mann verwünscht, der ihm sein Bestes geraubt, noch das Weib, das ihn unglücklich gemacht hat, — ein freudloser Mann, und doch von dem reinen Streben erfüllt, andere zu beglücken.

Das Werk „ Aus Halbasien“ war ursprünglich wohl schwerlich als der Anfang einer großen Serie geplant. Naturgemäß aber schloß sich, eben, weil der Autor den Beruf in sich fühlte, Westeuropa mit den Zuständen der östlichen Länder vertraut zu machen, den ersten zwei Bänden ein zweites, gleichfalls zwei Teile umfassendes Werk „Vom Don zur Donau“ (1878), und nach einem weiteren Jahrzehnt ein drittes „Aus der großen Ebene“, gleichfalls zwei Bände (1888), an. Der Charakter dieser späteren Sammlungen ist der ersteren verwandt. Neu ist in dem Buch „Vom Don zur Donau“ die Hinzufügung von Ungarn, über deren Berechtigung sich streiten läßt. Doch können diese ebenso wie andere höchst unterrichtende Bestandteile nur kurz angeführt werden: literarhistorische folkloristische Auseinandersetzungen durchaus nach den Quellen gearbeitet und doch so geschrieben, daß sie ein großes, allgemein gebildetes Publikum interessieren: „Die geistigen Bestrebungen der Bulgaren“, „Die Kleinrussen und ihre Sänger“, „Rumänische Poeten“, „Rumänische Sprichwörter“.

Außer den Abhandlungen, die aus einem Gebiete gekommen waren, das Franzos bisher nicht betreten hatte, bietet das Buch auch eine Reihe solcher Skizzen, die seiner eigentlichen Domäne angehören: „Kulturschilderungen und Novellen aus den Ländern des Ostens“.

Unter jenen scheint mir „Markttag in Barnow“, unter diesen „Mein Onkel Bernhard“ die bedeutendste. Die Schilderung des Wochenmarktes ist mit vollendeter Kunst durchgeführt: Gegenden und Menschen treten aufs klarste und deutlichste vor unsern Blick. Der Sonnenuntergang auf der Heide, Aufbruch des Bauern mit seiner Familie, Liebesszenen der Dienstleute und eheliche Zwiegespräche der Herrschaft, der Zug der Dorfleute — alles das gibt eine treffliche Einleitung zu der eigentlichen Schilderung. Welch reiches Bild, welch tolles Gewimmel! Die jüdischen Verkäufer in ihren verschiedenen Abstufungen, die städtischen und adligen Käufer und Verkäufer, die städtischen und adligen Herumlungerer, die teils billige Musik- und Gemäldekritik treiben, teils fade Galanterien reichen Judenmädchen entgegenbringen, die Hausierer und Bettler, die Landgeistlichen und Gutpächter, endlich auch die Schöngeister oder, richtiger gesagt, der Schöngeist von Barnow — alle helfen sie dieses wundersame Bild vervollständigen, das ebenso für die scharfe Beobachtungsgabe wie für die treffliche Darstellungsfähigkeit des Schriftstellers ein vorzügliches Zeugnis liefert.

„Mein Onkel Bernhard“ ist eine rührende Geschichte, eine traurige Illustration russischer Verhältnisse. Sie berichtet, wie ein reicher Mann durch die Willkür eines verbrecherischen Polizeimeisters an den Bettelstab gebracht, seiner Kinder beraubt wird, die besten Jahre seines Lebens in Einsamkeit und Dürftigkeit verbringt, an fremden Kindern, da ihm seine eigenen auf grässliche Weise entzogen waren, seine einzige Freude findet, und nur von dem einen Streben erfüllt war, Deutsch zu lernen, um in deutscher Sprache zu schreien, „daß mich die Gewaltigen dieser Erde hören und sich ihrer Brüder erbarmen“.

In ähnlicher Weise erzählen auch die übrigen Skizzen und Erzählungen von Trauer, Schmerz und Verbrechen. Es ergreift uns wunderbar, wenn wir in „Die Gezwungenen“ einen Polen sehen, der auf eine grundlose Denunziation hin nach Sibirien geschleppt, von dort entlassen, genötigt wird, aus den unglücklichen Weibern, die ein ähnliches Schicksal wie er gehabt, unter dem Hohnlachen eines vertierten Beamten eine Lebensgefährtin sich auszuwählen, eine Jüdin, die Christin werden mußte und nun mit ihr, ausgestoßen von ihren ehemaligen, verachtet von ihren jetzigen Glaubensgenossen, ein elendes und armseliges Dasein führt.

Eine Mischung von Trauer und Grausen erregt eine andere Skizze: „Der wilde Starost und die schölle Jütta“. An einem Fronleichnamstage hatte der Edelmann das Judenmädchen zuerst erblickt, sie am Abend geraubt und sie, die er anfänglich bloß zur Befriedigung seiner sinnlichen Gier zu gebrauchen gedacht, bei sich behalten und zu seiner Gemahlin erheben wollen. Zu diesem Zweck sollte sie Christin werden, aber wenige Tage vor jener feierlichen Handlung wurde sie mit ihrem Kinde während einer kurzen Abwesenheit des Starosten geraubt und blieb, trotz barbarischer Durchsuchung des Judenviertels, trotz grausamer Bestrafung der Räuber verschollen. Das Mädchen, gewaltsam geraubt, gab sich selbst den Tod, der Starost verbrachte in stumpfern Wahnsinn seine Tage.

Von russischen und rumänischen Gräueln wußten die früheren Skizzen zu berichten, von den grausamen und tragikomischen Missverständnissen des ehemaligen österreichischen Polizeistaates die kleinen Erzählungen, die unter dem Titel „Henker und Bajazzo“ vereinigt sind. Diese Schilderungen sind zum Teil Fortsetzungen der „Kossuth-Jagden“, über welche in den früheren Bänden berichtet war, zum Teil neue Beweise des großen Unrechts, das im Namen der Ordnung gegen Schuldlose verübt wurde.

Andere Skizzen, wie „Martin, der Rubel“, der Entwicklungsgang eines ruthenischen Pfarrersohnes zum russischen Spion, „Thodika“, der seltsame Lebenslauf eines rumänischen Bauern, mögen kurz erwähnt sein.

Die schon erwähnte dritte Abteilung (1888) vervollständigte das Werk. Auch in diesen neuen Bänden ist trotz der starken Verwandtschaft mit den vorhergehenden eine veränderte Tendenz zu konstatieren. Diese Veränderung besteht in der Zurückdrängung der novellistischen Beiträge und in der Einfügung allgemeiner Erwägungen, z. B. der Betrachtung über Frauenemanzipation. Vielfach wird von Juden erzählt und oft genug hat der Geschichtsschreiber traurige Momente hervorzuheben.

Das eine Moment ist die Verwahrlosung der Jugendbildung. Die Darstellung, welche Franzos in der Skizze: „Im Cheder“ von einer jüdischen Schule des Ostens gibt, ist entsetzlich genug: der Schmutz des Lehrers, die dumpfe Luft des als Schulzimmer benutzten Raumes, die barbarische Misshandlung der Knaben, die unmethodische, verständnislose Art des Lehrens, die Beschränkung des Lehrstoffes auf Hebräisch-Lesen und -Schreiben, Auswendiglernen der Bibel und der Erklärungen derselben — das alles gibt eine Ahnung von dem elenden geistigen Zustand der Erwachsenen, welche, kaum der Schule oder dem Schulalter entwachsen, die Mühen und Sorgen des Lebens in erschreckendem Maße zu tragen haben.

Das zweite Moment sind die frühen Heiraten, die dadurch hervorgerufene physische Schädigung der Männer und die Vernichtung jedes idealen Gefühls durch die Art der Eheschließung. Denn von Neigung, Liebe, Werbung ist dabei nicht die Rede; es handelt sich vielmehr nur um ein Geschäft, das durch Vermittler und die beiderseitigen Eltern abgeschlossen wird und dem die Hauptbeteiligten meist ohne jeden Widerspruch beitreten. Man kann nicht einmal sagen, daß die also geschlossenen Ehen unglücklich sind; die auf so seltsame Weise Zusammengebrachten leben, trotz der ungemein leichten Art der Ehescheidung, meist friedlich, nur eben die Art des Zusammenbringens ist eine unerfreuliche und die Folgen der frühzeitigen Ehen für die Verheirateten und ihre Nachkommenschaft sind sehr nachteilige.

Welch seltsame Zustände sich aus diesen Sitten ergeben, lehrt namentlich eine Skizze „Nathan der Blaubart“. Franzos gibt diesen Namen einem angeblichen Spielkameraden, weil dieser, kaum 30-jährig, die sechste Ehe schloß. Dies kam aber so: Der Elfjährige wird 1859 mit einer 50-jährigen Köchin verheiratet, um der gefürchteten Einreihung in eine Knabenlegion zu entgehen, und alsbald, nach Schwinden der Kriegsfurcht geschieden; der Dreizehnjährige mit einer Schwindsüchtigen, fast gleichaltrigen Kusine, einem argen Plagegeiste, die bald stirbt und ihrem nicht eben trostlosen Gatten ein ansehnliches Vermögen hinterlässt, der Vierzehnjährige mit einer 19-jährigen bildschönen Polin, die so lange unvermählt geblieben war, weil ihr Bruder, ein Abtrünniger (er war nämlich aus dem Elternhause fortgelaufen, um Medizin zu studieren), Schande über die Familie gebracht hatte, die aber von Nathan, der nur dem Namen nach ihr Gatte gewesen war, früh geschieden wird, um einen Freund ihres Bruders zu heiraten, dem sie ihre wahre Neigung zugewendet hatte; der Sechzehnjährige schließt mit einer sanften, hübschen Frau die erste wirkliche Ehe, die aber nach einigen Jahren getrennt wird, weil sie kinderlos ist; der Einundzwanzigjährige heiratet eine Frau, welche stirbt, nachdem sie ihm mehrere Kinder geschenkt hat; und so kann der 30-jährige Mann wirklich zu seiner sechsten Ehe schreiten.

Es ist kein Wunder, daß Menschen, die teils durch eigenes Verschulden, teils durch das schädliche Zusammenwirken äußerer Umstände körperlich verkümmern und geistig unentwickelt sind, sich zumeist jedem freien geistigen Hauch verschließen. Kommt es innerhalb des Ghettos zu einer geistigen Ausbildung, so ist diese einseitig — das greisenhafte Wesen eines solchen natürlich sehr frühzeitig dahinsiechenden „Wunderkindes“, das die ganze Bibel auswendig kann, mit Scharfsinn über talmudische Dinge disputiert, gelehrte und erbauliche Predigten hält, wird von Franzos höchst anschaulich, mit geradezu erschütternder Wirkung geschildert. Die wahre Wissenschaft existiert für diese Menschen nicht. Das Lesen deutscher Bücher wird als Abfall betrachtet, die Hinneigung zur Naturwissenschaft, im Gegensatz zu dem hergebrachten Schlendrian fanatischer Befangenheit gilt geradezu als Verbrechen. Wagt einer es nur, wie der als „Galilei von Barnow“ geschilderte Fleischhauer gesprächsweise zu behaupten, daß die Erde sich bewege und die Sonne stillstehe, so fehlt es nicht an Denunzianten, die seine „Ketzerei“ verraten, und nicht an einem Glaubensgerichte, das ihn in den Bann tut und ihn nötigt, seine Heimat zu verlassen, wenn er nicht jeden Umgang entbehren und mit den Seinigen verhungern will.

Trotz dieser traurigen Zustände und der entsetzlichen Folgen, die dem einzelnen drohen, welcher sich über diese Anschauungen hinwegsetzen und aus den Zuständen zu befreien wagt, ringen auch hier manche nach Befreiung. Deutsche Wissenschaft findet bei einigen, wenn auch mühsam und heimlich, Eingang. Meines Vaters, Abraham Geigers, Schriften schreibt Franzos einen Teil dieser Erweckung zu. Man wird von mir, dem Sohne, ein genaueres Eingehen auf die schön geschriebene und trefflich komponierte Skizze „Ein Befreier des Judentums“, in welcher die geistige Entwicklung des Verstorbenen und seine Einwirkung aus die Wissenschaft des Judentums dargelegt wird, schwerlich erwarten; was man mit tiefer Rührung und innerer Bewegung liest, darüber kann man nicht mit der nötigen Objektivität reden. Aber die Wirkung dieser und ariderer Schriften ist zu konstatieren. Sie treiben manchen Jüngling zum nachdenken und brechen das Joch tausendjähriger Vorurteile. Aber in Halb-Asien wird eine solche Wirkung nicht ohne Kampf durchgesetzt und nicht ohne üble Wirkung für die Kämpfer. Der eine, welcher Geigersche Schriften gelesen, wird von den Seinen geschlagen und schwer gestraft und kann seinen Wissensdurst nur stillen, indem er seiner Heimat den Rücken kehrt; der andere, Aaron G. in Bottuschany in Rumänien, der durch einen christlichen Theologen deutsch lesen und schreiben, die Anfangsgründe der Geschichte und Naturkunde erlernt hat, weiß sich itt seltsamer Weise zu befreien. Schließlich wird er Professor an einer deutschen Universität.

Derartige Selbstbefreiungen können freilich nur von hervorragenden Menschen, die gleich bedeutend durch Kraft und geistige Begabung sind, vorgenommen werden. Sie nützen höchstens den Befreiern selbst; der Menge bringen sie eher Nachteile als Vorteile, indem sich diese in ihrer Abneigung gegen die Abtrünnigen, in ihrem Widerstand gegen Licht und Aufklärung verstehen.

Außer den sonderbaren Zuständen und traurigen Missständen der Juden wird von Seltsamkeiten und Gräueln der christlichen Bevölkerung berichtet. Ungemein charakteristisch in dieser Beziehung sind die Skizzen „Der Geistertöter“, „Der Fehlermacher“, „Volks- und Schwurgerichte im Osten“. Für die Zwecke dieser Studie von besonderer Bedeutung und wichtig für Franzos’ Eigenart ist auch die seltsame Skizze „Der Bart des Abraham Weinküfer“, eine schwere Anklage gegen die russische Justiz, durch die ein gänzlich Unschuldiger zum Tode gebracht wird.

Der Name dieses unschuldigen Opfers erregt vielleicht manchem ein Lächeln. Aber dieser Name und ebensoviel andere komische oder übelklingende sind nur in seltenen Fällen freigewählte, meist, wie Franzos in der Skizze „Namenstudien“ ausführt, durch die Bosheit einzelner Beamten gegeben, die in Ausführung eines vom Kaiser Josef erlassenen Gesetzes den Juden die tollsten Namen anhängten und ein zum Segen bestimmtes Gesetz in Fluch verkehrten. Die von Franzos aus den Akten gemachten Mitteilungen zeigen, mit welcher Raffiniertheit manche Beamte vorgingen, wie sie, um ihr Mütchen an Wehrlosen zu kühlen oder um von zahllosen Opfern Geld zu erpressen, entweder Glieder einer und derselben Familie, Mutter und Töchter mit verschiedenen Namen benannten, oder geachteten Männern Namen wie Galgenholz und Blutsauger verliehen und sich erst durch beträchtliche Zahlungen bestimmen ließen, dieselben in Holzer und Säugling umzuwandeln. Die seltsamsten Namen, die fast ausnahmslos dem „Witze“ österreichischer Beamten ihren Ursprung zu verdanken haben, bestehen noch heute; Familiennamen, wie die folgenden: „Pulverbestandteil“, „Maschinendraht“, „Küssemich“, „Singmirwas“, sind noch keineswegs die schlimmsten.

Die Besprechung dieser drei Arbeiten, so groß auch der Zeitraum war, der zwischen der ersten und dritten liegt, durfte nicht getrennt werden, da sie notwendig zusammengehören. Aber die Zeit von 1876—1887 war von wichtigen Ereignissen. Unter den großen, damals begonnenen Publikationen ist die über den deutschen Dichter Georg Büchner zu erwähnen. Die Ausgabe seiner Werke durch Franzos erschien Frankfurt a. M. 1879. Es ist eine ungemein fleißige Arbeit, die, wie sie das Verdienst in Anspruch nehmen darf, einen zu seiner Zeit nicht recht gewürdigten und später fast vergessenen Dichter zu Ehren gebracht zu haben, ganz besonderer Anerkennung wert ist durch die saubere Behandlung des schwer zu bearbeitenden Testes, durch die lichtvolle Würdigung des Autors und seiner Zeit.

In Wien führte Franzos ein arbeitsreiches, aber auch geselliges Leben. Epochemachend für ihn war ein Sommeraufenthalt in Gmunden 1876, wo er L. A. Frankl nahe trat und in das Haus des Kaufmanns Benedikt und seiner Gemahlin, einer geborenen Mauthner, eingeführt wurde, deren durch Geist und Anmut gleich ausgezeichnete Tochter Ottilie er schätzen und lieben lernte. Nach einem Abstecher nach Berchtesgaden kehrte er nach Wien zurück und verlobte sich mit Ottilie Benedikt am 29. September. Die Hochzeit fand am 28. Januar 1877 statt. Frankl und seine Gattin standen an Franzos' Seite als seine Eltern; Adolf Jellinek hielt die Traurede.

Das junge Paar lebte zuerst Wien I, Schulhof 4; Franzos hat wiederholt in seinen Skizzen diesen stillen Winkel reinen Glückes geschildert.

Der Sommer wurde zumeist auf dem Lande, in den gesegneten Fluren Österreichs zugebracht; manche weitere Reisen führten das Paar nach Kopenhagen (1880), nach der Schweiz. Der Winter 1882/83 wurde in Berlin verlebt, und schon hier wurde der Plan gefaßt, nach Berlin zu übersiedeln, ein Plan, der aber Familienverhältnisse wegen für einige Jahre verschoben wurde. Manche anderen Reisen wurden von Franzos allein unternommen, teils zur Heilung von seinem Ischiasleiden, teils zur Anknüpfung oder Festigung literarischer Verbindungen, teils zur Erweiterung seiner Kenntnisse der östlichen Länder, z. B. nach Serbien, teils zum Schutze seines literarischen Eigentums, z. B. nach Holland und Schweden; im Oktober 1877 reiste er zur Mutter, deren Verhältnisse sich sehr ungünstig gestaltet hatten. Seit 1874 war das väterliche Vermögen vollkommen verloren. Der auf seine eigene Tätigkeit Angewiesene mußte seitdem die Mutter und nach deren Tode die Schwestern erhalten.

Manche anderen Reisen wurden teils von Wien, teils später von Berlin aus zu Vorträgen in jüdischen und nichtjüdischen Vereinen unternommen. Sie führten ihn fast nach allen Teilen Deutschlands, einmal auch nach Zürich. Bei diesen Vorträgen in allgemeinen und speziell jüdischen Vereinen wurden häufig Themata behandelt, die in den oben beurteilten Bänden der Sammlung „Halbasien“ bearbeitet waren; in den letzten Jahren waren es vielfach Vorlesungen aus den Werken, wobei je nach der Natur des Vereins die allgemeinen oder speziell jüdischen Werke bevorzugt wurden. Franzos war nicht eigentlich ein Redner; sein nicht sehr ausgiebiges und etwas sprödes Organ trug nicht weit; auch der österreichische Dialekt beeinträchtigte die Wirkung, endlich las er meist ab, da er seiner Gabe frei zu sprechen nicht völlig vertraute. Trotz dieser Mängel übte er oft bedeutende Wirkungen aus. Denn das Auditorium hatte die Empfindung, daß der Redner mit seinem Gegenstand aufs innigste verwachsen war, daß es ihm nicht nur daraus ankam, seine Hörer zu belehren oder zu unterhalten, sondern daß er wünschte, sie für den Gegenstand zu begeistern, wie er selbst davon erfüllt war. Dieses Glück ward ihm manchmal zuteil; einmal gab er davon seiner Frau in einem Briefe aus Nürnberg 1883 folgende Kunde:

„Es war das fünfte Mal in meinem Leben, wo ich von der Tribüne mit dem Bewußtsein abstieg, die Gemüter wirklich gepackt zu haben .... Es gehört mit zu dem Besten, was mau hier auf Erden erleben kann — man, das heißt ein Mensch, dem nicht mehr gegeben ist als mir. Weshalb ich denn auch die Nacht vom Freitag auf Sonnabend vor lauter Glück nicht schlafen konnte.“

Auf diesen Reisen empfing er große Anerkennung und freute sich der Bankette und anderer Ehrungen, die für ihn veranstaltet wurden. Oft erlangte er gerade auf diesen Reisen Anerkennung, wo er es am wenigsten erwartete. Als er einmal in Czernowitz war, sagte ihm ein Ruthene: „Sie sind der einzige Mann, der sich unserer annimmt.“ Auf derselben Reise wurde er von dem Kondukteur eines Schlafwagens, der nur die Ehre hat, ihm beim Auskleiden zu helfen, in folgender Weise angeredet: „Ich bin ein geborener Wiener, lebe zwischen Krakau und Podwoloczyska im Schlafwaggon, bin ein armer Teufel und habe mir in Krakau doch Ihre Bücher verschafft. Was Sie sind, werden Ihnen andere Leute gesagt haben, die können Ihnen auch ihre Anerkennung anders ausdrücken — ich, der alte Stürzer, möchte Ihnen wenigstens die Stiefel ausziehen.“

Auch über ein anderes Reiseabenteuer mag kurz berichtet werden. Am 19. März 1882 traf Franzos in Nürnberg ein. Von seiner Reise berichtete er seiner Frau: „Ich hatte das zweifelhafte Vergnügen, das Kupee nicht bloß mit drei Europäern, sondern auch mit einem echten, pajesgeschmückten und bekastanten Halbasiaten zu teilen. Natürlich erkannte er mich sofort als Bruder in Mose und begann ein Gespräch über die Judenfrage, welches den anderen (Urchristen) offenbar und mit Recht der Ausdrucksweise wegen sehr drollig vorkam.

Doch hielt ich mich tapfer, sekundierte eifrig, ohne Furcht, etwa mit lächerlich zu werden, und widersprach nur, soweit ich anderer Ansicht war. „Das hat schon Franzos viel besser gesagt als Sie,“ rief er wiederholt. Bis ich ihm endlich bedeutete, daß das doch nicht meine Schuld sei. Wie er sich darauf gebärdete, war urdrollig und bewegte mich doch .... Als er von meiner Vortragstour hörte, entwarf er sogleich den Plan, ein Dutzend Vorträge in Rußland für mich zu inszenieren, er bürge für den Erfolg. „Aber die Sprache?“ rief ich. „Nu, jüdisch können Sie doch!“ — Er meinte allen Ernstes Vorträge im Jargon um allen Juden verständlich zu sein, 300 Rubel pro Abend!

Drei wichtige Ereignisse gehören dem letzten Jahrfünft des Wiener Lebens an.

1883 begannen Beziehungen zu Dr. Jakob Rappaport. Der Genannte wünschte eine Biographie von Moritz Rappaport und eine Herausgabe von dessen Werken. Diese Arbeiten nahmen lange Zeit in Anspruch, führten aber, zum Teil auch infolge des Todes des Genannten 1886, zu keinem Abschluß.

Zu den großen Plänen Jakob Rappaports gehörte auch die Umgestaltung der „Wiener Illustrierten Zeitung“ zu einem großen Unternehmen, mit Angliederung eines erstklassigen Verlages. Am 30. März 1884 übernahm Franzos die Redaktion der „Wiener Illustrierten Zeitung“, der er zwei Jahre lang eine außerordentlich angestrengte, erfolgreiche Tätigkeit widmete. Zu den Mitarbeitern gehörte außer dem Kronprinzen Rudolf von Österreich, von dem gleich noch die Rede sein wird, eine Reihe der hervorragendsten Schriftsteller in Österreich und außerhalb: L. Büchner, Dingelstedt, Ebner-Eschenbach, E. Eckstein, Frankl, Ganghofer, Geibel, Greif, Grillparzer, Grün, Hamerling, Heyse, Jokai, Lingg, Littrow, Schack, Siegmund Schlesinger.

Franzos war ein außerordentlich geschickter und umsichtiger Redakteur. Bei diesem Unternehmen, wie bei einem anderen, von dem später noch eingehend gehandelt werden muß, begnügte er sich nicht damit, seinen Namen herzugeben, um die Ehren eitler Leitung einzuheimsen, sondern unterzog sich mit größtem Eifer den Mühen des treuen Berufes. Bei diesem reich illustrierten Wochenblatt kam es nicht nur darauf an, interessante, spannende, vor allem aktuelle Beiträge zu gewinnen, sondern auch darauf, das ihm bis dahin fremd gebliebene Technische zu bewältigen. Augenblickliche politische und literarische, welterregende oder im Gesellschaftsleben viel besprochene Vorgänge nötigten zur schnellsten Berichterstattung; oft mußte im letzten Momente der Inhalt einer schon festgestellten Nummer umgestoßen oder zum mindesten für einen ganz unerwarteten Artikel Platz geschaffen werden. Beiträge, die in sichere Aussicht genommen waren, blieben im letzten Augenblicke aus; für sie mußte Ersatz geschaffen werden. Alles dies erforderte eine genaue Personen- und Sachkenntnis, kostete unendlich viel Zeit und nahm die Kräfte in einer ganz ungewohnten Weise in Anspruch. Es fehlte nicht an Eintäuschungen und Aufregungen; Mitarbeiter, die sich zurückgesetzt oder nicht genug beachtet wähnten, zogen sich grollend zurück oder gaben ihrer Entrüstung heftigen Ausdruck; ein besonders Übelwollender spritzte seinen Groll in einer heftigen Broschüre aus. Franzos verstand es, Wohlmeinende zu mahnen, Empörte zu beschwichtigen, neue Kräfte zu gewinnen. Neben dieser ungeheueren Korrespondenz war er aber genötigt, wenn es nicht gelang, zur rechten Zeit Ersatzmänner zu schaffen, selbst in die Lücke zu springen und außer den Gegenständen, die er aus eigenem Antrieb mit Lust und Liebe behandelte, auch solche Artikel zu schreiben, die außerhalb seines eigentlichen Bereiches lagen. Ferien waren ihm bei dieser überaus anspannenden Tätigkeit karg zugemessen. Rappaport starb am 10. August 1886. Franzos schied am 1. Oktober des genannten Jahres aus der Redaktion aus.

Sehr merkwürdig ist die Beziehung zu dem Kronprinzen Rudolph von Österreich, die im Jahre 1884 begann.

Der Prinz ließ sich Franzos am 18. Februar auf dem Balle der Concordia vorstellen. Der Verkehr mit dem Prinzen gestaltete sich mit der Zeit, wenn man so sagen kann, zu einem fast freundschaftlichen. Franzos war viel bei ihm in der Burg, die Kronprinzessin gesellte sich auch öfter zu diesen Zusammenkünften. Der Prinz wurde in der Folge ein eifriger Mitarbeiter an der „Neuen Illustrierten Zeitung“. Er ließ Franzos oft zu sich holen, verbat sich dabei den Frack und sendete sehr häufig liebenswürdige Billete, deren Anrede „lieber Herr Franzos“ bald in die „lieber Franzos“ überging.

Bei diesem Verhältnis handelte es sich zunächst nur das große Werk „Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild“, dessen Veröffentlichung der Kronprinz nachmals bis zu seinem Tode leitete. Doch blieb es keineswegs bei literarischen Besprechungen, vielmehr war es dem Schriftsteller vergönnt, tiefe Einblicke in das innere Wesen des hochbegabten Fürsten zu tun. Nur wenige Andeutungen darüber veröffentlichte Franzos nach dem tragischen Tode des Kronprinzen. In vertrauten Gesprächen ließ er sich wohl etwas mehr gehen, ohne doch je die durch die Diskretion gebotenen Grenzen zu überschreiten.

Das dritte und wichtigste Ereignis ist die Begründung der Zeitschrift, der Franzos fast zwei Jahrzehnte hindurch den besten Teil seiner Zeit und eine ungeheure Arbeit widmete.

In das Jahr 1885 fällt die Anknüpfung mit dem Verleger Bonz in Stuttgart, die Vorbereitung der Halbmonatschrift „Deutsche Dichtung“. Die Zeitschrift hatte buchhändlerisch keinen besonderen Erfolg; nachdem Bonz den Verlag aufgegeben, versuchten hintereinander drei Verleger ihr Heil, bis die Zeitschrift endlich von der durch Franzos gegründeten Verlagsanstalt Concordia übernommen wurde. Sie erschien zuerst mit manchen künstlerischen Beilagen, Porträts, Faksimiles, gab aber diesen äußeren Schmuck nach einigen Jahren auf. Die Zeitschrift war und blieb ein vornehmes Organ. Sie brachte Dramen, Romane, Novellen der hervorragendsten Schriftsteller: Adolf Wilbrandt, Paul Heyse, Bauernfeld und vieler anderer. Sie eröffnete manchen jungen Talenten eine neue Laufbahn. Außer Dramen und Romanen brachte jedes Heft eine ziemliche Reihe lyrischer Gedichte, deren Auswahl und Korrektur dem sorgsamen Herausgeber viele Mühe machte. Ihre Eigenart fand die Zeitschrift aber darin, erstens, daß sie auf ungedruckten Nachlässen eben verstorbener oder längst heimgegangener deutscher Schriftsteller eine Fülle von wichtigem Material edierte, und zweitens durch biographische, literarhistorische Artikel über bedeutende allgemeine Fragen der Literaturgeschichte und über einzelne Persönlichkeiten. Auch für diese Rubrik wußte Franzos eine große Zahl deutscher Universitätslehrer und hervorragender Schriftsteller zu Mitarbeitern zu gewinnen. Drittens durch Rundfragen, auf die gleichfalls die hervorragendsten Schriftsteller bereitwilligst Antwort erteilten. Die eine bezog sich auf die Begründung einer deutschen Akademie, die andere führte den Titel „Die Suggestion und die Dichtung“. Eine dritte Rundfrage war die Frage nach der Theaterzensur. Die über die mittlere („Suggestion“) eingekommenen Gutachten wurden von Franzos in einer selbständigen Schrift zusammengestellt. Den Schluß eines jeden Heftes bildeten Kritiken, vornehmlich über belletristische Erscheinungen.

Gleichfalls auf Grund eines Rundschreibens (1891) entstand ein sehr eigenartiges, auch mit wertvollen Bildern der vertretenen Autoren geschmücktes Werk „Die Geschichte des Erstlingswerks“, eine Sammlung von 19 selbstbiographischen Aufsätzen (Leipzig 1894). Es enthält die Schilderungen der literarischen Anfänge deutscher Dichter, anhebend mit dem Nestor Theodor Fontane, geb. 1819, schließend mit Ludwig Fulda, geb. 1862. Das Unternehmen diente nicht, wie Paul Heyse, der gleichfalls unter der Schar vertreten ist, befürchtete, zur Selbstbespiegelung und rief nicht den Spott der Mitwelt hervor, sondern gab ungemein dankenswerte Beiträge zur Erkenntnis des Werdens, der oft schwachen und schweren Anfänge unserer beliebtesten Autoren. Der Zweck dieser Studie verbietet ein näheres Eingehen gerade auf diese Leistung, da es sich in ihr außer bei Fulda und Franzos ausschließlich um christliche Autoren handelt. Franzos' Beitrag, übrigens der ausführlichste des ganzen Bandes, ist weit mehr ein Stück Selbstbiographie, speziell der Jugendgeschichte unseres Autors, als eine ausschließlich dem ersten Werk gewidmete Studie, obgleich auch diese: „Das Christusbild“ seiner Entstehung nach gewürdigt wird. Aber er enthält höchst wichtige Ansätze zur Biographie und eine mit besonderer Liebe ausgeführte Schilderung des Vaters. Der äußerst anziehende Aufsatz erregt tiefes Bedauern darüber, daß Franzos seinen Plan, eine umfangreiche Selbstbiographie zu schreiben, nicht ausgeführt hat, und daß er es nur bei diesem Fragment bewenden ließ.

Hauptmitarbeiter der Zeitschrift war der Herausgeber selbst. Die meisten seiner Novellen, auch ein Drama, sind hier erschienen; der größte Teil der Kritiken, in denen er oft mit vielem Witz Dichterlinge abwies, rührt von ihm her; literarischhistorische Artikel, Forschungen und Mitteilungen, sind von ihm außerordentlich zahlreich beigesteuert. Eine besondere Erwähnung verdienen die sehr umfangreichen Veröffentlichungen über Ernst Schulze, die Studien über Heine, von denen eine über Heines Geburtsjahr später als selbständige Schrift veröffentlicht wurde, eine Charakteristik C. F. Meyers, die gleichfalls als besondere Broschüre erschien; eingehende Betrachtungen über den Fall Meißner-Hedrich u.v.a.

Die große Fähigkeit zum Redakteur, von der Franzos in der „Wiener Illustrierten Zeitung“ tüchtige Proben abgelegt hatte, bewährte er hier auf einem ihm naheliegenden Gebiete. Gerade für diese Heerschau über die gesamte literarische Produktion der Zeit, für eine vorurteilslose, gediegene Auswahl aus den verschiedensten Gebieten des Neuerstandenen war Franzos wie geschaffen. Er gab mit Gründlichkeit und Unparteilichkeit seine Urteile ab, ließ, meist ohne Widerspruch zu erheben, seine Mitarbeiter ihre Ansicht vertreten und hatte eine glückliche Hand in der Auswahl der Beiträge. Er vereinigte Strenge mit Milde, und diese glückliche Mischung von Freundlichkeit und Entschiedenheit brachte es zuwege, daß ein großer Stamm hervorragender Mitarbeiter ihm treu blieb.

Unter den Großen der vergangenen Epoche war auch Goethe mannigfach vertreten. Bei Erwähnung des Namens unseres größten Klassikers mag darauf hingewiesen werden, daß Franzos auch anderen Zeitschriften, z. B. dem Goethe-Jahrbuch, einzelne Beiträge übergab, die wertvolle Dokumente, mit gehaltvollen Anmerkungen begleitet, enthielten. Gerade bei solchen Verdeutlichungen bewährte Franzos auch die Kunst des Schriftstellers. Es kam ihm nicht nach Philologenart daraus an — obgleich er wie ein guter Philologe auf die Sauberkeit der von ihm abgedruckten Texte die größte Sorgfalt verwendete, denn er war ein kundiger Sammler und ausgezeichneter Leser von Handschriften — kurze Anmerkungen zu seinen Texten zu geben, sondern er hatte das Bestreben, die von ihm zusammengebrachten und der Öffentlichkeit übergebenen Dokumente in den Mittelpunkt einer lebensvollen Darstellung zu setzen. Und noch ein anderes kennzeichnete ihn als Editor. Nicht die „Wut des Ungedruckten“ erfüllte ihn, sondern die Liebe zu dem Bedenkenden, soweit es unbekannt war, so daß bei seiner Herausgabe ungedruckter Materialien selten Spreu mit unterlief, sondern wirklich Gediegenes an das Tageslicht gezogen wurde.

Gerade diese literarhistorischen Arbeiten nötigen zu einer allgemeinen Betrachtung. Franzos liebte die deutsche Literatur und war ihr für manche Einwirkung dankbar. Sein Verhältnis zu den Führern unseres deutschen Schrifttums war tief und innig. Eine besondere Einwirkung Schillers, an die man gern glauben möchte, wies er ab. Und doch hat er, wie schon früher gezeigt wurde, in wunderbaren Worten den Einfluß Schillers gerade auf die Juden des Ostens hervorgehoben. Über ein Stück Schillers, über „Wallenstein“ und über den Eindruck, den es hervorrief, äußerte er sich in einem Briefe an seine Gattin folgendermaßen: (Stuttgart, 1883). „Ich sah mir abends Wallensteins Lager und die Piccolomini an. Die Hund' spielen wie die Schwein.“ (Gelegentliche Äußerung Bauernfelds über das Burgtheater.) Aber ich kann es Dir kaum sagen, denn es scheint mir selbst ein Wunder, wie tief mich das Stück gepackt hat. Ich wurde ordentlich wieder jung und über Max und Thekla so sehr gerührt. Wenn ich das Drama lese, wirkt es gar nicht mehr auf mich. Und hier war ich von der mit Recht „unmöglich“ genannten Sentimentalität ganz ergriffen. Auch das riesige ausverkaufte Haus war mir interessant. Solche Andacht, solche Hingabe. Rings um mich nur Frauen und Backfische. „Ja, s' ischt eben unser Schiller“, sagte die alte Frau in der Loge neben mir. „Übermorgen ischt sei Geburtstag.“ So ist es doch wenigstens für Schwaben wahr, was ich einst geschrieben habe, daß Schiller nur geboren, aber nicht gestorben ist.

Als diejenigen, die den tiefsten und nachhaltigsten Einfluß aus ihn geübt hätten, bezeichnete Franzos Goethe und Heine. Wie eingehend und für die Literaturwissenschaft förderlich er sich mit Goethe beschäftigte, ist eben hervorgehoben worden; eine bestimmte Art der Einwirkung Goethes läßt sich freilich nicht erkennen. Die Lyrik, in der Goethe unerreichter Meister ist, war nicht Franzos' eigenstes Gebiet, obgleich ihm bei Gelegenheit manch trefflicher Vers gelang und zwischen Goethes abgeklärtem, ruhigem Stil und Franzos' lebhaft temperamentvoller Ausdrucksweise läßt sich kaum eine Ähnlichkeit feststellen. Aber für Goethes Wesen und Werke besaß er ein tiefes Verständnis; sie wird bezeugt durch das schöne Wort: „Dieser größte Dichter, dieser größte Mensch, der einem immer näher wächst, je älter man wird.“

Heines Beeinflussung dagegen ist ersichtlicher. „Er sagte“ (ich bediene mich hier der Ausführung R. M. Meyers in der Zeitschrift „Die Nation“ S. 299 ff. 1904) „wohl im Scherze von sich selbst, daß er ein Prosageschäft habe; doch aber hat die Heinesche Mischung von Sentimentalität und Ironie auf ihn vor allem in der lyrischen Färbung seiner besten Erzählungen gewirkt, und, wenn er Heine vor allem so auffasste, wie der erste Impressionist sich vor allem aufgefasst wissen wollte: als den tapferen Soldaten im Befreiungskriege der Menschheit, so ist auch hier Franzos sein Schüler gewesen, und zwar mit ehrlicherer Hingabe und festerer Konsequenz als der ungezogene Liebling der Grazien.“

Auch Heines Zeitgenosse, in manchem ihm ähnlich, in vielem sein Antipode, Ludwig Börne, mag für Franzos bestimmend gewesen sein. Der feurige Patriotismus des Genannten, sein entschiedenes Eintreten für die Juden, zeigen sich bei dem Nachfolger ebenso lebhaft wie die Mischung von Pathos und Ironie. Einzelne Aufsätze über Börne in seiner Zeitschrift bekunden Franzos' großes Interesse für ihn; er dachte an eine Gesamtausgabe des mutigen, ein paar Jahrzehnte nach seinem Tode in ziemliche Vergessenheit geratenen Schriftstellers und würdigte ihn in einem an einen Verleger gerichteten Briefe 1880 folgendermaßen:

„Börnes Bedeutung für die Gegenwart liegt meines Erachtens einerseits in dem großen und bleibenden Gesichtspunkte, den er in den Kämpfen seiner Zeit festhielt, andererseits in seinen unpolitischen Schriften. Er ist der mächtigste Vertreter der Humanität, den wir in unserer Literatur besitzen, und gilt dem Judentum, wie den Freiheitsparteien unserer Tage wie ein Heiliger. Der Reiz der Darstellung vollends ist ein unverwelklicher.

Weil Börne über seiner Zeit stand, ist er der unsere n so nahe und wird jeder Generation, wo sich Glaubenshass und politische Unfreiheit regen, ein Mahner und Lehrer. Und ferner: er ist ein Humorist von unvergängliche r Bedeutung“
.

Die schriftstellerische Tätigkeit der zwölf Jahre von 1875 bis 1887 war eine ganz außerordentliche. Außer der überaus anstrengenden redaktionellen Arbeit, den zahlreichen schon angedeuteten Studien weiß man von mancherlei Plänen, die den rührigen, rastlos arbeitenden Mann beschäftigten. Unter diesen sind besonders zwei jüdische zu erwähnen. Der eine bezieht sich auf eine jüdische Bibliothek, die 1880 bei Minden in Dresden erscheinen sollte. Sie sollte zunächst den „Roman“ von Börne, Heines „ Rabbi von Bacharach“, Geschichten von Kompert und Kulke und ähnliches enthalten. Vielleicht wurde der Plan deswegen aufgegeben, weil Hoffmann & Campe, wie aus einem vorliegenden Brief vom 1. Juli 1880 hervorgeht, den Abdruck der Heineschen Erzählung nicht gestatteten. Der zweite Plan war der folgende: Im Jahre 1885 dachte er an einen jüdischen Literaturverein, wie sich aus einem Briefe vom 14. Mai 1885, wahrscheinlich an Lazarus gerichtet, ergibt:„Ich meine einen Verein für jüdische Literatur nach dem Muster des einst bestandenen, den Philippen gründete. Wieviel wäre dadurch erreicht, wenn wir ihn aktivieren könnten; nicht nur die Möglichkeit, gute Schriften zu vertreiben, sondern auch welche Basis für jegliche Art der Agitation auf geistigem Gebiete. Was damals ging, müsste heute erst recht gehen und wäre heute gewiß noch viel nötiger als damals . . . Mir wird von allen Bekannten gesagt, der Verein blühte und ging nur an unpassender Auswahl des Gebotenen zugrunde. Ich glaube nicht, daß große materielle Mittel nötig wären, und was nötig wäre, wäre zu beschaffen. Also: wie denken Sie darüber und wären Sie bereit die Initiative zu ergreifen? Denn wenn's ein anderer tut, so geht's ja doch nicht.“

Aber auch nicht-jüdische Projekte erwog er mancherlei. Das wichtigste darunter ist das eines großen Wochenblattes nach Art der erst vor wenigen Jahren ins Leben getretenen „Österreichischen Rundschau“. Es scheint, daß das fehlschlagen dieses Planes zusammen mit der Erkenntnis, daß in Reichsdeutschland eine größere literarische Tätigkeit zu entwickeln sei — schon die ersten Bücher unseres Schriftstellers erschienen daselbst, kein einziges, nicht einmal das „Dichterbuch aus Österreich“ hat einen österreichischen Verleger — ihn ist seinem Plane bestärkte, seinen Aufenthalt nach Deutschland zu verlegen.

Die größeren selbständigen Arbeiten, die in Wien entstanden, sind die folgenden. „Junge Liebe“ (Breslau 1879) anmutige Liebesgeschichten, „Stille Geschichten“ (Dresden 1881), gut erzählte Novellen, besonders interessant dadurch, daß sie viel Selbsterlebtes verwerten, „Mein Franz“ (Leipzig 1883), die einzige größere ist Versen geschriebene Dichtung.

Die Hauptbedeutung der schriftstellerischen Tätigkeit jener Zeit des blühendsten Mannesalters liegt aber in vier Werken, deren zeitliche Aufeinanderfolge diese ist: „Moschko von Parma“, Geschichte eines jüdischen Soldaten (Leipzig 1880, 3. Aufl. 1899), „Ein Kampf ums Recht“ (zwei Bände, Breslau 1882, 5. Aufl. 1896); „Der Präsident“ (Breslau 1884, 3. Aufl. 1896); „Die Reise nach dem Schicksal“ (Stuttgart 1895).

Ludwig Fulda, der in einer feinsinnigen Studie („Die Nation“ 1885, Nr. 4 u. 5) gerade die Werke dieser Epoche analysiert und gewürdigt hat, wies darauf hin, daß zum Verständnis von Franzos' Schaffen der Umstand sehr wichtig ist, daß er Jurisprudenz studiert hat. Nicht etwa in dem Sinne, daß er Kriminalromane schreibt oder ausschließlich Rechtsfälle behandelt, sondern in dem, daß er mit Vorliebe Fälle wählt, in denen das Rechtsbewusstsein verletzt wird oder das gebeugte misshandelte Recht nach seiner Anerkennung, nach seinem Sieg verlangt. Schon in manchen kulturhistorischen Skizzen und Novellen der ersten Bände tritt dies Streben hervor, noch deutlicher in den Werken der Wiener Epoche. Zunächst in der „Reise nach dem Schicksal“. Hier liegt ein sehr verwickelter juristischer und moralischer Fall vor. Ein Graf Hallsee schwört einem jungen Manne einen Eid (und zwar einen Meineid), daß dieser nicht sein Sohn sei, in der Absicht, ihn von dem Gedanken zu befreien, er habe mit seiner Schwester in Blutschande gelebt. Der Tod des unglücklichen Mädchens erlöst dann beide Männer von ihrer schweren Last. In dieser kurzen Erzählung der Fabel wird man freilich dem Buche nicht gerecht, das allerdings in seiner Komposition und Technik wohl eines der schwächsten unseres Verfassers ist. In der Komposition, weil der Graf Hallsee, der eigentlich Hauptheld sein müsste, in dessen Seele sich die entsetzlichsten Kämpfe abspielen, nur nebenbei geschildert wird. In der Technik, weil die Vorgänge nicht erzählt, sondern das Ganze als Reden des Jünglings, und zwar während einer Eisenbahnfahrt, mitgeteilt werden; Reden, in die auch große Erzählungen anderer eingeflochten werden. Gewiß soll nicht geleugnet werden, daß das Buch ungeheure Spannung erregt, daß es kulturhistorisch wichtig ist, durch die Vorführung der Intrigen katholischer Geistlicher, die aus alle Weise, selbst mit unlauteren Mitteln, Seelen einzufangen bestrebt sind, die danach trachten, reiche Jünglinge, selbst gegen ihren Willen, in das Kloster zu ziehen, — aber einen recht befriedigenden Eindruck erweckt das Werk nicht.

Von größerer Bedeutung, ebenso wie das vorige einen Fall behandelnd, ist das Buch „Der Präsident“ — von Franzos auch in einem Drama bearbeitet, das aber keinen Erfolg hatte. Hier sind die Seelenkämpfe nicht übergangen, sondern in guter Weise geschildert, aber die Vorgänge sind derartig, daß sie als unwahrscheinlich bezeichnet werden müssen und das höhere Rechtsgefühl nicht befriedigen. Der Präsident von Sendlingen, ein musterhafter, unbestechlicher Richter, erkennt in einem Mädchen, das wegen Kindesmords zum Tode verurteilt werden soll, seine uneheliche Tochter. Er raubt sie aus dem Gefängnis, verheiratet sie, nachdem er dem Gatten zwar von ihrer Verführung, nicht aber von dem Kindesmord berichtet hat, stellt sich dem Minister und macht, da dieser ihn nicht dem Gericht übergeben will, seinem Leben selbst ein Ende. Auch hier wirkt manches peinlich, denn die Schuld, die der Präsident dadurch auf sich geladen, daß er einem braven Mann eine Verbrecherin überantwortet, ohne ihm ihre Schuld zu bekennen, wird mit seinem Selbstmord nicht gesühnt. Aber die Darstellung der Seelenqualen des Präsidenten ist eine hervorragende Leistung.

Das bedeutendste Werk dieser Art ist „Ein Kampf ums Recht“. Man hat das Buch häufig dadurch zu verkleinern gesucht, daß man es als eine Nachahmung des „Richters von Zalamea“ oder der Erzählung „Michael Kohlhaas“ bezeichnete. Fulda hat mit Recht auf den großen Gegensatz aufmerksam gemacht, der zwischen diesen Werken und dem französischen Roman besteht. Die Helden in den beiden ersteren Werken „treten mit imponierender Stärke nur für ihr eigenes Recht ein. Taras streitet für das Recht anderer oder richtiger für das Recht überhaupt, für die Gerechtigkeit als heilige Institution, als notwendiges Fundament des menschlichen Lebens“. Vor Kleist hat aber Franzos den großen Vorzug, daß er nicht wie jener in entlegene Zeiten und fremde Zustände hinabzusteigen braucht, die er sich aus einem mühsamen Studium der Quellen konstruieren mußte, sondern daß er diesen Helden in die ihm bekannten Gegenden Halbasiens versetzte. Damit gewinnt er nicht nur den Vorteil, sein eigenes Feld anzubauen, sondern auch den, das einzig mögliche Gebiet für die Erzählung zu erhalten, weil ein Charakter, wie der von ihm geschilderte, sich viel besser dort als innerhalb der Gesellschaft des Westens entwickeln konnte. „Die Geschichte“ — ich entlehne diese kurze Inhaltsangabe Fuldas bereits erwähntem Aufsatz — „des Taras ist eine Tragödie ergreifendster Art. Er, der treffliche und tief sittliche Mensch, hält mit inbrünstiger Treue an dem Glauben fest, daß alles in der Welt auf Gerechtigkeit gebaut sei. Deshalb packt ihn die Rechtsverletzung, die man dem Dorfe zufügt, in welchem er Richter ist, im Kern seines Lebens. Durch alle Instanzen, bis zum Kaiser hinauf sucht er sein Recht; denn es muß ja zu finden sein, sonst stürzt die Welt zusammen wie ein stolzer Bau, dessen Säulen einknicken. Aber es ist nicht zu finden, und mit dieser zerschmetternden Ansicht geht in Taras eine furchtbare Wandlung vor. Er verlässt Weib und Kind; er entrollt in den Karpaten seine Fahne, unter der alle willkommen sind, die erlittenes Unrecht sühnen wollen. Er unternimmt einen blutigen Kampf gegen die Gesellschaft, da er sich von Gott berufen glaubt, die Gerechtigkeit herzustellen, die auf Erden nicht gefunden werden kann. Erst dann bricht er in sich selbst zusammen, wie er erkennt, daß er selbst unrecht gewesen, daß er sich das Amt des Rächers angemaßt, ohne allwissend zu sein. Zugleich mit seiner Rechtsidee ist seine unwiderstehliche Riesenkraft zerstört; er stellt sich freiwillig seinen Verfolgern.“ Die volle, ganze Sympathie des Verfassers ist für seinen Helden, wenn er auch vielleicht manchmal an der Möglichkeit zweifelt, daß ein solches Tun Erfolg haben könnte. Was einmal die Freunde zu Taras sagten: „Dein Werk ließe sich nur ausführen, wenn Dir Gott seine rettenden Engel als Streiter geliehen hätte. Menschen aber werden ohne Zwang klar dann ihre Haut zu Markte tragen, wenn sie einen persönlichen Vorteil davon haben, wenn der Lohn der Gefahr entspricht“, ist doch nur in gewissem Sinne seine Ansicht. Aber bei diesem Werke handelt es sich nicht nur die Idee, um die groß angelegte Tendenz, sondern um die Ausführung im einzelnem Als Charakterstudie in lobenswertem Sinne konnte man auch den Präsidenten rühmen, aber hier trat die Umgebung durchaus zurück, und man hat die Empfindung, als fühle sich der Verfasser in dem Milieu nicht recht zu Hause; in unserem Werke dagegen tritt dem in mustergültiger Weise geschilderten Helden alles andere gleichwertig zur Seite: Nebenfiguren, Landschaft, Umgebung. Es ist ein Buch von bleibendem Wert, weil hier, wiederum nach einem Fuldaschen Worte „eine bedeutende Idee fast ohne Rest in Gestalten aufgegangen ist.“

So hohes Lob nun auch dem „Kampf ums Recht“ zu spenden war und so sehr Franzos in seinen Gestalten lebte, — er schrieb einmal an seine Frau 1880: „ich rolle eben meinen Taras hinab, und durch meine Seele gehen dabei Schauer, wie ich sie nie ähnlich empfunden. Nie habe ich eine meiner Gestalten so innig geliebt, ich lebe in ihm und sein Wehe ist mir eins, das nicht von mir abhängt“ — in unserem Zusammenhange erscheint doch „ Moschko von Parma“ als das hellste Juwel in der Dichterkrone. Auch darüber gibt es eine merkwürdige Äußerung des Dichters, 24. Juni 1880: „Übrigens wie immer es dem Moschko ergehen mag, ich werde nie bereuen, ihn veröffentlicht zu haben, und sollte es ein Misserfolg für den Markt sein, so ist es doch ein Erfolg für die literarische Bedeutung gewesen, und das soll mir genug sein.“ Moschko (der Name „von Parma“ stammt davon, daß er bei dem so bezeichneten Regimente dient), ein starker Barnower Judenknabe, will als Vierzehnjähriger beim Militär eintreten, wird zurückgewiesen und kommt zu einem Schmied in die Lehre. Er will zeigen, daß auch ein Jude zu diesem Handwerk taugt, und bewährt sich vortrefflich. Er erhält einen christlichen Mitlehrling und verliebt sich in dessen Schwester. Diese Liebe, eine wunderbare Jdylle, wird ohne jede Sentimentalität geschildert: der stämmige Bursche gewinnt die Achtung des Mädchens durch die kräftigen Prügel, die er zu erteilen vermag, das Mädchen gewährt das erste Zeichen seiner Neigung durch Speisen, die sie dem Burschen zusteckt. Die Liebe bleibt nicht ohne Folgen. Um der Geliebten etwas zu verschaffen, will er dreihundert Gulden annehmen, um sich als Ersatzmann beim Militär anzubieten; dies unterlässt er auf Bitten des Mädchens; da trifft ihn das Unglück, zum Soldaten ausgehoben zu werden. Nach 20 Jahren kehrt er zurück. Seine Geliebte hat sich verheiratet, ihr und sein Sohn ist von dem Onkel, jenem früheren Mitgesellen, an Kindesstatt aufgenommen. Nun verrichtet Moschko das große Sühnewerk. Er lebt im ärgsten Elend, vertreibt sich seine Zeit und verdient sich sein Trinkgeld als Aufschneider und Lustigmacher; da er aber bemerkt, daß sein Sohn, durch seine Erzählungen angereizt, Soldat werden will, gesteht er ihm seine Lügen und will, nachdem er von jenem das Versprechen erlangt, von seiner Soldatenlust zu lassen, in den Tod gehen. Die Beichte, die er dann als Sterbender dem Arzt ablegt — in dieser Figur hat Franzos wie so oft seinen edlen Vater gezeichnet — die kurze Stunde, in der er die Heißgeliebte wiedersieht, das ist alles von einer so poetischen Kraft, einer so hinreißenden Gewalt, daß das Werk nicht laut und nicht energisch genug gerühmt werden kann. Außer diesem Helden der Entsagung, diesem wahrhaften Märtyrer, sind die übrigen Personen: Heiratsvermittler, Handwerker, Mitglieder der Assentierungskommission, christliche Beamte, Vorsteher der jüdischen Gemeinde eindrucksvoll geschildert. Gerade in diesem Beispiele zeigt sich die Art der Kontrastwirkung, die schon oben als eine der Eigentümlichkeiten Franzosscher Kunst hervorgehoben wurde: auf der einen Seite der prächtige Mensch, der für Vaterland, Glauben, Liebe leidet und sein Elend wie ein Held trägt, er macht keine Anstalten, die Geliebte zu verraten, und unterlässt es mit wahrhaftem Heroismus, sich seinem Sohn zu erkennen zu geben; auf der andern Seite die satten Reichen, die behäbigen Nichtstuer, die keinen Funken von dem Heldentum des Armen haben und sich doch unendlich besser dünken als er; bei der Schilderung des einen die schlichteste, innigste Gemütssprache, bei der Vorführung der anderen die schneidendste Ironie. Man hat dem Buche gelegentlich zum Vorwurfe gemacht, daß es zwanzig Jahre überspringe, aber dieser Vorwurf ist gänzlich ungerechtfertigt; denn es ist und soll sein eine Barnower Geschichte. Was der alte Soldat in seinem Regiment erlebt, ist für ihn nur eine Episode, die recht wohl in eine Nebenerzählung, in eine Beichte (wenn man dies Wort von den Bekenntnissen brauchen darf, die ein jüdischer Invalide einem jüdischen Arzt ablegt), niedergelegt werden konnte. Hier war nur zu schildern: Jugendleben und Liebe, Entsagen und Sterben. Man möchte geradezu behaupten, daß sich in dieser Beschränkung der Meister zeigt. Es ist ein Zeichen hoher Kunst, daß sich hier mit Überspringung einer langen Zeit das Ende an den Anfang fügt. Nach meinem Urteile ist Moschko von Parma fast das Beste, was Franzos geschrieben; es gehört zu dem Schönsten und Bedeutendsten, was dieser Zweig der Literatur aufzuweisen hat.

Am 3. November 1887 fand die Übersiedlung des Paares nach Berlin statt. Der Verkehr dort war ein ungeheuerer, so daß das Ehepaar in einem der ersten Berliner Winter hundert Gesellschaften besuchte. Außer zahlreichen Häusern der besseren jüdischen Gesellschaft gehörten ihrem Kreise Schriftsteller, Gelehrte und Künstler in großer Menge an. Sehr viele interessante Menschen, mit denen sie nicht direkt verkehrten, lernten sie gelegentlich kennen.

Franzos bereute nie, trotz der innigen Beziehungen seiner Frau zu Wien, die aufs treueste festgehalten wurden, die Übersiedlung vorgenommen zu haben. Die Gründe des Wechsels des Aufenthalts wurden schon früher angedeutet. Franzos zerriss nie die Bande, die ihn an Österreich fesselten, blieb auch bis an sein Ende österreichischer Staatsangehöriger. Aus diesem Grunde war es ihm nicht möglich, in Stadt und Gemeinde ein öffentliches Amt anzunehmen, wie ihm oft nahegelegt wurde; aber in Vereinen entfaltete er eine segensreiche Tätigkeit. Er stellte seine rednerische Kraft gern Wohltätigkeitsveranstaltungen zur Verfügung, hielt auch in vielen jüdischen und nicht-jüdischen Vereinen Vorträge; einmal absolvierte er einen wohlbesuchten und mit großem Beifall aufgenommenen Zyklus „Über osteuropäische Literatur“ im Viktoria-Lyzeum.

Eine besondere Tätigkeit entwickelte er in dem Deutschen Zentralkomitee für die russischen Juden, das sich im Frühling 1891 bildete, und dem er als Schriftführer vom Anbeginn bis zur Einstellung von dessen Tätigkeit angehörte. Über diese seine große und erfolgreiche Arbeit gibt der stenographische Bericht über die Delegiertenversammlung, Berlin 20. und 21. Oktober 1901, ausführliche Kunde. Er legte selbst dieser Versammlung einen Entwurf zu einem von ihm verfassten Aufrufe vor, der zur Charakterisierung seiner Anschauungen hier folgen mag:

„Schwere Drangsale sind über die Juden in Rußland hereingebrochen. Veraltete Gesetze, selten vorher gehandhabt, werden jetzt mit äußerster Strenge durchgeführt, und jeder Tag bringt neuen, noch härteren Druck. Schon sind Tausende aus Heimat und Erwerb vertrieben; glücklich, wer die Reste seiner Habe rettet; die meisten verlassen als hilflose Flüchtlinge die Städte, wo sie als fleißige Bürger, den Ihren zum Segen und niemand zu Leide, ihr Brot erwarben. Daß man sie nicht über die Grenze verweist, was frommt es ihnen?! In den überfüllten Bezirken, wo sie vielleicht geduldet würden, erwartet sie nur der Hunger. Sie müssen auswandern und mit ihnen alle, die sich durch geistiges Streben ein menschenwürdiges Los zu erringen gehofft. Denn gleichzeitig sind den russischen Juden alle gelehrten Berufe verschlossen worden.

Die ganze gesittete Menschheit ist einig in ihrem Mitgefühl für dies große und unverschuldete Elend. Dieses Mitgefühl hat uns, deren Vaterland die Flüchtlinge zuerst betreten, die Mittel zugeführt, durch die wir bisher die Not gelindert; wir haben die Unglücklichen bis an die fernen Gestade ihrer neuen Heimat geleitet und sie auch dort nicht hilflos gelassen.

Diese Mittel gehen zu Ende, die Not aber ist im Wachsen. Die Zahl der Flüchtling, die Schwierigkeit, ihnen neue Wohnstätten, neuen Unterhalt zu schaffen, wird immer größer.

Darum haben wir uns entschlossen, auch auf diesem Wege das Erbarmen für die Unglücklichen anzurufen. Möge das werktätige Mitleid gleich groß sein wie die Not, die gelindert werden soll. Und so bitten wir alle, alle, die menschlich fühlen, uns ihre Spenden bald und reichlich zukommen zu lassen.“


In der Debatte über diesen Ausruf, den der Vorsitzende als „nach Form und Inhalt gleich schön“ charakterisierte, und in der Beratung über die Zentralisierung der Geldmittel ergriff Franzos mehrmals das Wort. Er trat energisch für Zentralisierung der Mittel ein. Als Referent der Kolonisationskommission erstattete er einen sehr ausführlichen Bericht (S. 78—106 der angeführten Druckschrift). Er berichtete über die vielfachen Arbeiten der Kommission, die alle Weltteile durchgenommen hatte, besprach besonders die Bestrebungen der Flüchtlinge nach Palästina zu gehen, und setzte lichtvoll die Gründe auseinander, warum von dieser Kolonisation Palästinas abgesehen werden müsse. Er empfahl als das einzig mögliche Land Mittel-Brasilien, und zwar die Provinz San Paulo, schlug vor, dort eine Kaffeeplantage zu kaufen, wo für die Kolonisation von 600 Personen je 1.000 Mk. pro Kopf erforderlich seien, und schloß seinen Bericht mit folgenden Worten: „Lassen Sie mich mit einem Wunsche schließen, der hoffentlich kein pium desiderum bleiben wird. Wir haben ein Gebiet betreten, auf welchem sich die Gegensätze unendlich scharf gestaltet haben. Möge nur ein Wetteifer unter uns sein: Wer das meiste dafür leistet, daß jenen Unglücklichen geholfen wird. Und glaubt jemand, daß der andere auf keinem ganz vollkommen richtigen Wege ist, hält er nur den eigenen Weg für den richtigen, dann sage er es. Aber er sei nicht unduldsam, geschweige denn gehässig gegen die fremde Überzeugung. In omnibus charitas.“

In einem Schlußwort mußte Franzos die mannigfachen Gegenvorschläge, die teils der Kolonisation überhaupt widerstrebten, teils Palästina und Nordamerika in erster Reihe begünstigen wollten, zurückweisen. Schließlich wurde der Antrag der Kommission in folgender, etwas veränderter Fassung angenommen: „Der geschäftsführende Ausschuß des deutschen Zentral-Komitees widmet seine Fürsorge zunächst der Erforschung der Kolonisationsverhältnisse in Brasilien.“

In den ersten Berliner Jahren unternahm er viele Vortragsreisen, war in der ersten Zeit mit der Zusammenstellung seines schon behandelten Werkes „Aus der großen Ebene“, während des ganzen Berliner Aufenthaltes mit der gleichfalls bereits charakterisierten Zeitschrift „Deutsche Dichtung“ und den daraus hervorgegangenen Sammelwerken beschäftigt. Im Jahre 1895 begründete er eine eigene Verlagsanstalt Concordia. Seine Motive dazu waren die Hoffnung, sich dadurch das Leben pekuniär zu erleichtern, und der Wunsch, Herr über seine Bücher zu werden und seiner geliebten „Deutschen Dichtung“ einen dauernden Verlag zu schaffen. Die großen Hoffnungen, die er aus diese Gründung gesetzt hatte, die er in seinen Träumen zu einer der ersten Verlagshandlungen emporwachsen sah, gingen nicht in Erfüllung.

Hauptsächlich waren auch diese Jahre einer großen produktiven Tätigkeit gewidmet. Die Zahl der Novellen, die in dieser Berliner Zeit entstanden oder zum Abschluß gelangten, ist sehr groß. Auch bei der Charakteristik dieser Epoche muß ich mich damit begnügen, die Werke allgemeiner Natur entweder nur zu nennen, oder in ganz kurzer Weise zu behandele. Zu den Werken allgemeiner Art gehört die größere Erzählung „Die Schatten“ (Stuttgart 1889), „Der Gott des alten Doktors“ (Berlin 1892), „Der Wahrheitssucher“ (Jena 1893, 3. Aufl. 1896), die letzteren beiden zwei tiefsinnige, philosophische Fragen mit Ernst behandelnde Bücher, auf die er großen Wert legte; die Geschichte „Der kleine Martin“ (Berlin 1896“ „Allerlei Geister“ (Berlin 1897), „Mann und Weib“ (Berlin 1899), in denen manche Vorgänge des Berliner Gesellschaftslebens verwertet wurden; „Ungeschickte Leute“ (Jena 1894, 3. Aufl. 1903), eines seiner liebenswürdigsten Bücher, das mit Benutzung eigener Erlebnisse, besonders der Vorkommisse aus seiner Jugendzeit mit Humor und leichtem ironischen Anflug Idealisten vorführt, die dem Lebenskampfe nicht völlig gewachsen sind und in ihrem hohen Fluge ermatten. Gegen Ende seines Lebens, seit seinem letzten größeren erzählenden Werke 1896, trat das Novellistische entschieden in den Hintergrund, wenn auch einige kleinere Erzählungen erschienen, die erst nach seinem Tode in zwei Bänden gesammelt wurden: „Neue Novellen“ (Stuttgart 1905), „Der alte Damian und andere Geschichten“ (das.). Aber er überraschte und erfreute seine große Gemeinde durch ein merkwürdiges Buch „Deutsche Fahrten“, dessen ersten Band „Anhalt und Thüringen“ er selbst herausgab (Berlin 1903), dessen zweiter Band „Aus den Vogesen“ (Stuttgart 1905) durch die liebevolle Sorgfalt seiner Gattin ediert wurde. Er überraschte mit dieser Gabe, denn man war diese sorgfältige, bis auf das Kleinste sich erstreckende Beobachtung deutscher Landschaft bei ihm nicht gewohnt; er erfreute damit, denn er wußte mit soviel Anmut zu belehren, mit solcher Anschaulichkeit darzustellen, einen so vielseitigen Kreis der Interessen zu berühren, daß man von der Lektüre gefesselt blieb. Es ist kein Bädeker, kein statistisches noch geographisches Handbuch, keine bloße Anekdotensammlung und keine geschichtliche Darstellung, aber das Buch ist von allem etwas und dazu noch einiges mehr: das Bild einer in sich gefesteten, abgeklärten Persönlichkeit.

In der Absicht dieser Blätter kann es nicht liegen, alle diese für unsern Zweck externen Bücher ausführlich zu besprechen, um so weniger, als der zugemessene Raum zur Kürze zwingt; wohl aber müssen drei Werke aus dem eigensten Gebiete des Erzählers behandelt werden, weil sie den Interessen dieses Jahrbuchs besonders nahe stehen. Es sind „Judith Trachtenberg“ (Breslau 1891, 4. Aufl. 1906), „Leib Weihnachtskuchen und sein Kind“ (Berlin 1896), „Der Pojaz“ (Stuttgart 1905), jetzt schon in 6. Aufl. ausgegeben).

Judith Trachtenberg behandelt dasselbe Motiv, das in manchen früheren Erzählungen angeschlagen war: die Tochter des reichen Juden, die in christlicher Gesellschaft aufwächst, wo sie nur wegen ihrer Schönheit und des Reichtums ihres Vaters geduldet wird, den Gegensatz zwischen dem Mädchen und ihrem Bruder, der dies Geduldetsein in christlichen Kreisen verschmäht, den wackeren jüdischen Vater, der die Tochter innig liebt und sie den Gefahren entziehen möchte, die ihr durch die christliche Gesellschaft drohen, die gänzlich verlotterten adligen Kreise, die mit bäurischer Freude die Jüdin einem Grafen in die Arme treiben, insbesondere einen höheren Beamten, einen vollkommenen, stets unbestraft bleibenden Verbrecher, der die Mitwissenschaft der gleich zu erwähnenden Tat dazu benutzt, um von dem Grafen die ungeheuersten Summen zu erpressen. Von der Mitte des Bandes an kommt ein neues, zwar von unserm Verfasser sonst niemals, aber in der übrigen Romanliteratur stark verbrauchtes Motiv hinzu, die heimliche Taufe und Verm?hlung, die aber nicht durch einen wirklichen Priester, sondern durch einen mit Gold gedungenen Betrüger geschieht. Auf diesen schmählichen Akt folgt das irrende Leben des jungen Paares. Der eigentliche Roman beginnt erst, als das Zusammenleben der Beiden aus dem flüchtigen Rausch der ersten Monate zu einer entsetzlich peinigenden Tragödie wird, als Judith erfährt, daß ihr Vater längst tot sei, während man ihr vorgespiegelt hatte, daß er lebe und sie verfolge, und als sie durch einen Zufall den Betrug und den Schimpf erkundet, den man ihr angetan. Nach langen Mühen, nachdem sie in die Heimat zurückgekehrt und einer schweren Krankheit verfallen war, kommt eine Versöhnung zustande. Sie setzt es durch, daß Graf Agenor sie, die Jüdin heiratet, von ihrem Bruder sich gleichsam einsegnen läßt, schließlich gibt sie sich selbst den Tod. In dem Roman sind wundervolle Einzelheiten und prächtige Charaktere: eine alte Jüdin, die die Zurückgekehrte zu sich aufnimmt und pflegt, ein ausgezeichnet geschilderter Arzt (aus dem Shylock von Barnow und Moschko von Parma und manchen anderen Erzählungen wohlbekannt), der Bruder Raphael hat in seiner Verstocktheit einen grandiosen Zug an sich. Aber ich halte das Psychologische des Romans für misslungen. Ein Charakter wie der der Judith versöhnt sich entweder überhaupt nicht, oder er versöhnt sich ganz. Entweder sie erzwingt die Verzeihung ihrer Glaubensgenossen sowie die ihres harten Bruders und verstößt den Grafen, oder sie setzt ihre Ehe durch, nachdem sie dem Grafen verziehen hat, in diesem Falle aber muß die Verzeihung eine dauernde sein. Daß sie in den Tod geht, ist durch die ganze frühere Entwicklung ungerechtfertigt und ein ganz nutzloses Opfer.

Auch der zweite Roman „Leib Weihnachtskuchen“ verwertet manche aus früheren Geschichten bekannte Motive, ist in den Schilderungen der Nebenpersonen mit vielem Ähnlichen der älteren Arbeiten verwandt, fügt aber vieles Neue und Eigenartige hinzu. Der Held, ein jüdischer Schankwirt, der seinen Namen der sogenannten humoristischen Laune eines Polizeibeamten verdankt, hilft gemäß dem göttlichen Gebote, seinen Feinden Böses mit Gutem zu vergelten, dem Janko, dem Sohne eines betrunkenen Bauern, der ihn selbst einmal dem Tode nahe gebracht hat, dazu, sein Besitztum wiederzuerlangen. Janko wird ein ordentlicher Mensch. Der tägliche Verkehr mit Mirjam, Leibs Tochter, hat ihm eine starke Liebe eingeflößt. Er möchte sie heiraten, aber er scheitert an dem Veto der Eltern. Diese versprechen und vermählen die Mirjam (die Mutter ist freilich inzwischen gestorben) mit einem siebzigjährigen reichen Manne, aber nach dem Hochzeitsmahle treibt Janko, der unterdes wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt ins Gefängnis gesetzt worden war, aber sich befreit hatte, den Nachen, worin die Vermählten sitzen und der von ihm gelenkt wird, in die Flut, so daß alle ertrinken. Wenige Tage später stirbt Leib auch. — Man mag auch diese Lösung als recht unwahrscheinlich verwerfen, man kann auch tadeln, daß das Kind, die 16-jährige Mirjam, zu wenig charakterisiert ist, denn sie ist eben nur ein fröhliches Kind, das überhaupt von Liebe nichts weiß, oder die gehorsame Tochter, die in starren Vorurteilen befangene Jüdin, die eine Verbindung mit einem Christen gegen den Willen ihrer Eltern sich nicht denken kann; aber die Geschichte selbst kann man bewundern. Zunächst sind die Nebenfiguren köstlich dargestellt: Heiratsvermittler, Richter, Dorfleute, Kaiserliche Beamte, reiche und arme Juden, Mirjams Mutter, Frau Channe, das christliche, nicht eigentlich böse, aber durch seine Schwatzhaftigkeit großes Unheil anrichtende Dienstmädchen Kasia. Vor allem aber sind die beiden Hauptcharaktere geradezu prachtvoll: Der Bauer Janko, ein Hüne von Gestalt, von riesenhafter Energie erfüllt, der mitten unter den Trunkenbolden nüchtern, unter all den Faulenzern arbeitsam bleibt, das Gelöbnis treu hält, das väterliche Gut, das er von Schulden befreit hat, bis zum Tode zu wahren, und ohne jede Spur von Sentimentalität, keineswegs nur von sinnlichen Trieben erfaßt, die Liebe zu dem Mädchen, ohne das er sich sein Leben nicht denken kann, unverbrüchlich pflegt. Ganz besonders schön aber wird dieser Leib charakterisiert: der kleine armselige Mensch, der von den Juden gehöhnt, von den Christen gepeinigt, von den meisten als Narr, von einigen als elender Wucherer mißhandelt wird, ist ein großartiger Mann. Er ist edel und vermag keinem unreinen Gedanken in seiner Seele Raum zu geben, stets hilfsbereit, auch gegen die, die ihn misshandelten, von einer wahrhast guten, herzerquickenden Frömmigkeit —, eine Gestalt, die nur einem Dichter und einem edlen Menschen gelingen konnte.

Das letzte Werk, dessen Besprechung hier gegeben werden muß, ist „Der Pojaz“. Dies ist der Spitzname des Helden Sender Kurländer, eigentlich Glatteis, den er wegen der Bajazzostreiche, die er in seiner Jugend ausgeführt hatte, erhält. Sein Vater, ein Schnorrer, durch seine lustigen Anekdoten berühmt, ist verschollen, seine Mutter bald nach der Geburt gestorben. Der Knabe wird von einer energischen Frau, Rosele, ausgenommen und wie ihr Kind erzogen. Sie arbeitet mit allen Kräften daran, den Knaben vor dem Gewerbe des Vaters zu hüten, aber es gelingt ihr nicht. Der Pojaz besucht alle möglichen Talmudschulen, verlässt sie nach entsetzlichen Qualen, die er dort erduldet. Als Handwerker hält er es nirgends aus. Die Abneigung gegen das sesshafte Leben, der komische Nachahmungstrieb, der ihm als einziges Erbe seines Vaters geblieben ist, bereiten ihm den Unwillen seiner Brotherren, daneben freilich auch die Bewunderung des Publikums. Nun wird er Fuhrknecht. Bei einer Fahrt wohnt er der Vorstellung einer Schauspielergesellschaft bei und erlangt von dem Direktor Nadler, der das große Talent des Jünglings erkannt hat, das Versprechen, in die Truppe aufgenommen zu werden, sobald er Deutsch gelernt habe. Die Erlernung dieser Sprache gilt in dem jüdischen Ort als todeswürdiges Verbrechen. Der Pojaz erwirbt diese Kenntnis durch entsetzliche Mühen, zuerst bei einem strafversetzten Soldaten, sodann in der Bibliothek des Dominikanerklosters, endlich durch heimliches nächtliches Studium in seinem Zimmer. In den eiskalten Räumen des Klosters legt er den Keim zur Schwindsucht. In einem Geistlichen findet er einen Lehrer, der ihm das Verständnis für die dramatische Literatur erschließt und ihn in die Technik der Rezitation einweiht. Aber sein Frevel wird durch die Gemeinde entdeckt, er wird vom Rabbiner in den Bann getan und verfällt in eine schwere Krankheit. Halb genesen übernimmt er zeitraubende Arbeiten und erlangt durch Zufall eine bescheidene Summe, die ihm erlaubt, kurze Zeit von seinen Mitteln zu leben. Er macht sich auf den Weg zu seinem Gönner Nadler, mit dem er immer in Verbindung geblieben war, kann zwar dessen Aufenthaltsort Czernowitz nicht erreichen, da er durch einen furchtbaren Schneesturm und durch den Eisgang des Dnjestr zurückgehalten wird, wohnt aber in dem kleinen Orte, in dem er gezwungen einige Tage verweilt, den Vorstellungen einer Schmiere bei, wird von einem Mitgliede der Gesellschaft in seinem großartigen Talent erkannt und entschließt sich nach anfänglichem Widerstreben dieser Gesellschaft zu folgen. Bevor er aber seine Mission ausführen kann, wird er von seiner Pflegemutter heimgeholt und todkrank in sein Heimatstädtchen zurückgebracht. Er sieht seiner Auflösung entgegen. Nur er hat keine Ahnung von seinem Zustand. Mit Zustimmung seiner Pflegemutter, die ihm diese letzte Freude nicht versagen will, reist er nach Czernowitz, sieht und spricht dort Bogumil Dawison und wird von einem treuen Begleiter auf sein Leidenslager zurückgebracht, wo er nach kurzer Zeit verscheidet.

Dieser Roman ist in jeder Beziehung ein reifes und vollendetes Werk. Er gibt eine plastische Schilderung der Lokalitäten, eine durchaus realistische der Menschen, eine geradezu wunderbare Darstellung der Landschaft, z. B. die eines Schneesturmes und des Eisganges des angeschwollenen Flusses. Es ist das Werk eines reisen Erzählers der älteren Schule und doch finden sich darin einzelne Konzessionen an die Moderne, indem z. B. die Lehre von der Vererbung eine starke Rolle spielt: der Held verfällt seinem Unheil, dem zum tragischen Ende führenden Wandertriebe, weil er als Sohn seines Vaters dessen Eigenschaften geerbt hat. Es ist ein Werk der Phantasie, und doch sind namentlich für die Jugendgerichte des Helden manche Ereignisse aus der Kindheit des Autors benutzt. Es ist die Arbeit eines Juden, der sich nicht scheut, seine Glaubensgenossen zu schildern, wie sie sind oder wenigstens, wie er sie ansieht. Denn gerade das ist ein Zeichen großer Kunst, daß der Verfasser diesen jüdischen Helden durchaus Jude sein und bleiben läßt, der nicht im allgemeinen nach Bildung strebt, sondern nur nach einer solchen, die ihm ermöglicht, seinen Beruf zu ergreifen, und der das spezifisch Jüdische auch darin zeigt, daß er nicht das Schauspiel im allgemeinen, sondern besonders die Stücke ersehnt, in denen Juden dargestellt sind: Kaufmann von Venedig, Nathan den Weisen, Mosenthals Deborah. Es ist ferner ein Werk von köstlichen Humors. Es ist endlich die letzte Botschaft eines Optimisten, der trotz aller Enttäuschungen an den Sieg des Ideals glaubt, das er im Herzen trägt, an den Triumph der Aufklärung, an den endlichen Einzug „des Königs der Ehren“ in die Mauer des Ghetto.

Dieses Buch, 1905 aus dem Nachlaß gedruckt, unmittelbar vor diesem Druck in einzelnen deutschen, einige Jahre früher in ausländischen Zeitungen erschienen, hat eine Vorrede, die übrigens großen autobiographischen Wert besitzt, vom 15. Juni 1893. Damals war es fertig, es wurde in Buchform nicht veröffentlicht, weil der Autor meinte, jene Zeit der Hochflut des Antisemitismus sei für die Herausgabe eines derartigen Judenromans ungeeignet. Diese Entsagung hat etwas geradezu Wunderbares, — ich kenne in der Literaturgeschichte kein Beispiel, daß ein fruchtbarer Autor, der fast Jahr für Jahr ein Opus auf den Markt brachte, sein reifstes und gediegenstes mehr als ein Jahrzehnt zurückhielt. Aber dem Ruhm von Karl Emil Franzos wurde diese nachträgliche Offenbarung nur zum Segen. Während der Nachlaß anderer Autoren Zurückgelegtes, weil der Veröffentlichung Unwertes zur Erscheinung brachte und dadurch das Ansehen der Verfasser schädigte, hat dieses gediegene Werk mehr als irgendein anderes das große Können des Heimgegangenen deutlich bekundet und die Nachwelt seinen Verlust um so tiefer fühlen lassen.

Bis in die letzten Jahre erfreute sich Franzos im ganzen einer guten Gesundheit. Zwar wurde er manchmal von einem schmerzhaften Ischiasleiden heimgesucht, aber sein robuster Körper überwand diese Leiden und widerstand auch den ungeheuren Anstrengungen, die er sich zumutete. Im Jahre 1903 meldete sich ein erster schwerer Anfall, Ende Dezember dieses Jahres erkrankte er und erlag nach vierwöchigem, mit größtem Heroismus ertragenem Leiden seiner Krankheit, am 28. Januar 1904. Am 31. wurde er auf dem Friedhofe zu Weißensee in einem von der jüdischen Gemeinde zur Verfügung gestellten Ehrengrabe beigesetzt.

Franzos war ein in sich gefestigter, edler Mensch. Er war ein unermüdlicher Arbeiter, von starker Energie erfüllt. Wohl besaß er Selbstbewusstsein und verschmähte heuchlerische Bescheidenheit, aber wie von Selbstunterschätzung war er von Überschätzung entfernt. Zeugnis dafür mögen zwei Äußerungen an seine Gattin ablegen: 1878, 20. Juni: „Es ist mir so schöpfungsfreudig zumute, wie seit lange nicht mehr. Ich weiß ja, ein wahrhaft großer Dichter, ein Stern am Himmel werde ich nicht werden, weil ich mein Talent nicht so hoch emportragen kann, aber vielleicht werde ich doch ein irdisches Licht, welches einzelnen die Nacht erhellt.“

1881, 29. August. „Ich habe mir — weiß Gott wie oft schon! — immer so im stillen für mich gedacht, daß doch eigentlich nur die großen Dichter die Tröster und Erheber der Menschen sind, während wir mittleren trotz allen Gemüts doch eigentlich nur ihre Qual mehren, weil wir wohl an alles Leid tasten und es aufrühren, aber nicht das Wort finden, es zu lösen oder gar zu tilgen, und sei es nur auf Momente! Und wie oft habe ich mir in Augenblicken, wo etwa glückliche, gläubige Menschen zu beten pflegen, gewünscht, einmal im Leben eine solche Kraft in der eigenen Seele fühlen und auf andere ausströmen lassen zu können, einmal ein wirklich gutes Werk zu schaffen, einmal ein großer Dichter zu sein.“

Er hegte freudigen Optimismus. Mochte er auch manches Hemmende in seinen Bestrebungen erkennen, mit anschauen, daß manche Stürmer und Dränger über ihn hinweggegangen waren, so hoffte er auf den Sieg dessen, was er für Recht hielt. Auch für ihn galt das Wort, das er seinen Mitstrebenden zurief: „Wir aber wollen tapfer bleiben, auch unser Schiff wird den Hafen erreichen.“

Er strebte nicht nach leerem Schein, geizte nicht nach äußeren Ehren: seine Brust schmückte kein Orden, seinen Namen kein Titel.

Er besaß Treue in der Freundschaft: noch in dem letzten Jahre suchte er einen Freund auf, mit dem er die Universität besucht hatte, um die alten Bande fester zu knüpfen; sein letztes Gedenkblatt, das schon zu der Zeit erschien, da er ans Krankenzimmer gebannt war, ist einem Kameraden gewidmet, mit dem er die Schule besucht hatte. Manche seiner Lebensbündnisse dauerten bis zuletzt. In dem großen Kreise von Bekannten und Freunden war er nicht nur zeitweise ein Gast, sondern der gern gesehene Vertraute, den Große und Kinder als den Ihrigen betrachteten.

Gewiß war er nicht frei von menschlichen Schwächen, aber er kämpfte gegen sie Zeit seines Lebens. In diesen Kämpfen und zumal am Ende seines Lebens bewährte er sich wie ein Held. Mit heroischem Mute ging er dem Tode entgegen.

Er lebte den Seinen. Es ist oben dargelegt, wie er das Andenken seines Vaters ehrte, wie er Mutter und Schwestern unterstützte. Der Familie seiner Frau schloß er sich aufs engste an, es war seine Familie geworden; dem einzigen dessen galten seine letzten Gedanken. Er war ein trefflicher Gatte. Er starb an seinem Hochzeitstage; vielleicht, daß er in einem seiner letzten Momente das als ein Glück pries, an dem Tage heimzugehen, der ihm die zugeführt hatte, die ihm seine Krone, des Hauses Sonne und die Wonne aller derer war und ist, denen es vergönnt ist, ihr zu nahen.

Er bleibe der Fachwelt erhalten. Das Wort, das Goethe in der Trauerfeier brauchte, die er seinem Schiller plante, „seine schlummerlosen Nächte haben unseren Tag gehellt“, darf man auch auf ihn anwenden. Erhellung und Aufklärung war das Streben seiner arbeitsreichen Tage und seiner schlummerlosen Nächte. Und so kam er als rühmliches Beispiel uns und den folgenden Geschlechtern vorgehalten werden. Als Juden, daß wir wie er den Kampf aufnehmen gegen Untugenden und Laster und bei aller Wahrung der tausendjährigen Kultur uns von und ganz anschließet dem Lande, dem wir durch Geburt und Bildung angehören, jeden Gedanken an eine nationale Existenz aufgeben und jeden törichten Traum eines Volkstums. Als Deutsche, daß wir jeder Gewaltherrschaft entgegenarbeiten, jede Unterdrückung der Freiheit als eine Schmach betrachten. Als Männer der Wissenschaft und des öffentlichen Lebens, daß wir das unsrige von und ganz mit Fleiß und Beharrlichkeit, Tapferkeit und Entsagung tun. Als Menschen, daß wir, wie er, dem Großen uns demütig beugen, mit heiterem Optimismus und schauern Idealismus dem Siege des wahrhaft Guten vertrauen, daß wir die Freundschaft pflegen und der reinen, klaren, freudigen, tätigen Liebe Einzug gewähren in unsere Herzen.




Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Deutsche Literatur und die Juden
Karl Emil Franzos (1848-1904), österreichischer Schriftsteller und Publizist

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Georg Wilhelm Friedrich Hegel (17770-1831), deutscher Philosoph und Vertreter des deutschen Idealismus

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Karl Emil Franzos (1848-1904), österreichischer Schriftsteller und Publizist, heiratete Karoline Klarfeld aus Odessa

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Theodor Fontane (1819-1898), deutscher Schriftsteller und approbierter Apotheker

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In Zürich hielt er vor einer jüdischen Versammlung einen Vortag

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