Johann Reuchlin und der Kampf um die Bücher der Juden
Johann Reuchlin und der Kampf um die Bücher der Juden
Ich führe Sie in eine vergangene Zeit und spreche in diesem jüdischen Kreise von einem Christen, der mindestens ebenso unsere Achtung und Verehrung verdient, wie manche Glaubensgenossen verflossener Tage.
Die Zeit, in der Johann Reuchlin lebte, ist die der Renaissance oder des Humanismus. Man tut unrecht, unter dieser Epoche bloß eine Wiederbelebung des Altertums und seiner Sprachen zu verstehen; vielmehr war es, wie schon die Bezeichnung Humanismus andeutet, eine allgemeine Umwälzung der Kultur, eine aus den ganzen Menschen wirkende Umwandlung seiner sittlichen, religiösen, politischen Anschauung.
Eine neue Jugend schien die Menschheit ergriffen zu haben: man stürzte sich mit enthusiastischem Eifer aus das Studium, aber man wünschte, als gälte es lange Versäumtes nachzuholen, auch mit vollen Zügen zu genießen. Die Epoche des Humanismus erscheint dem nachlebenden wie ein reich-blühender Völkerfrühling, die Empfindung, von der die Besten ergriffen waren, ist die, welche Hutten in seinein freudigen Worte ausgesprochen hat: Es ist eine Lust zu leben.
Man lebte aber nicht nur in der Vergangenheit und auch nicht nur im Sinnestaumel, sondern man schloß sich und das ist gerade gegenüber dein internationalen Charakter des Humanismus zu betonen, an sein Volk an.
Gerade Reuchlin ist ein lebendiges Beispiel dafür, daß es sich in dieser Epoche bei aller Bevorzugung des Lateinischen auch nur eine lebendige und liebevolle Pflege der deutschen Sprache handelt: wie nationales Empfinden und Kosmopolitismus Hand in Hand gingen, so auch das Verlangen, als Lateiner die klassische Sprache der Alten zu regeln und zugleich eine neue Zeit des Deutschen zu begründen.
Von Reuchlins Leben kann hier nur in der äußersten Kürze die Rede sein. Er wurde am 22. Februar 1455 geboren und ist am 30. Juni 1522 gestorben. Er lebte in Süddeutschland, er, der geborene Badenser, hauptsächlich in Württemberg; dort ist er auch nach einer kurzen Wirksamkeit in Ingolstadt gestorben und begraben. Er war Jurist, jahrzehntelang ein hochangesehener Beamter, der sich des Vertrauens mancher Fürsten erfreute, manche Gesandtschaften unternahm, die ihn zum Teil in ferne Lande führten, ein von aller Welt bewunderter Gelehrter, ein trefflicher Mensch, der wegen seiner Güte und Milde in den weitesten Kreisen geschätzt wurde. Seine großen juristischen Kenntnisse legte er nicht in Werken nieder. Dagegen war er auf vielen anderen Gebieten tätig: auf dem der Geschichte, hauptsächlich auf dem der Philologie. Seine umfangreichsten Arbeiten, ein Lexikon und eine Weltgeschichte, sind, so außerordentlichen Beifall sie auch zu ihrer Zeit fanden, heute veraltet. Seine Übersetzungen aus dem Griechischen ins Lateinische, teilweise ins Deutsche, angestaunte Erzeugnisse seltener Gelehrsamkeit und Wohlredenheit müssen sich mit dieser Rennung begnügen, und nur kurz mag daraus hingewiesen werden, daß noch heute eine Art der Aussprache des Griechischen nach Reuchlins Namen genannt wird. Ebenso kurz muß, da es sich hier nicht um eine Biographie des bedeutenden Mannes, sondern um seine Würdigung in einer speziellen Angelegenheit handelt, von seinen Komödien gesprochen werden. Gewiß sind sie abhängig von dem Altertum, aber sie zeigen modernes Leben, indem sie Missstände der Zeit: die Prozesssucht, die Lust am unredlichem Gewinn, die Begünstigung der Reichen durch die Richter, das geschäftsmäßige Treiben mancher Anwälte zu geißeln suchen, die eine dieser Komödien ist stark satirisch gefärbt und tritt lebhaft gegen einen Widersacher auf, der all dem Hofe Eberhards des Jüngeren, des Herzogs von Württemberg unserem Gelehrten vielfache Schwierigkeiten bereitete.
Alle diese kleineren und größeren Arbeiten, die viele Bände füllen, hätten genügt, um dem Namen unseres Gelehrten einen guten Klang unter seinen Fachgenossen zu geben, sie hätten jedoch nicht ausgereicht, ihn aus der Mediokrität zu erheben und zu den auch in der Zukunft gefeierten Helden zu machen.
Dies geschah vielmehr dadurch, daß er, nicht zufrieden als ein zweier Sprachen Kundiger gerühmt zu werden, statt des Ranken eines Bilinguis den eines Trilinguis zu erwerben suchte: dem Lateinischen und Griechischen, worin er Meister war — eine Meisterschaft, die er mit vielen teilte — fügte er das Hebräische zu, das er als Erster in Deutschland trieb und womit er lange Zeit vereinzelt blieb. Denn es war weder leicht noch ungefährlich, hebräisch zu lernen. Nicht ungefährlich, denn die Erlernung der hebräischen Sprache konnte, ja mußte in den Verdacht der Judengönnerschaft bringen, der üble Folgen haben konnte; nicht leicht, denn Lehrmeister waren irr Deutschland nicht zu finden. Christliche gab es nicht, denn geborene Christen verstanden kein Hebräisch; getaufte Juden waren entweder ganz unwissende Menschen, oder nicht völlig geeignet, die Sprache, die sie in ihrer Jugend erlernt hatten, anderen zu übermitteln. So war Reuchlin darauf angewiesen, da ein Selbststudium ohne irgendwelche Zurechtweisung geradezu undenkbar war, in der Fremde, in der er sich, wie schon erwähnt, mehrfach als Gesandter befand, die Hilfe gelehrter Juden in Anspruch zu nehmen. Das Glück wollte ihm wohl: er fand in Linz, wo er in dem Kreise des Kaisers Maximilian einige heitere Wochen zubringen durfte, in Jehiel Loans, und in Rom, wohin er im Auftrage des Pfalzgrafen bei Rhein in einer schwierigen diplomatisch-juristischen Angelegenheit geschickt worden war, in Obadja Sforno Lehrmeister, die ihr Amt gut verstanden und gerne übten. Sie lehrten den eifrigen Deutschen teils die Grundbegriffe, teils gewährten sie ihm die Fähigkeit, sich selbst weiter zu helfen, indem sie, außer der Unterweisung, die sie ihm gaben, ihm auch Handschriften und Drucke verschafften, aus denen er sein Wissen zu erweitern vermochte. Manche dieser Bücher mit anerkennenden Inschriften des dankbaren Schülers haben sich noch heute erhalten.)
Jahrelang, ja mehr als ein Jahrzehnt, arbeitete sich Reuchlin in die schwierige Materie hinein. Als er die Resultate seiner Arbeiten veröffentlichen wollte, ergab sich eine neue Schwierigkeit, daß hebräische Typen in deutschen Druckereien nicht vorhanden waren; auch diese wurde durch die Großherzigkeit seines Verlegers Thomas Anshelm in Tübingen beseitigt. So konnte im Jahre 1506 ein Foliant erscheinen, der den Titel „Rudimenta hebraica“ führte. Ein Buch, Grammatik und Wörterbuch zugleich, in dem der Verfasser nicht nach Art junger Autoren, die alles besser zu verstehen glauben, als ihre Vorgänger, umstürzlerisch zu verfahren versuchte, sondern worin er als treuer Schüler seines Meisters, des berühmten Grammatikers David Kimchi seine Materie zu behandeln wußte.
Die Anlehnung an Kimchi zeigt sich sowohl in der Methode, nämlich die Wörter nach Wurzeln zu ordnen und die abgeleiteten der alphabetischen Ordnung zuwider unter den Wurzelwörtern zusammenzustellen, als auch in dem Wortschatze, der bei dem Deutschen kaum eine Vermehrung erhält, als endlich in der Manier, zum Verständnis der einzelnen Worte Bibelstellen anzuführen. Während freilich Kimchi zu Eingeweihten, d. h. zu solchen sprechen konnte, die mühelos hebräisch verstanden, ja es als Muttersprache betrachteten, war sich Reuchlin, selbst ein Schüler, immer bewußt zu solchen zu reden, die erst die Anfangsgründe der fremden Sprache sich aneignen sollten. Daher gab er jene angedeuteten Bibelstellen nicht hebräisch, sondern lateinisch und fügte zur Belehrung für die unkundigen Leser folgende Erläuterungsverse bei:
Non est liber legendus hic ceu ceteri.
Faciem sinistra dextera dorsum tene
Et de sinistra paginas ad dexteram
Quascumque verte. Quae latina videris
Legito latine; hebraea si sint insita
A dextera legenda sint sinistrorum.
Denn man muß sich immer gegenwärtig halten, daß es sich hier um ein Elementarwerk handelte. Wir mögen ein solches Bemühen belächeln, dürfen aber dabei nicht vergessen, daß es für jene Zeit eine Riesenleistung war: ohne ständigen Lehrer, ohne genügende Hilfsmittel hat der eifrige Gelehrte hier einen Leitfaden und eine Wörtersammlung geschaffen, die grundlegend für spätere Jahrhunderte geworden sind. Erst durch die glücklichen Bemühungen dieses ernsten und gewissenhaften Forschers gelang es den Deutschen in die hebraica veritas, wie Reuchlin den hebräischen Bibeltext nannte, einzudringen; erst durch seine Lehre wurde es möglich, den vielfach verderbten lateinischen Text von Fehlern zu reinigen; ohne seine Arbeit wäre Luthers staunenswerte Leistung nicht denkbar. Die Späteren, die es in genauer Kenntnis der Einzelheiten, in wissenschaftlicher Methode viel weiter brachten als Reuchlin, haben daher mit Dankbarkeit das stolze Wort bestätigt, das der sonst bescheidene Gelehrte im Vollbewusstsein seiner Leistung niederschrieb: exegi monumentum aere perennius (ich habe ein Denkmal errichtet, dauernder als Erz).
Zwölf Jahre später, nachdem inzwischen die deutschen Druckereien in den Besitz hebräischer Typen gelangt waren, einzelne Übersetzungen biblischer Stellen zugleich mit hebräischem Texte veröffentlicht werden waren, folgte ein neues Werk „De accentibus et orthographia“. Es richtet sich nicht an einen so großen Kreis wie das erste, lehrt die Akzente, die Andeutungen des rednerischen Maßes, die musikalischen Zeichen, und ist namentlich in letzterer Beziehung, da es vielleicht die ersten gedruckten Noten alter Melodien mitteilt, von außer-ordentlichem Wert. Es ist weit gelehrter als das erste Buch und beweist die außerordentliche Sorgfalt, die der Gelehrte seinem Lieblingsstudium zuwandte. Es ist auch unabhängiger von der rabbinischen Führung. Aber bei dem speziellen Inhalt dieses zweiten Werkes mußte es einem weit kleineren Kreise dienen, als jenes und auch seine Wirkungen waren aus eine kleine Zahl von Liebhabern beschränkt.
Für Reuchlin war das Studium des Hebräischen nicht Selbstzweck. Er war weder ausschließlich Philologe, der nur an der Fremdheit der Sprache oder an ihrer Gesetzmäßigkeit Gefallen fand, nicht allein Theologe, der sich vollständig mit dem Erweckungsdienst begnügte, den er der Bibel leistete, sondern Philosoph. Das Studium des Hebräischen war ihm Mittel zum Zweck; es reizte ihn die jüdische Geheimlehre, die Kabbalah zu ergründen. Vielleicht war dies Verlangen schon von vornherein mächtig in ihm, es wurde bestärkt durch die Bekanntschaft mit dem erhabenen italienischen Philosophen Pico della Mirandola, die er in Italien gemacht hatte. Die Weisheit der Kabbalah verkündete er in zwei Werken „De verbo mirisico“ (vom wundertätigen Wort) 1494 und „De arte cabbalistica“ (von der kabbalistischen Kunst) 1517. Beide Werke haben die Form von Unterredungen, an denen Juden teilnehmen; der jüdische Unterredner der ersten Werkes führt den Namen Baruchias, der des zweiten den Namen Simon.
Das wundertätige Wort, dessen Kraft im ersten Buche dargetan werden soll, ist ein Tetragrammaton, „jene unvergleichliche Bezeichnung, von den Menschen nicht erfunden, sondern ihnen nur durch Gott anvertraut, ein heiliger und hoch zuverehrender Name, der Gott besonders in der Urreligion zukommt, der Allmächtige, den die Überirdischen anbeten, die Unterirdischen fürchten, die Statur des Weltalls küßt“.
Dieses Wort stellt die Verbindung her zwischen dem endlichen Menschen und dem unendlichen Gott. Diese große Bedeutung des wunderbaren Wortes kommt daher, weil jeder Buchstabe desselben seinen geheimnisvollen Inhalt hat. Der erste Buchstabe, ein Jod, der Gestalt nach ein Punkt, dem Zahlwert nach = zehn, deute Ansang und Ende aller Dinge an, der zweite He, als Zahlzeichen fünf, die Vereinigung Gottes (Dreieinigkeit) und der Natur (Zweiheit nach Plato und Pythagoras); der dritte Waw, dem Zahlwert gleich sechs, das Produkt der Einheit, Zweiheit, Dreiheit; der vierte He, dem zweiten gleich, bedeute die Seele, die das Medium zwischen Himmel und Erde, wie die fünf Mitte zwischen der Einheit und der heiligen Zehnzahl sei. Ist schon in dieser Namenserklärung eine Vereinigung der christlichen und jüdischen Lehre angedeutet, ein Hineingeheimnissen der christlichen .Mysterien in den jüdischen Gottesnamen, so soll durch die weitere Ausführung bewiesen werden, daß der Name Jesu nichts sei als eine Vermehrung des Tetragrammaton durch einen Buchstaben und zwar den s-Laut, der etwas Heiliges habe, da er im Hebräischen zur Bildung der Worte „heilige Zeder, heiliger Name, heiliges Öl“ diene. Demgemäss sei der Name Jesu und die durch ihn begründete christliche Lehre der Höhepunkt der philosophischen Bildung der Welt.
Ausgabe des zweiten Werkes ist zunächst der Beweis, daß die messianische Lehre, die, obwohl von Bibel und Talmud vorher verkündet, durch die jüdischen Erklärer nicht recht verstanden worden, der eigentliche Gegenstand der Kabbalah sei. Dieselbe Lehre nun sei auch der Grundstein der pythagoräischen Philosophie. Letztere habe indessen mit jener jüdisch-philosophischen Richtung auch die mannigfachsten Berührungspunkte in den großen Grundsätzen der Moral und den geheimnisvollen Wegen der Erkenntnis gemein. Der Erörterung dieser Geheimnisse, nämlich der 50 Pforten der Erkenntnis, der 32 Pfade, die zur Wahrheit führen, und der 72 Engel, welche die Vermittlerrolle zwischen Gott und Menschen spielen, ist ein großer Teil des Werkes gewidmet. Ein nicht minder großer der formellen Kabbalah, der kabbalistischen Kunst, deren Wesen darin besteht, ans den Worten einen tieferen Sinn als den gewöhnlichen zu entnehmen und zwar
1. durch Umstellung der Buchstaben innerhalb eines Wortes (Gimatria)
2. durch Auseinanderzerrung der Buchstaben eines Wortes, dergestalt, daß jeder als Anfangsglied eines neuen betrachtet wird (Notarikon),
3. durch eine derartige Vertauschung der Buchstaben, daß für den ersten des Alphabets der letzte, für den zweiten der vorletzte uns so sort gesetzt wird.
Beide Werke, so gelehrt sie auch sind, wurden in jüdischen Kreisen kaum beachtet, da man in ihnen weit bessere Führer zu jener geheimnisvollen Welt besaß, und fanden in christlichen Kreisen neben wenigen Gläubigen zahlreiche lächelnde und manche zürnende Ungläubige; ihre Wirkung ist daher in keiner Weise mit der zu vergleichen, die von den sprachlichen Studien ausging. Und doch muß man sich hüten, diesen Arbeiten missbilligend oder gar verachtend gegenüber zu stehen. Es sind nicht Träumereien eines Müßigen und noch weniger Verkehrtheiten eines Wundersüchtigen; vielmehr zeigt sich auch in ihnen das Bestreben eines ernsten Mannes zur Wahrheit und zu höherer Geistesbefriedigung vorzudringen. Reuchlins Streben wird gekennzeichnet durch den Satz, den er von den Kabbalisten braucht: „Sie begehren nichts anderes, als den Menschengeist zu Gott emporzuheben, sich vollkommene Glückseligkeit zu bereiten; schon in diesem Leben erwirbt sich der Mensch, wenn er diese Wissenschaft betreibt, Seligkeit, ewige Freude aber in jenem“.
Und gewiß mag man auf den ernsten Forscher den schönen Ausspruch Wielands anwenden: „Reuchlin sprach zur orientalischen Literatur das Machtwort Stehe auf, komme herauf, Toter! Der Tote kam, wie er war, mit rabbinischen Grabtüchern umwunden, sein Haupt mit dem Schweißtuch der Kabbalah verhüllt; das zweite Wort war und ist ungleich leichter: Löset ihn auf und lasset ihn gehen und das ist das gelobte Verdienst der Folgezeiten Reuchlins gewesen“.
Durch diese hebräischen und kabbalistischen Studien wurde unser Forscher auch genötigt, dem Wesen der Juden eine Beachtung zu gönnen. Sie war nicht immer günstig. Ja ein Jahr bevor er das erste Hauptwerk veröffentlichte, das dem Studium der hebräischen Sprache galt, schrieb er eine kleine Schrift, die man geradezu als eine antisemitische bezeichnen kann. „Tütsch missive warurnb die Juden so lang im Ellend sind.“ Er gab darin einem Edelmann, der ihn um Rat gefragt hatte, an, er möge seinen Juden als Grund ihres langen Herumirrens in der Fremde vorhalten, daß sie ehemals den Messias getötet hätten und jetzt Christus, Gott Vater und die Jungfrau Maria täglich verspotten. Solche Lästerungen fänden sich besonders in dem Büchlein Nizachon und anderen, vornehmlich in dein Gebete Veleschumadim. Ihre einzige Rettung bestehe darin, daß sie zum wahren Glauben bekehrt und aus dem Gefängnis des Teufels erlöst werden mögen. Zum Schluß erbot er sich selbst, die Willigen im rechten Glauben zu unterweisen.
Gewiß sind die Anklagen, die hier gegen die Juden erhoben werden, unbegründet, aber doch unterscheidet sich die milde Art, in der in unserer Schrift die Unterweisung der Juden in friedlicher Form beantragt, nicht durch Gewaltsamkeit erzwungen werden soll, vorteilhaft von den Gewaltmaßregeln, die große Gelehrte, wie Ulrich Zasius und blinde Fanatiker, wie Johannes Pfefferkorn, beantragten.
Der letztere griff störend in die ruhige wissenschaftliche Arbeit unseres Gelehrten ein und zwang ihn, der sich am wohlsten in der Einsamkeit seines Studierzimmers fühlte, aus den offenen Markt zu treten. Pfefferkorn, von Geburt Jude, vielleicht aus Nürnberg stammend, ein ungebildeter und unredlicher Handwerker, der wegen Diebstahls gefangen, ein Wanderleben führte, währenddessen er auch Wuchergeschäfte betrieb, war 1505 in Köln zum Christentum übergetreten und erschien den dortigen Dominikanern als das geeignete Subjekt, den Kampf gegen die Juden aufzunehmen. Seine schwachen Kenntnisse und seinen blinden Haß gegen die ehemaligen Glaubensgenossen benutzten jene, um in zahlreichen Schriften, die den Namen des Täuflings führten, gegen die Juden aufzutreten. Schon in seiner ersten Broschüre „Der Judenspiegel“ 1507 stellte er das Programm auf, das er in beständigen Wiederholungen erneuerte und verschärfte: Wegnahme der Bücher der Juden, Verbot des Wuchers, Nötigung christliche Predigten zu besuchen. Neben diesen Forderungen erhob er die Anklage, die Juden seien grimmige Feinde der Christen und ihres Glaubens, und stellte die Behauptung aus, sie meinten es gar nicht ernst mit ihren Überzeugungen. Das Programm wurde weiter ausgeführt, Anklage und Behauptung näher begründet, in zwei Schriften des Jahres 1508 „Judenbeichte“ und „Osternbuch“ und in dem Pamphlet des Jahres 1509, das schon durch den Titel seine Gesinnung offenbarte: „Judenfeind“. Waren die beiden ersteren dazu bestimmt, die Lächerlichkeit der jüdischen Gebräuche darzutun, so war die Ausgabe des letzteren die, die Christenfeindschaft der Juden offen darzulegen und ihre Gefährlichkeit sowohl durch ihren Wucher, als namentlich durch die von ihnen geübte ärztliche Kunst zu erweisen.
Im Gegensatz zu vielen anderen Judenfeinden begnügte sich Pfefferkorn, auch darin wahrscheinlich durch die Kölner Mönche angestachelt, nicht mit schriftstellerischen Anklagen, sondern versuchte nun praktisch gegen seine Feinde vorzugehen. Als bestes Mittel, ihre Bekehrung zu erzwingen, oder sie zum freiwilligen Verlassen Deutschlands zu veranlassen, erachtete er die Wegnahme ihrer Bücher.
Zu solchen Versuchen bedurfte er der Unterstützung der weltlichen Macht. Er erlangte diese, eine Ermächtigung des Kaisers Maximilian, durch die Fürsprache von dessen Schwester Kunigunde und verfehlte nicht, in einer besonderen Schrift dem Kaiser zu danken und in einer anderen den geistlichen und weltlichen Fürsten die Ermahnung auszusprechen, sein löbliches Unternehmen zu fördern. Er begann auch in Frankfurt und in den rheinischen Städten sein Werk, brachte viele Kisten von Büchern zusammen, deren Inhaltsverzeichnis sich erhalten hat und neuerdings gedruckt worden ist, ohne daß es, infolge der sehr summarischen Bezeichnung der zusammengebrachten Bücher, uns einen wirklichen Einblick in die also weggenommene Literatur verschafft.
Nicht lange konnte er seine Bemühung fortsetzen. Der Erzbischof von Mainz, Uriel von Gemmingen, trat ihm entgegen, erhielt vom Kaiser die Leitung des ganzen Unternehmens und forderte einige hervorragende Gelehrte, darunter Reuchlin, zu einem Gutachten aus. Dieses Gutachten nun ist ein unverwelklicher Ruhmestitel des wackeren Gelehrten.
Das Gutachten teilt die Schriften der Juden in sechs Abschnitte. Es bespricht zuerst den Talmud, dessen schwere Sprache und seltsamen Inhalt es zugesteht. Trotzdem sei seine Vernichtung nicht angängig, da unvernünftiges neben Vernünftigem stehe, Aberglaube mit dem Glauben eng verbunden sei; da ferner Christus selbst geboten habe, die rabbinischen Schriften zu wahren und da endlich es von Gott untersagt sei, das auszurotten, was man für schlecht halte. Zweitens, eine Verteidigung der Kabbalah sei unnötig, seitdem sie durch Picos glanzvolle Leistung so herrlich gerechtfertigt sei. Drittens, die Glossen und Kommentare zur Bibel seien in ihrem Nutzen auch von den früheren christlichen Erklärern anerkannt. Predigten und Gesangbücher seien auch von den ehemaligen Päpsten ausdrücklich geschützt. Fünftens und sechstens: poetische, philosophische, naturwissenschaftliche und satirische Schriften böten keinen Grund zur Verfolgung.
Nach dieser Durchnahme der einzelnen Schriften kommt Reuchlin zu der Folgerung, daß man kein Recht habe, gegen die Juden und ihr Schrifttum aufzutreten. „Wir und sie“, sagt er, „sind eines einigen römischen Reiches Mitbürger und sitzen in einem Bürgerrecht und Burgfrieden“ und ferner, „der Jude unseres Herrgott alswohl als ich steht er, so steht er seinem Herrn, fällt er, so fällt er seinem Herrn, ein jeglicher wird für sich selbst müssen Rechnung geben. Was sollen wir eines anderen Seele urteilen, Gott ist wohl so mächtig, daß er ihn mag aufrichten“. Und endlich tut er dar, daß der Glaube des einen von dem anderen nicht untersucht werden dürfe. „Aber die Juden in Dingen, die ihren Glauben betreffen, sind sie allein sich selbst und sonst keinem Richter unterworfen, soll auch darüber kein Christ mögen erkennen. . . . Denn sie sind kein Glied der christlichen Kirche und so geht uns ihr Glaube nichts an.“
Das war Reuchlins Gutachten, nach den Worten Rankes „ein schönes Denkmal reiner Gesinnung und überlegener Einsicht“.
Die sonst eingeholten Gutachten der Universitäten Mainz und Köln standen auf dem entgegengesetzten Standpunkt, während sich die von Erfurt und Heidelberg mit dein Reuchlins einigermaßen begegneten. Bevor irgendeine Entscheidung erfolgen konnte, hatte Pfefferkorn, der sich die Reuchlinsche Auseinandersetzung zu verschaffen gewußt hatte, in seinem „Handspiegel“ 1511 diesen als Judengönner denunziert und ihn als unwissenden hinzustellen versucht. Solche Angriffe wehrte der Beschuldigte in seinem „Augenspiegel“ ab, veröffentliche darin, urn weiteren Kreisen seine Meinung darzulegen, sein Gutachten und erhob sich in edlem Zorn gegen die Anklage der Bestechung durch die Juden, an der es der unwürdige Gegner gleichfalls nicht hatte fehlen lassen. „Fürwahr nun habe ich ihnen nie Dienste getan, besonders wider die christliche Kirche und darauf sagt ich bei dem höchsten Glauben, daß ich all meine Lebtage von meinen kindlichen Zeiten bis auf diese Stunde von Juden noch von ihrer Seite weder Heller noch Pfennig, weder Gold noch Silber, weder Kreuz noch Münze empfangen, genommen noch verhofft habe. Mir hat all meine Lebtage kein Jude eine Gabe verheißen noch versprochen um irgendeiner Sache willen und insonderheit auch diesen Ratschlag betreffend, hat mir kein Jude weder Dienst noch Belohnung erboten noch gegeben. Und wer von nur zur Verletzung meiner Ehre anders geschrieben oder geredet hat oder anders noch redet, der lügt als ein leichtfertiger, ehrloser Bösewicht.“
Mit dieser entschiedenen Abfertigung war Pfefferkorn für Reuchlin abgetan; alle die wilden Angriffe, mit denen dieser bis 1521 fortfuhr, blieben unbeantwortet. Statt dieses Privatstreites erhob sich nun ein allgemeiner. Denn die Kölner Mönche versuchten die Sache ihres Schützlings zu ihrer eigenen zu machen und den Gelehrten, den sie für einen gefährlichen Ketzer erachteten, vor das geistliche Gericht zu ziehen, ihm wegen seines widerchristlichen „Augenspiegels“ den Prozess zu machen. Sie konnten zunächst nicht wissen oder verbargen es sich selbst in ihrer Kurzsichtigkeit, daß sie nicht mit einer Einzelperson zu tun hatten. Freilich hatte Reuchlin, der mit einem der Kölner, Konrad Collin, im Briefwechsel stand, diesen gemahnt: „Welche Bewegung müsste es verursachen, unter den Kriegsleuten von Adel und Unadel, auch jenen, welche die Brust ohne Harnisch, aber voller Narben haben, wenn ein Redner mit der Kraft eines Demosthenes ihnen Anfang, Mitte und Ende dieses Handels entwickeln und zeigen würde, wem es dabei um Christus und wem um den Beutel zu tun gewesen. Und glaube mir, zu jener Zahl der Starken würden sich auch die Poeten und die Historiker gesellen, von denen in dieser Zeit eine große Anzahl lebt, die mich als ihren ehemaligen Lehrer wie billig ehren; sie würden ein so großes Unrecht, von meinen Feinden an mir verübt, dem ewigen Andenken übergeben und mein unschuldiges Leiden schildern, zu Eurer hohen Schule unvergänglicher Schmach“.
Was Reuchlin ahnte, trat ein. Es entstand ein gewaltiges Ringen zwischen den Humanisten, den Vertretern der freien Wissenschaft, die ebenso wohl das Recht der freien Meinungsäußerung verteidigten, wie als Schützer einer bedrohten Literatur austraten, gegen die als Dunkelmänner gebrandmarkten Theologen, die zunächst vorgaben, einem Laien zu verwehren, sich um theologische Subtilitäten zu kümmernd, in Wirklichkeit die Kirche als unbedingte Herrin und Richterin, auch in literarischen Dingen, durchzusetzen suchten. Dieser Streit der Humanisten mit den Kölnern hat es mit der Judenbüchersache kaum mehr zu tun. Vielmehr handelt es sich in den unzähligen Pamphleten, poetischen und prosaischen, ernsten und satirischen, nur um eine Verspottung der Unwissenheit und Unsittlichkeit der Mönche, wobei auch Pfefferkorns Weibchen häufig als galante Dirne erscheint; vor allem aber, um eine Verherrlichung Reuchlins, als des großen Gelehrten, des Führers der Jugend im literarischen Kampf.
Reuchlin selbst, der bisher — solange es sich um Dinge handelte, die den Behörden oder der großen Menge vorzutragen waren — der deutschen Sprache sich bedient hatte, gebrauchte von nun an die Sprache der Gelehrten. In seiner „Verteidigung gegen die Kölner Verleumder“ 1513 ging er unbarmherzig mit seinen Gegnern ins Gericht und sparte so wenig wie sie kräftige Schimpfworte. Um aber der Gelehrtenwelt, auch denen, die bisher seinen Kreisen fernstanden, zu zeigen, was für ein Mann er sei, wie aus ganz Deutschland und selbst aus dem Auslande gelehrte Anfragen, Anerkennungen und Huldigungen an ihn gelangt seien, ließ er 1514 eine Sammlung „Epistolae clarorum virorum“ ausgehen, der fünf Jahre später die Sammlung „Epistolae illustrium virorum“ folgte, ein lauter Chor von begeisterten Zurufen aus aller Welt, lebhaftesten Anerkennungen seiner Leistungen und beredtesten Ermunterungen zum Ausharren im Streit.
Unterdes war es wirklich zum Prozesse gekommen. Der Kaiser hatte die Angelegenheit dein Erzbischof von Speyer übertragen, und dieser fällte (29. März 1514) ein für Reuchlin günstiges Urteil, d. h. eine Erklärung, daß der „Augenspiegel“ — denn nur um diesen drehte sich der Prozess — kein ärgerliches Buch sei und daher nicht verurteilt werden dürfe. Mit diesem Urteile jedoch begnügten sich die Kölner nicht und glaubten es, trotz der sehr vernehmlichen Art, in der sich die deutschen Humanisten schon damals aussprachen, um so weniger tun zu dürfen, als ihnen eine erwünschte Hilfe aus Paris kam, dadurch, daß die dortige alte und ehrwürdige Universität sich durchaus auf ihre Seite stellte. Sie schickten den Ketzermeister Jakob von Hochstraaten, der ebenso wie zwei andere Kölner Magister, Arnold von Tungern und Ortwin Gratius, die literarischen Vertreter und Wortführer der Kölner waren, nach Rom, um dort die Sache ihres Ordens, oder wie sie vorgaben, die Sache des Glaubens, beim Papste zu führen. Aber auch Reuchlin war nicht müßig. Er bemühte sich nicht nur einen tüchtigen Sachwalter zu gewinnen, sondern die gelehrten Kardinäle und den renaissancefreundlichen Papst Leo X. günstig für sich zu stimmen. Es verdient besondere Hervorhebung, daß unter den Männern, an die er sich wandte, und zwar mit einem hebräischen Briefe, auch der jüdische Leibarzt des Papstes, Bonet de Lates, sich befand, ein gelehrter, auch der Kabbalah geneigter Mann, der dem deutschen Gelehrten sein Wohlwollen bezeugte, und der, wie man annehmen darf, seine Vertrauensstellung zum Eintreten für den Angegriffenen verwandte. Aber eine völlige Bestätigung des Speyerer Urteils, eine Zurückweisung der von den Kölnern eingelegten Berufung, ließ sich nicht erwirken. Vielmehr verwies im Gegensatz zu der für Reuchlin sehr günstigen Entscheidung der dafür eingesetzten Spezialkommission (2. Juni 1516), die wenige Wochen später erfolgte Entscheidung des Papstes beide Parteien, in einem sogenannten Mandatum de supersedendo zu ewigem Stillschweigen, ließ also die Angelegenheit unentschieden oder vertagte das wirkliche Urteil. Wenige Jahre später, 1520, erfolgte ein solches und zwar, wie damals kaum einer erwartete, heute die meisten schwer begreiflich finden werden, in einein Reuchlin ungünstigen Sinne (20. Juni 1520)). In dieser Entscheidung wurde die Speyerer Sentenz für ungültig erklärt, der „Augenspiegel“ als ein ärgerliches, frommen Christen anstößiges, den Juden unerlaubt günstiges Buch verdammt, Reuchlin zu ewigem Stillschweigen und zur Zahlung der gesamten Kosten des Prozesses verurteilt. Von diesem Urteil wurde freilich so wenig Aufhebens gemacht, daß es erst mehr als 3½ Jahrhunderte später allgemeiner bekannt geworden ist.
Man wird es zunächst schwer begreiflich finden, daß ein Papst, wie Leo X., ein gelehrter Mann, der eine hebräische Druckerei in Rom errichtete und eine Professur des Hebräischen dort begründete, der die Widmung von Reuchlins „de arte cabbalistica“ angenommen hatte und der als großer Gönner der Gelehrten, selbst der am freiesten denkenden galt, der auch im vertrauten Kreise manch freies Wort über das Christentum sprach und jedenfalls gern anhörte, zu einer solch schweren Verurteilung sich hinreißen ließ.
Um dies verständlich zu machen, muß man die Unentschiedenheit des Papstes, seine Schwäche den starken Einflüsterungen der pfäffisch Gesinnten gegenüber erwägen und ferner die Zeitverhältnisse bedenken. Damals war Luther aufgetreten und die schlimmste Gefahr bedrohte den päpstlichen Stuhl und die katholische Kirche. Auch Luther hatte, wie so viele, Reuchlin gehuldigt; aus Reuchlins Anhängern rekrutierte sich die Schar der begeisterten Jünger Luthers; den Gegnern beider war es leicht, den ängstlichen Papst zu überzeugen, daß diese beiden Angelegenheiten, die im Grunde gar nichts miteinander zu tun hatten, eng verflochten, daß die Reformation nur eine Tochter des Humanismus, daß Luthers Schriften und Taten nur eine Folge der Reuchlinschen Bemühungen seien.
Was aber wollte die päpstliche Entscheidung besagen? Im Grunde bedeutete sie nur für den alten Gelehrten einen pekuniären Verlust, denn in Deutschland war der Streit durchaus für ihn entschieden. Die öffentliche Meinung hatte sich von 1514 an so durchaus für ihn erklärt, daß er als Sieger allgemein gefeiert und auch nach der päpstlichen Entscheidung als solcher erklärt ward. Wie in den Dunkelmänner-Briefen mit meisterhafter Satire die Antireuchlinisten als Unwissende, ungesittete Gesellen verhöhnt, die Reuchlinisten dagegen als die freien Vertreter fröhlicher Wissenschaft gefeiert wurden, so ertönten Jubellieder in ganz Deutschland. In feurigen Reden eines Ritters, wie Hermann von Neuenahr, in begeisterten Gedichten eines Herman Busch und Coban Hesse, in witzigen Schriften des wackeren Willibald Pirckheimer, in lebhaften, glanzvollen Dialogen Ulrichs von Hutten wurde Reuchlin als der unbewegliche Geistesheld und die von ihm vertretene Sache als die der Freiheit, der Wissenschaft und des wahren Glaubens gefeiert. Kurze Zeit, bevor die päpstliche Entscheidung erging, war eine große Zeichnung mit begleitenden Versen erschienen, die den „Triumph Reuchlins“ (triumphus Capnionis) verherrlichte. Hier war dargestellt, wie völlig die Gegner besiegt waren. In dem festlichen Zuge, der nach antiker Weise den Triumph verherrlichte, wurden die Waffen und die Götzen der überwundenen vorangetragen, z. B. die vier Ungetüme, Aberglaube, Barbarei, Unwissenheit und Neid. Daraus folgten in Ketten die besiegten Feinde: Hochstraaten, der Feuermann, der Feuer frisst, Feuer speit, der trunkene, neidische Ortuin, der ehrfürchtige, scheinheilige Arnold von Tungern, der Judas Pfefferkorn. Nach Opferstieren, Musikern und Sängern folgte auf einem mit Blumen gezierten Wagen die ehrwürdige Gestalt des Triumphators selbst, die grauen Schläfen mit Lorbeer und Efeu umwunden, den „Augenspiegel“ in der rechten und einen Ölzweig in der linken Hand; zum Beschluss die Schar der Gelehrten und Poeten, die gleich dem Triumphierenden, ja durch ihn von dem Untergang befreit waren, der ihnen von den Dunkelmännern zugedacht war.
Nur einer triumphierte nicht, nämlich Reuchlin selbst. Freilich, er nahm seine Ansichten nicht zurück. Ja er hörte so wenig auf, die geliebte hebräische Sprache zu pflegen, daß er noch nach dieser Entscheidung einem Rufe folgte, an der Universität Ingolstadt zu lehren. Aber ein öffentliches Auftreten vermied er, und wenn er sich auch nicht geradezu dem Papste und dessen Entscheidung unterwarf, so erklärte er in einem, freilich nicht erhaltenen, aber durch ein vollgültiges Zeugnis als echt erwiesenen Briefe, den er an die bayerischen Fürsten richtete, daß er Luthers Werk missbillige und in der alten Kirche lebe und sterbe. Er mußte sich deswegen eine herbe Abfertigung Huttens gefallen lassen, der früher so mutig und entschieden für ihn eingetreten war. Der ehemalige Kampfgenosse wies den Meister daraus hin, daß er einen solchen Versuch, sich von Rom zu befreien, missbillige und es für unehrenhaft halte, „daß Du eine Partei bekämpfst, der, wie Du siehst, diejenigen angehören, deren Gesinnungsgenosse Du in jeder ehrenhaften Sache sein solltest“.
So endete der Reuchlinsche Streit. Mit einer faktischen Verurteilung dessen, der für die jüdische Literatur eingetreten war und doch mit einem Siege dieser Literatur und im Zusammenhange damit einem Siege der Freiheit der Wissenschaft. Denn unmittelbar nach jenem verhängnisvollen Jahre wurden an deutschen Universitäten Lehrstühle für das Hebräische errichtet; gar manche Druckerei sorgte dafür, daß hebräische Texte gedruckt, Lehrbücher über die hebräische Sprache veröffentlicht wurden. Kein Mensch dachte daran, die Publikation solcher Erscheinungen zu hindern, und noch weniger daran, die Bücher der Juden fortzunehmen oder zu vernichten.
Eine unmittelbare Wirkung auf die Juden übte Reuchlin nicht. Nimmt man die Unterstützung jenes jüdischen Leibarztes des Papstes aus, die früher angedeutet wurde, so kann man auch von einer Beteiligung irgendeines Juden bei der ihnen drohenden Gefahr kaum sprechen. Ja noch mehr, auch in den jüdischen Schriften des 16. Jahrhunderts wird der ganzen Sache keine Erwähnung getan, das historische Werk Zemach David von David Gans, Prag 1592, weiß von der Reuchlinschen Sache nicht das geringste, nur in einem philosophischen Werke „Buch des Lebens“ des Friedberger Rabbiners Chajim ben Bezalel, Krakau 1593, kommt eine kurze Erwähnung des Reuchlin-Pfefferkornschen Streites vor, ohne daß freilich der Name der Beteiligten erwähnt wird. Von Reuchlin heißt es: „da erweckte Gott den Geist eines weisen Christen, der vor Fürsten und Völker hintrat und Achtung vor dem Talmud lehrte“. Und nachdem der Inhalt seines Gutachtens mit ein paar nichtssagenden Phrasen angedeutet worden, fährt der Verfasser sort: „die Verteidigungsrede dieses weisen Christen gefiel dem Könige und den Fürsten, die Verleumder aber gingen beschämt davon“.
Aber auch das Wesen seines Studiums und seines Kampfes wurde zunächst nicht fortgesetzt. Die Juden arm, bedrückt, dem Kampf um die tägliche Notdurft preisgegeben, standen damals zu sehr außerhalb der geistigen Bewegung, als daß sie diese mit ihrer Kenntnis hätten fördern sollen. Die gelehrten christlichen Hebraisten jener Zeit aber glaubten genug zu tun, wenn sie die Kenntnis der Sprache förderten, vermochten es aber nicht, das Problem des Zusammenhanges zwischen Judentum und Christentum zu verfolgen, ja rührten überhaupt kaum daran, begnügten sich höchstens damit, in dem Christentum nicht etwa die Schülerin, sondern die Erfüllung des Judentums zu sehen. Und jetzt? Wir verlangen gewiß keinen neuen Pfefferkorn, um so weniger als es an Überläufern und geborenen Christen nicht fehlt, die, wenn es anginge, sein Werk fortsetzen möchten, aber ein Reuchlin unter den Christen täte not, der mit ebenso eindringender Kenntnis wie hingebender Liebe sich in die jüdische Literatur zu versenken, ihren weltgeschichtlichen Einfluß zu verfolgen wüsste.
An Lob und Ruhm hat es Reuchlin auch nach seinem Tode nicht gefehlt. Es gibt ein wenig bekanntes Gedicht Goethes, in dem sich dieser mit dem berühmten Gelehrten vergleicht und sich wünscht, daß auch für ihn Helfer erstehen, gleich Hutten und Sickingen, die ihn schützen mögen „gegen die obskuren Kutten, die mir zu schaden sich verquälen“, ein Gedicht, das mit den Versen beginnt:
Reuchlin, wer will sich Dir vergleichen,
Zu seiner Zeit ein Wunderzeichen.
Drei Jahrhunderte vorher wurde eine noch entschiedenere Verherrlichung Reuchlins geschrieben und bald nachher veröffentlicht. Sie rührt von Desiderius Erasmus, dem großen Zeitgenossen Reuchlins, her, der sich trotz aller seiner sonstigen Zurückhaltung zu dem Angegriffenen gesellt und mutige Worte an dessen Gegner gerichtet hatte. Nun, nach dein Tode des Verehrten veröffentlichte er eine „Apotheose Reuchlins“, eine Vision, die ein Franziskaner in der Todesstunde des Gefeierten gehabt haben soll:
Jenseits einer Brücke, die über einen Bach führte, erblickte der Seher eine herrliche Wiese. Auf die Brücke zu schritt Reuchlin in weißem Gewande, hinter ihm ein schöner Flügelknabe, sein guter Genius. Große schwarze Vögel verfolgten ihn mit Geschrei, er aber wandte sich nm und verjagte sie. An der Brücke empfing ihn der heilige Hieronymus und begrüßte ihn als Kollegen der Sprachgelehrsamkeit. Die Wiese und die Lust war mit Engeln angefüllt; auf einem Hügel, der sich ans der Wiese erhob, erhob sich vorn offenen Himmel eine Feuersäule nieder, in dieser stiegen die beiden Seligen, sich umarmend, unter denk Gesang der Engelchöre empor.
Zum Range eines Engels und eines Heiligen erheben wir keinen Menschen. Aber wir preisen Reuchlin, weil er sein Lebenlang der Wahrheit diente und preisen ihn doppelt, weil dieser Dienst auch für uns Juden ein heilbringender und segenspendender war. Wäre er ein Kämpfer gewesen, der den Streit, wenn auch zunächst wegen des Zieles, doch auch um des Ringens selbst willen liebte, so hätte er wie sein Gesinnungs- und Zeitgenosse Hutten sagen können: „Die Wahrheit muß herfür“. Wäre er geschwellt gewesen von dein Selbstbewusstsein, das mancher besitzt, der etwas gewirkt hat, so hätte er als Wahlspruch das von Rousseau angewendete Wort genommen: „Das Leben für die Wahrheit verwenden vitam impendere vero“. Er aber war nur ein stiller Forscher, ein eifriger Gelehrter, der den Kampf nur aufnahm, wenn er ihm aufgenötigt wurde und der nur selten ein Wort des Selbstlobes für sich fand. Und darum sprach er das rührende Wort: „Ich verehre den heiligen Hieronymus, ich gebe dem Nicolaus de Lyra die Ehre, die ihm gebührt, sed veritatem colo ut deum, aber nur die Wahrheit bete ich an als Gott.“
Ich führe Sie in eine vergangene Zeit und spreche in diesem jüdischen Kreise von einem Christen, der mindestens ebenso unsere Achtung und Verehrung verdient, wie manche Glaubensgenossen verflossener Tage.
Die Zeit, in der Johann Reuchlin lebte, ist die der Renaissance oder des Humanismus. Man tut unrecht, unter dieser Epoche bloß eine Wiederbelebung des Altertums und seiner Sprachen zu verstehen; vielmehr war es, wie schon die Bezeichnung Humanismus andeutet, eine allgemeine Umwälzung der Kultur, eine aus den ganzen Menschen wirkende Umwandlung seiner sittlichen, religiösen, politischen Anschauung.
Eine neue Jugend schien die Menschheit ergriffen zu haben: man stürzte sich mit enthusiastischem Eifer aus das Studium, aber man wünschte, als gälte es lange Versäumtes nachzuholen, auch mit vollen Zügen zu genießen. Die Epoche des Humanismus erscheint dem nachlebenden wie ein reich-blühender Völkerfrühling, die Empfindung, von der die Besten ergriffen waren, ist die, welche Hutten in seinein freudigen Worte ausgesprochen hat: Es ist eine Lust zu leben.
Man lebte aber nicht nur in der Vergangenheit und auch nicht nur im Sinnestaumel, sondern man schloß sich und das ist gerade gegenüber dein internationalen Charakter des Humanismus zu betonen, an sein Volk an.
Gerade Reuchlin ist ein lebendiges Beispiel dafür, daß es sich in dieser Epoche bei aller Bevorzugung des Lateinischen auch nur eine lebendige und liebevolle Pflege der deutschen Sprache handelt: wie nationales Empfinden und Kosmopolitismus Hand in Hand gingen, so auch das Verlangen, als Lateiner die klassische Sprache der Alten zu regeln und zugleich eine neue Zeit des Deutschen zu begründen.
Von Reuchlins Leben kann hier nur in der äußersten Kürze die Rede sein. Er wurde am 22. Februar 1455 geboren und ist am 30. Juni 1522 gestorben. Er lebte in Süddeutschland, er, der geborene Badenser, hauptsächlich in Württemberg; dort ist er auch nach einer kurzen Wirksamkeit in Ingolstadt gestorben und begraben. Er war Jurist, jahrzehntelang ein hochangesehener Beamter, der sich des Vertrauens mancher Fürsten erfreute, manche Gesandtschaften unternahm, die ihn zum Teil in ferne Lande führten, ein von aller Welt bewunderter Gelehrter, ein trefflicher Mensch, der wegen seiner Güte und Milde in den weitesten Kreisen geschätzt wurde. Seine großen juristischen Kenntnisse legte er nicht in Werken nieder. Dagegen war er auf vielen anderen Gebieten tätig: auf dem der Geschichte, hauptsächlich auf dem der Philologie. Seine umfangreichsten Arbeiten, ein Lexikon und eine Weltgeschichte, sind, so außerordentlichen Beifall sie auch zu ihrer Zeit fanden, heute veraltet. Seine Übersetzungen aus dem Griechischen ins Lateinische, teilweise ins Deutsche, angestaunte Erzeugnisse seltener Gelehrsamkeit und Wohlredenheit müssen sich mit dieser Rennung begnügen, und nur kurz mag daraus hingewiesen werden, daß noch heute eine Art der Aussprache des Griechischen nach Reuchlins Namen genannt wird. Ebenso kurz muß, da es sich hier nicht um eine Biographie des bedeutenden Mannes, sondern um seine Würdigung in einer speziellen Angelegenheit handelt, von seinen Komödien gesprochen werden. Gewiß sind sie abhängig von dem Altertum, aber sie zeigen modernes Leben, indem sie Missstände der Zeit: die Prozesssucht, die Lust am unredlichem Gewinn, die Begünstigung der Reichen durch die Richter, das geschäftsmäßige Treiben mancher Anwälte zu geißeln suchen, die eine dieser Komödien ist stark satirisch gefärbt und tritt lebhaft gegen einen Widersacher auf, der all dem Hofe Eberhards des Jüngeren, des Herzogs von Württemberg unserem Gelehrten vielfache Schwierigkeiten bereitete.
Alle diese kleineren und größeren Arbeiten, die viele Bände füllen, hätten genügt, um dem Namen unseres Gelehrten einen guten Klang unter seinen Fachgenossen zu geben, sie hätten jedoch nicht ausgereicht, ihn aus der Mediokrität zu erheben und zu den auch in der Zukunft gefeierten Helden zu machen.
Dies geschah vielmehr dadurch, daß er, nicht zufrieden als ein zweier Sprachen Kundiger gerühmt zu werden, statt des Ranken eines Bilinguis den eines Trilinguis zu erwerben suchte: dem Lateinischen und Griechischen, worin er Meister war — eine Meisterschaft, die er mit vielen teilte — fügte er das Hebräische zu, das er als Erster in Deutschland trieb und womit er lange Zeit vereinzelt blieb. Denn es war weder leicht noch ungefährlich, hebräisch zu lernen. Nicht ungefährlich, denn die Erlernung der hebräischen Sprache konnte, ja mußte in den Verdacht der Judengönnerschaft bringen, der üble Folgen haben konnte; nicht leicht, denn Lehrmeister waren irr Deutschland nicht zu finden. Christliche gab es nicht, denn geborene Christen verstanden kein Hebräisch; getaufte Juden waren entweder ganz unwissende Menschen, oder nicht völlig geeignet, die Sprache, die sie in ihrer Jugend erlernt hatten, anderen zu übermitteln. So war Reuchlin darauf angewiesen, da ein Selbststudium ohne irgendwelche Zurechtweisung geradezu undenkbar war, in der Fremde, in der er sich, wie schon erwähnt, mehrfach als Gesandter befand, die Hilfe gelehrter Juden in Anspruch zu nehmen. Das Glück wollte ihm wohl: er fand in Linz, wo er in dem Kreise des Kaisers Maximilian einige heitere Wochen zubringen durfte, in Jehiel Loans, und in Rom, wohin er im Auftrage des Pfalzgrafen bei Rhein in einer schwierigen diplomatisch-juristischen Angelegenheit geschickt worden war, in Obadja Sforno Lehrmeister, die ihr Amt gut verstanden und gerne übten. Sie lehrten den eifrigen Deutschen teils die Grundbegriffe, teils gewährten sie ihm die Fähigkeit, sich selbst weiter zu helfen, indem sie, außer der Unterweisung, die sie ihm gaben, ihm auch Handschriften und Drucke verschafften, aus denen er sein Wissen zu erweitern vermochte. Manche dieser Bücher mit anerkennenden Inschriften des dankbaren Schülers haben sich noch heute erhalten.)
Jahrelang, ja mehr als ein Jahrzehnt, arbeitete sich Reuchlin in die schwierige Materie hinein. Als er die Resultate seiner Arbeiten veröffentlichen wollte, ergab sich eine neue Schwierigkeit, daß hebräische Typen in deutschen Druckereien nicht vorhanden waren; auch diese wurde durch die Großherzigkeit seines Verlegers Thomas Anshelm in Tübingen beseitigt. So konnte im Jahre 1506 ein Foliant erscheinen, der den Titel „Rudimenta hebraica“ führte. Ein Buch, Grammatik und Wörterbuch zugleich, in dem der Verfasser nicht nach Art junger Autoren, die alles besser zu verstehen glauben, als ihre Vorgänger, umstürzlerisch zu verfahren versuchte, sondern worin er als treuer Schüler seines Meisters, des berühmten Grammatikers David Kimchi seine Materie zu behandeln wußte.
Die Anlehnung an Kimchi zeigt sich sowohl in der Methode, nämlich die Wörter nach Wurzeln zu ordnen und die abgeleiteten der alphabetischen Ordnung zuwider unter den Wurzelwörtern zusammenzustellen, als auch in dem Wortschatze, der bei dem Deutschen kaum eine Vermehrung erhält, als endlich in der Manier, zum Verständnis der einzelnen Worte Bibelstellen anzuführen. Während freilich Kimchi zu Eingeweihten, d. h. zu solchen sprechen konnte, die mühelos hebräisch verstanden, ja es als Muttersprache betrachteten, war sich Reuchlin, selbst ein Schüler, immer bewußt zu solchen zu reden, die erst die Anfangsgründe der fremden Sprache sich aneignen sollten. Daher gab er jene angedeuteten Bibelstellen nicht hebräisch, sondern lateinisch und fügte zur Belehrung für die unkundigen Leser folgende Erläuterungsverse bei:
Non est liber legendus hic ceu ceteri.
Faciem sinistra dextera dorsum tene
Et de sinistra paginas ad dexteram
Quascumque verte. Quae latina videris
Legito latine; hebraea si sint insita
A dextera legenda sint sinistrorum.
Denn man muß sich immer gegenwärtig halten, daß es sich hier um ein Elementarwerk handelte. Wir mögen ein solches Bemühen belächeln, dürfen aber dabei nicht vergessen, daß es für jene Zeit eine Riesenleistung war: ohne ständigen Lehrer, ohne genügende Hilfsmittel hat der eifrige Gelehrte hier einen Leitfaden und eine Wörtersammlung geschaffen, die grundlegend für spätere Jahrhunderte geworden sind. Erst durch die glücklichen Bemühungen dieses ernsten und gewissenhaften Forschers gelang es den Deutschen in die hebraica veritas, wie Reuchlin den hebräischen Bibeltext nannte, einzudringen; erst durch seine Lehre wurde es möglich, den vielfach verderbten lateinischen Text von Fehlern zu reinigen; ohne seine Arbeit wäre Luthers staunenswerte Leistung nicht denkbar. Die Späteren, die es in genauer Kenntnis der Einzelheiten, in wissenschaftlicher Methode viel weiter brachten als Reuchlin, haben daher mit Dankbarkeit das stolze Wort bestätigt, das der sonst bescheidene Gelehrte im Vollbewusstsein seiner Leistung niederschrieb: exegi monumentum aere perennius (ich habe ein Denkmal errichtet, dauernder als Erz).
Zwölf Jahre später, nachdem inzwischen die deutschen Druckereien in den Besitz hebräischer Typen gelangt waren, einzelne Übersetzungen biblischer Stellen zugleich mit hebräischem Texte veröffentlicht werden waren, folgte ein neues Werk „De accentibus et orthographia“. Es richtet sich nicht an einen so großen Kreis wie das erste, lehrt die Akzente, die Andeutungen des rednerischen Maßes, die musikalischen Zeichen, und ist namentlich in letzterer Beziehung, da es vielleicht die ersten gedruckten Noten alter Melodien mitteilt, von außer-ordentlichem Wert. Es ist weit gelehrter als das erste Buch und beweist die außerordentliche Sorgfalt, die der Gelehrte seinem Lieblingsstudium zuwandte. Es ist auch unabhängiger von der rabbinischen Führung. Aber bei dem speziellen Inhalt dieses zweiten Werkes mußte es einem weit kleineren Kreise dienen, als jenes und auch seine Wirkungen waren aus eine kleine Zahl von Liebhabern beschränkt.
Für Reuchlin war das Studium des Hebräischen nicht Selbstzweck. Er war weder ausschließlich Philologe, der nur an der Fremdheit der Sprache oder an ihrer Gesetzmäßigkeit Gefallen fand, nicht allein Theologe, der sich vollständig mit dem Erweckungsdienst begnügte, den er der Bibel leistete, sondern Philosoph. Das Studium des Hebräischen war ihm Mittel zum Zweck; es reizte ihn die jüdische Geheimlehre, die Kabbalah zu ergründen. Vielleicht war dies Verlangen schon von vornherein mächtig in ihm, es wurde bestärkt durch die Bekanntschaft mit dem erhabenen italienischen Philosophen Pico della Mirandola, die er in Italien gemacht hatte. Die Weisheit der Kabbalah verkündete er in zwei Werken „De verbo mirisico“ (vom wundertätigen Wort) 1494 und „De arte cabbalistica“ (von der kabbalistischen Kunst) 1517. Beide Werke haben die Form von Unterredungen, an denen Juden teilnehmen; der jüdische Unterredner der ersten Werkes führt den Namen Baruchias, der des zweiten den Namen Simon.
Das wundertätige Wort, dessen Kraft im ersten Buche dargetan werden soll, ist ein Tetragrammaton, „jene unvergleichliche Bezeichnung, von den Menschen nicht erfunden, sondern ihnen nur durch Gott anvertraut, ein heiliger und hoch zuverehrender Name, der Gott besonders in der Urreligion zukommt, der Allmächtige, den die Überirdischen anbeten, die Unterirdischen fürchten, die Statur des Weltalls küßt“.
Dieses Wort stellt die Verbindung her zwischen dem endlichen Menschen und dem unendlichen Gott. Diese große Bedeutung des wunderbaren Wortes kommt daher, weil jeder Buchstabe desselben seinen geheimnisvollen Inhalt hat. Der erste Buchstabe, ein Jod, der Gestalt nach ein Punkt, dem Zahlwert nach = zehn, deute Ansang und Ende aller Dinge an, der zweite He, als Zahlzeichen fünf, die Vereinigung Gottes (Dreieinigkeit) und der Natur (Zweiheit nach Plato und Pythagoras); der dritte Waw, dem Zahlwert gleich sechs, das Produkt der Einheit, Zweiheit, Dreiheit; der vierte He, dem zweiten gleich, bedeute die Seele, die das Medium zwischen Himmel und Erde, wie die fünf Mitte zwischen der Einheit und der heiligen Zehnzahl sei. Ist schon in dieser Namenserklärung eine Vereinigung der christlichen und jüdischen Lehre angedeutet, ein Hineingeheimnissen der christlichen .Mysterien in den jüdischen Gottesnamen, so soll durch die weitere Ausführung bewiesen werden, daß der Name Jesu nichts sei als eine Vermehrung des Tetragrammaton durch einen Buchstaben und zwar den s-Laut, der etwas Heiliges habe, da er im Hebräischen zur Bildung der Worte „heilige Zeder, heiliger Name, heiliges Öl“ diene. Demgemäss sei der Name Jesu und die durch ihn begründete christliche Lehre der Höhepunkt der philosophischen Bildung der Welt.
Ausgabe des zweiten Werkes ist zunächst der Beweis, daß die messianische Lehre, die, obwohl von Bibel und Talmud vorher verkündet, durch die jüdischen Erklärer nicht recht verstanden worden, der eigentliche Gegenstand der Kabbalah sei. Dieselbe Lehre nun sei auch der Grundstein der pythagoräischen Philosophie. Letztere habe indessen mit jener jüdisch-philosophischen Richtung auch die mannigfachsten Berührungspunkte in den großen Grundsätzen der Moral und den geheimnisvollen Wegen der Erkenntnis gemein. Der Erörterung dieser Geheimnisse, nämlich der 50 Pforten der Erkenntnis, der 32 Pfade, die zur Wahrheit führen, und der 72 Engel, welche die Vermittlerrolle zwischen Gott und Menschen spielen, ist ein großer Teil des Werkes gewidmet. Ein nicht minder großer der formellen Kabbalah, der kabbalistischen Kunst, deren Wesen darin besteht, ans den Worten einen tieferen Sinn als den gewöhnlichen zu entnehmen und zwar
1. durch Umstellung der Buchstaben innerhalb eines Wortes (Gimatria)
2. durch Auseinanderzerrung der Buchstaben eines Wortes, dergestalt, daß jeder als Anfangsglied eines neuen betrachtet wird (Notarikon),
3. durch eine derartige Vertauschung der Buchstaben, daß für den ersten des Alphabets der letzte, für den zweiten der vorletzte uns so sort gesetzt wird.
Beide Werke, so gelehrt sie auch sind, wurden in jüdischen Kreisen kaum beachtet, da man in ihnen weit bessere Führer zu jener geheimnisvollen Welt besaß, und fanden in christlichen Kreisen neben wenigen Gläubigen zahlreiche lächelnde und manche zürnende Ungläubige; ihre Wirkung ist daher in keiner Weise mit der zu vergleichen, die von den sprachlichen Studien ausging. Und doch muß man sich hüten, diesen Arbeiten missbilligend oder gar verachtend gegenüber zu stehen. Es sind nicht Träumereien eines Müßigen und noch weniger Verkehrtheiten eines Wundersüchtigen; vielmehr zeigt sich auch in ihnen das Bestreben eines ernsten Mannes zur Wahrheit und zu höherer Geistesbefriedigung vorzudringen. Reuchlins Streben wird gekennzeichnet durch den Satz, den er von den Kabbalisten braucht: „Sie begehren nichts anderes, als den Menschengeist zu Gott emporzuheben, sich vollkommene Glückseligkeit zu bereiten; schon in diesem Leben erwirbt sich der Mensch, wenn er diese Wissenschaft betreibt, Seligkeit, ewige Freude aber in jenem“.
Und gewiß mag man auf den ernsten Forscher den schönen Ausspruch Wielands anwenden: „Reuchlin sprach zur orientalischen Literatur das Machtwort Stehe auf, komme herauf, Toter! Der Tote kam, wie er war, mit rabbinischen Grabtüchern umwunden, sein Haupt mit dem Schweißtuch der Kabbalah verhüllt; das zweite Wort war und ist ungleich leichter: Löset ihn auf und lasset ihn gehen und das ist das gelobte Verdienst der Folgezeiten Reuchlins gewesen“.
Durch diese hebräischen und kabbalistischen Studien wurde unser Forscher auch genötigt, dem Wesen der Juden eine Beachtung zu gönnen. Sie war nicht immer günstig. Ja ein Jahr bevor er das erste Hauptwerk veröffentlichte, das dem Studium der hebräischen Sprache galt, schrieb er eine kleine Schrift, die man geradezu als eine antisemitische bezeichnen kann. „Tütsch missive warurnb die Juden so lang im Ellend sind.“ Er gab darin einem Edelmann, der ihn um Rat gefragt hatte, an, er möge seinen Juden als Grund ihres langen Herumirrens in der Fremde vorhalten, daß sie ehemals den Messias getötet hätten und jetzt Christus, Gott Vater und die Jungfrau Maria täglich verspotten. Solche Lästerungen fänden sich besonders in dem Büchlein Nizachon und anderen, vornehmlich in dein Gebete Veleschumadim. Ihre einzige Rettung bestehe darin, daß sie zum wahren Glauben bekehrt und aus dem Gefängnis des Teufels erlöst werden mögen. Zum Schluß erbot er sich selbst, die Willigen im rechten Glauben zu unterweisen.
Gewiß sind die Anklagen, die hier gegen die Juden erhoben werden, unbegründet, aber doch unterscheidet sich die milde Art, in der in unserer Schrift die Unterweisung der Juden in friedlicher Form beantragt, nicht durch Gewaltsamkeit erzwungen werden soll, vorteilhaft von den Gewaltmaßregeln, die große Gelehrte, wie Ulrich Zasius und blinde Fanatiker, wie Johannes Pfefferkorn, beantragten.
Der letztere griff störend in die ruhige wissenschaftliche Arbeit unseres Gelehrten ein und zwang ihn, der sich am wohlsten in der Einsamkeit seines Studierzimmers fühlte, aus den offenen Markt zu treten. Pfefferkorn, von Geburt Jude, vielleicht aus Nürnberg stammend, ein ungebildeter und unredlicher Handwerker, der wegen Diebstahls gefangen, ein Wanderleben führte, währenddessen er auch Wuchergeschäfte betrieb, war 1505 in Köln zum Christentum übergetreten und erschien den dortigen Dominikanern als das geeignete Subjekt, den Kampf gegen die Juden aufzunehmen. Seine schwachen Kenntnisse und seinen blinden Haß gegen die ehemaligen Glaubensgenossen benutzten jene, um in zahlreichen Schriften, die den Namen des Täuflings führten, gegen die Juden aufzutreten. Schon in seiner ersten Broschüre „Der Judenspiegel“ 1507 stellte er das Programm auf, das er in beständigen Wiederholungen erneuerte und verschärfte: Wegnahme der Bücher der Juden, Verbot des Wuchers, Nötigung christliche Predigten zu besuchen. Neben diesen Forderungen erhob er die Anklage, die Juden seien grimmige Feinde der Christen und ihres Glaubens, und stellte die Behauptung aus, sie meinten es gar nicht ernst mit ihren Überzeugungen. Das Programm wurde weiter ausgeführt, Anklage und Behauptung näher begründet, in zwei Schriften des Jahres 1508 „Judenbeichte“ und „Osternbuch“ und in dem Pamphlet des Jahres 1509, das schon durch den Titel seine Gesinnung offenbarte: „Judenfeind“. Waren die beiden ersteren dazu bestimmt, die Lächerlichkeit der jüdischen Gebräuche darzutun, so war die Ausgabe des letzteren die, die Christenfeindschaft der Juden offen darzulegen und ihre Gefährlichkeit sowohl durch ihren Wucher, als namentlich durch die von ihnen geübte ärztliche Kunst zu erweisen.
Im Gegensatz zu vielen anderen Judenfeinden begnügte sich Pfefferkorn, auch darin wahrscheinlich durch die Kölner Mönche angestachelt, nicht mit schriftstellerischen Anklagen, sondern versuchte nun praktisch gegen seine Feinde vorzugehen. Als bestes Mittel, ihre Bekehrung zu erzwingen, oder sie zum freiwilligen Verlassen Deutschlands zu veranlassen, erachtete er die Wegnahme ihrer Bücher.
Zu solchen Versuchen bedurfte er der Unterstützung der weltlichen Macht. Er erlangte diese, eine Ermächtigung des Kaisers Maximilian, durch die Fürsprache von dessen Schwester Kunigunde und verfehlte nicht, in einer besonderen Schrift dem Kaiser zu danken und in einer anderen den geistlichen und weltlichen Fürsten die Ermahnung auszusprechen, sein löbliches Unternehmen zu fördern. Er begann auch in Frankfurt und in den rheinischen Städten sein Werk, brachte viele Kisten von Büchern zusammen, deren Inhaltsverzeichnis sich erhalten hat und neuerdings gedruckt worden ist, ohne daß es, infolge der sehr summarischen Bezeichnung der zusammengebrachten Bücher, uns einen wirklichen Einblick in die also weggenommene Literatur verschafft.
Nicht lange konnte er seine Bemühung fortsetzen. Der Erzbischof von Mainz, Uriel von Gemmingen, trat ihm entgegen, erhielt vom Kaiser die Leitung des ganzen Unternehmens und forderte einige hervorragende Gelehrte, darunter Reuchlin, zu einem Gutachten aus. Dieses Gutachten nun ist ein unverwelklicher Ruhmestitel des wackeren Gelehrten.
Das Gutachten teilt die Schriften der Juden in sechs Abschnitte. Es bespricht zuerst den Talmud, dessen schwere Sprache und seltsamen Inhalt es zugesteht. Trotzdem sei seine Vernichtung nicht angängig, da unvernünftiges neben Vernünftigem stehe, Aberglaube mit dem Glauben eng verbunden sei; da ferner Christus selbst geboten habe, die rabbinischen Schriften zu wahren und da endlich es von Gott untersagt sei, das auszurotten, was man für schlecht halte. Zweitens, eine Verteidigung der Kabbalah sei unnötig, seitdem sie durch Picos glanzvolle Leistung so herrlich gerechtfertigt sei. Drittens, die Glossen und Kommentare zur Bibel seien in ihrem Nutzen auch von den früheren christlichen Erklärern anerkannt. Predigten und Gesangbücher seien auch von den ehemaligen Päpsten ausdrücklich geschützt. Fünftens und sechstens: poetische, philosophische, naturwissenschaftliche und satirische Schriften böten keinen Grund zur Verfolgung.
Nach dieser Durchnahme der einzelnen Schriften kommt Reuchlin zu der Folgerung, daß man kein Recht habe, gegen die Juden und ihr Schrifttum aufzutreten. „Wir und sie“, sagt er, „sind eines einigen römischen Reiches Mitbürger und sitzen in einem Bürgerrecht und Burgfrieden“ und ferner, „der Jude unseres Herrgott alswohl als ich steht er, so steht er seinem Herrn, fällt er, so fällt er seinem Herrn, ein jeglicher wird für sich selbst müssen Rechnung geben. Was sollen wir eines anderen Seele urteilen, Gott ist wohl so mächtig, daß er ihn mag aufrichten“. Und endlich tut er dar, daß der Glaube des einen von dem anderen nicht untersucht werden dürfe. „Aber die Juden in Dingen, die ihren Glauben betreffen, sind sie allein sich selbst und sonst keinem Richter unterworfen, soll auch darüber kein Christ mögen erkennen. . . . Denn sie sind kein Glied der christlichen Kirche und so geht uns ihr Glaube nichts an.“
Das war Reuchlins Gutachten, nach den Worten Rankes „ein schönes Denkmal reiner Gesinnung und überlegener Einsicht“.
Die sonst eingeholten Gutachten der Universitäten Mainz und Köln standen auf dem entgegengesetzten Standpunkt, während sich die von Erfurt und Heidelberg mit dein Reuchlins einigermaßen begegneten. Bevor irgendeine Entscheidung erfolgen konnte, hatte Pfefferkorn, der sich die Reuchlinsche Auseinandersetzung zu verschaffen gewußt hatte, in seinem „Handspiegel“ 1511 diesen als Judengönner denunziert und ihn als unwissenden hinzustellen versucht. Solche Angriffe wehrte der Beschuldigte in seinem „Augenspiegel“ ab, veröffentliche darin, urn weiteren Kreisen seine Meinung darzulegen, sein Gutachten und erhob sich in edlem Zorn gegen die Anklage der Bestechung durch die Juden, an der es der unwürdige Gegner gleichfalls nicht hatte fehlen lassen. „Fürwahr nun habe ich ihnen nie Dienste getan, besonders wider die christliche Kirche und darauf sagt ich bei dem höchsten Glauben, daß ich all meine Lebtage von meinen kindlichen Zeiten bis auf diese Stunde von Juden noch von ihrer Seite weder Heller noch Pfennig, weder Gold noch Silber, weder Kreuz noch Münze empfangen, genommen noch verhofft habe. Mir hat all meine Lebtage kein Jude eine Gabe verheißen noch versprochen um irgendeiner Sache willen und insonderheit auch diesen Ratschlag betreffend, hat mir kein Jude weder Dienst noch Belohnung erboten noch gegeben. Und wer von nur zur Verletzung meiner Ehre anders geschrieben oder geredet hat oder anders noch redet, der lügt als ein leichtfertiger, ehrloser Bösewicht.“
Mit dieser entschiedenen Abfertigung war Pfefferkorn für Reuchlin abgetan; alle die wilden Angriffe, mit denen dieser bis 1521 fortfuhr, blieben unbeantwortet. Statt dieses Privatstreites erhob sich nun ein allgemeiner. Denn die Kölner Mönche versuchten die Sache ihres Schützlings zu ihrer eigenen zu machen und den Gelehrten, den sie für einen gefährlichen Ketzer erachteten, vor das geistliche Gericht zu ziehen, ihm wegen seines widerchristlichen „Augenspiegels“ den Prozess zu machen. Sie konnten zunächst nicht wissen oder verbargen es sich selbst in ihrer Kurzsichtigkeit, daß sie nicht mit einer Einzelperson zu tun hatten. Freilich hatte Reuchlin, der mit einem der Kölner, Konrad Collin, im Briefwechsel stand, diesen gemahnt: „Welche Bewegung müsste es verursachen, unter den Kriegsleuten von Adel und Unadel, auch jenen, welche die Brust ohne Harnisch, aber voller Narben haben, wenn ein Redner mit der Kraft eines Demosthenes ihnen Anfang, Mitte und Ende dieses Handels entwickeln und zeigen würde, wem es dabei um Christus und wem um den Beutel zu tun gewesen. Und glaube mir, zu jener Zahl der Starken würden sich auch die Poeten und die Historiker gesellen, von denen in dieser Zeit eine große Anzahl lebt, die mich als ihren ehemaligen Lehrer wie billig ehren; sie würden ein so großes Unrecht, von meinen Feinden an mir verübt, dem ewigen Andenken übergeben und mein unschuldiges Leiden schildern, zu Eurer hohen Schule unvergänglicher Schmach“.
Was Reuchlin ahnte, trat ein. Es entstand ein gewaltiges Ringen zwischen den Humanisten, den Vertretern der freien Wissenschaft, die ebenso wohl das Recht der freien Meinungsäußerung verteidigten, wie als Schützer einer bedrohten Literatur austraten, gegen die als Dunkelmänner gebrandmarkten Theologen, die zunächst vorgaben, einem Laien zu verwehren, sich um theologische Subtilitäten zu kümmernd, in Wirklichkeit die Kirche als unbedingte Herrin und Richterin, auch in literarischen Dingen, durchzusetzen suchten. Dieser Streit der Humanisten mit den Kölnern hat es mit der Judenbüchersache kaum mehr zu tun. Vielmehr handelt es sich in den unzähligen Pamphleten, poetischen und prosaischen, ernsten und satirischen, nur um eine Verspottung der Unwissenheit und Unsittlichkeit der Mönche, wobei auch Pfefferkorns Weibchen häufig als galante Dirne erscheint; vor allem aber, um eine Verherrlichung Reuchlins, als des großen Gelehrten, des Führers der Jugend im literarischen Kampf.
Reuchlin selbst, der bisher — solange es sich um Dinge handelte, die den Behörden oder der großen Menge vorzutragen waren — der deutschen Sprache sich bedient hatte, gebrauchte von nun an die Sprache der Gelehrten. In seiner „Verteidigung gegen die Kölner Verleumder“ 1513 ging er unbarmherzig mit seinen Gegnern ins Gericht und sparte so wenig wie sie kräftige Schimpfworte. Um aber der Gelehrtenwelt, auch denen, die bisher seinen Kreisen fernstanden, zu zeigen, was für ein Mann er sei, wie aus ganz Deutschland und selbst aus dem Auslande gelehrte Anfragen, Anerkennungen und Huldigungen an ihn gelangt seien, ließ er 1514 eine Sammlung „Epistolae clarorum virorum“ ausgehen, der fünf Jahre später die Sammlung „Epistolae illustrium virorum“ folgte, ein lauter Chor von begeisterten Zurufen aus aller Welt, lebhaftesten Anerkennungen seiner Leistungen und beredtesten Ermunterungen zum Ausharren im Streit.
Unterdes war es wirklich zum Prozesse gekommen. Der Kaiser hatte die Angelegenheit dein Erzbischof von Speyer übertragen, und dieser fällte (29. März 1514) ein für Reuchlin günstiges Urteil, d. h. eine Erklärung, daß der „Augenspiegel“ — denn nur um diesen drehte sich der Prozess — kein ärgerliches Buch sei und daher nicht verurteilt werden dürfe. Mit diesem Urteile jedoch begnügten sich die Kölner nicht und glaubten es, trotz der sehr vernehmlichen Art, in der sich die deutschen Humanisten schon damals aussprachen, um so weniger tun zu dürfen, als ihnen eine erwünschte Hilfe aus Paris kam, dadurch, daß die dortige alte und ehrwürdige Universität sich durchaus auf ihre Seite stellte. Sie schickten den Ketzermeister Jakob von Hochstraaten, der ebenso wie zwei andere Kölner Magister, Arnold von Tungern und Ortwin Gratius, die literarischen Vertreter und Wortführer der Kölner waren, nach Rom, um dort die Sache ihres Ordens, oder wie sie vorgaben, die Sache des Glaubens, beim Papste zu führen. Aber auch Reuchlin war nicht müßig. Er bemühte sich nicht nur einen tüchtigen Sachwalter zu gewinnen, sondern die gelehrten Kardinäle und den renaissancefreundlichen Papst Leo X. günstig für sich zu stimmen. Es verdient besondere Hervorhebung, daß unter den Männern, an die er sich wandte, und zwar mit einem hebräischen Briefe, auch der jüdische Leibarzt des Papstes, Bonet de Lates, sich befand, ein gelehrter, auch der Kabbalah geneigter Mann, der dem deutschen Gelehrten sein Wohlwollen bezeugte, und der, wie man annehmen darf, seine Vertrauensstellung zum Eintreten für den Angegriffenen verwandte. Aber eine völlige Bestätigung des Speyerer Urteils, eine Zurückweisung der von den Kölnern eingelegten Berufung, ließ sich nicht erwirken. Vielmehr verwies im Gegensatz zu der für Reuchlin sehr günstigen Entscheidung der dafür eingesetzten Spezialkommission (2. Juni 1516), die wenige Wochen später erfolgte Entscheidung des Papstes beide Parteien, in einem sogenannten Mandatum de supersedendo zu ewigem Stillschweigen, ließ also die Angelegenheit unentschieden oder vertagte das wirkliche Urteil. Wenige Jahre später, 1520, erfolgte ein solches und zwar, wie damals kaum einer erwartete, heute die meisten schwer begreiflich finden werden, in einein Reuchlin ungünstigen Sinne (20. Juni 1520)). In dieser Entscheidung wurde die Speyerer Sentenz für ungültig erklärt, der „Augenspiegel“ als ein ärgerliches, frommen Christen anstößiges, den Juden unerlaubt günstiges Buch verdammt, Reuchlin zu ewigem Stillschweigen und zur Zahlung der gesamten Kosten des Prozesses verurteilt. Von diesem Urteil wurde freilich so wenig Aufhebens gemacht, daß es erst mehr als 3½ Jahrhunderte später allgemeiner bekannt geworden ist.
Man wird es zunächst schwer begreiflich finden, daß ein Papst, wie Leo X., ein gelehrter Mann, der eine hebräische Druckerei in Rom errichtete und eine Professur des Hebräischen dort begründete, der die Widmung von Reuchlins „de arte cabbalistica“ angenommen hatte und der als großer Gönner der Gelehrten, selbst der am freiesten denkenden galt, der auch im vertrauten Kreise manch freies Wort über das Christentum sprach und jedenfalls gern anhörte, zu einer solch schweren Verurteilung sich hinreißen ließ.
Um dies verständlich zu machen, muß man die Unentschiedenheit des Papstes, seine Schwäche den starken Einflüsterungen der pfäffisch Gesinnten gegenüber erwägen und ferner die Zeitverhältnisse bedenken. Damals war Luther aufgetreten und die schlimmste Gefahr bedrohte den päpstlichen Stuhl und die katholische Kirche. Auch Luther hatte, wie so viele, Reuchlin gehuldigt; aus Reuchlins Anhängern rekrutierte sich die Schar der begeisterten Jünger Luthers; den Gegnern beider war es leicht, den ängstlichen Papst zu überzeugen, daß diese beiden Angelegenheiten, die im Grunde gar nichts miteinander zu tun hatten, eng verflochten, daß die Reformation nur eine Tochter des Humanismus, daß Luthers Schriften und Taten nur eine Folge der Reuchlinschen Bemühungen seien.
Was aber wollte die päpstliche Entscheidung besagen? Im Grunde bedeutete sie nur für den alten Gelehrten einen pekuniären Verlust, denn in Deutschland war der Streit durchaus für ihn entschieden. Die öffentliche Meinung hatte sich von 1514 an so durchaus für ihn erklärt, daß er als Sieger allgemein gefeiert und auch nach der päpstlichen Entscheidung als solcher erklärt ward. Wie in den Dunkelmänner-Briefen mit meisterhafter Satire die Antireuchlinisten als Unwissende, ungesittete Gesellen verhöhnt, die Reuchlinisten dagegen als die freien Vertreter fröhlicher Wissenschaft gefeiert wurden, so ertönten Jubellieder in ganz Deutschland. In feurigen Reden eines Ritters, wie Hermann von Neuenahr, in begeisterten Gedichten eines Herman Busch und Coban Hesse, in witzigen Schriften des wackeren Willibald Pirckheimer, in lebhaften, glanzvollen Dialogen Ulrichs von Hutten wurde Reuchlin als der unbewegliche Geistesheld und die von ihm vertretene Sache als die der Freiheit, der Wissenschaft und des wahren Glaubens gefeiert. Kurze Zeit, bevor die päpstliche Entscheidung erging, war eine große Zeichnung mit begleitenden Versen erschienen, die den „Triumph Reuchlins“ (triumphus Capnionis) verherrlichte. Hier war dargestellt, wie völlig die Gegner besiegt waren. In dem festlichen Zuge, der nach antiker Weise den Triumph verherrlichte, wurden die Waffen und die Götzen der überwundenen vorangetragen, z. B. die vier Ungetüme, Aberglaube, Barbarei, Unwissenheit und Neid. Daraus folgten in Ketten die besiegten Feinde: Hochstraaten, der Feuermann, der Feuer frisst, Feuer speit, der trunkene, neidische Ortuin, der ehrfürchtige, scheinheilige Arnold von Tungern, der Judas Pfefferkorn. Nach Opferstieren, Musikern und Sängern folgte auf einem mit Blumen gezierten Wagen die ehrwürdige Gestalt des Triumphators selbst, die grauen Schläfen mit Lorbeer und Efeu umwunden, den „Augenspiegel“ in der rechten und einen Ölzweig in der linken Hand; zum Beschluss die Schar der Gelehrten und Poeten, die gleich dem Triumphierenden, ja durch ihn von dem Untergang befreit waren, der ihnen von den Dunkelmännern zugedacht war.
Nur einer triumphierte nicht, nämlich Reuchlin selbst. Freilich, er nahm seine Ansichten nicht zurück. Ja er hörte so wenig auf, die geliebte hebräische Sprache zu pflegen, daß er noch nach dieser Entscheidung einem Rufe folgte, an der Universität Ingolstadt zu lehren. Aber ein öffentliches Auftreten vermied er, und wenn er sich auch nicht geradezu dem Papste und dessen Entscheidung unterwarf, so erklärte er in einem, freilich nicht erhaltenen, aber durch ein vollgültiges Zeugnis als echt erwiesenen Briefe, den er an die bayerischen Fürsten richtete, daß er Luthers Werk missbillige und in der alten Kirche lebe und sterbe. Er mußte sich deswegen eine herbe Abfertigung Huttens gefallen lassen, der früher so mutig und entschieden für ihn eingetreten war. Der ehemalige Kampfgenosse wies den Meister daraus hin, daß er einen solchen Versuch, sich von Rom zu befreien, missbillige und es für unehrenhaft halte, „daß Du eine Partei bekämpfst, der, wie Du siehst, diejenigen angehören, deren Gesinnungsgenosse Du in jeder ehrenhaften Sache sein solltest“.
So endete der Reuchlinsche Streit. Mit einer faktischen Verurteilung dessen, der für die jüdische Literatur eingetreten war und doch mit einem Siege dieser Literatur und im Zusammenhange damit einem Siege der Freiheit der Wissenschaft. Denn unmittelbar nach jenem verhängnisvollen Jahre wurden an deutschen Universitäten Lehrstühle für das Hebräische errichtet; gar manche Druckerei sorgte dafür, daß hebräische Texte gedruckt, Lehrbücher über die hebräische Sprache veröffentlicht wurden. Kein Mensch dachte daran, die Publikation solcher Erscheinungen zu hindern, und noch weniger daran, die Bücher der Juden fortzunehmen oder zu vernichten.
Eine unmittelbare Wirkung auf die Juden übte Reuchlin nicht. Nimmt man die Unterstützung jenes jüdischen Leibarztes des Papstes aus, die früher angedeutet wurde, so kann man auch von einer Beteiligung irgendeines Juden bei der ihnen drohenden Gefahr kaum sprechen. Ja noch mehr, auch in den jüdischen Schriften des 16. Jahrhunderts wird der ganzen Sache keine Erwähnung getan, das historische Werk Zemach David von David Gans, Prag 1592, weiß von der Reuchlinschen Sache nicht das geringste, nur in einem philosophischen Werke „Buch des Lebens“ des Friedberger Rabbiners Chajim ben Bezalel, Krakau 1593, kommt eine kurze Erwähnung des Reuchlin-Pfefferkornschen Streites vor, ohne daß freilich der Name der Beteiligten erwähnt wird. Von Reuchlin heißt es: „da erweckte Gott den Geist eines weisen Christen, der vor Fürsten und Völker hintrat und Achtung vor dem Talmud lehrte“. Und nachdem der Inhalt seines Gutachtens mit ein paar nichtssagenden Phrasen angedeutet worden, fährt der Verfasser sort: „die Verteidigungsrede dieses weisen Christen gefiel dem Könige und den Fürsten, die Verleumder aber gingen beschämt davon“.
Aber auch das Wesen seines Studiums und seines Kampfes wurde zunächst nicht fortgesetzt. Die Juden arm, bedrückt, dem Kampf um die tägliche Notdurft preisgegeben, standen damals zu sehr außerhalb der geistigen Bewegung, als daß sie diese mit ihrer Kenntnis hätten fördern sollen. Die gelehrten christlichen Hebraisten jener Zeit aber glaubten genug zu tun, wenn sie die Kenntnis der Sprache förderten, vermochten es aber nicht, das Problem des Zusammenhanges zwischen Judentum und Christentum zu verfolgen, ja rührten überhaupt kaum daran, begnügten sich höchstens damit, in dem Christentum nicht etwa die Schülerin, sondern die Erfüllung des Judentums zu sehen. Und jetzt? Wir verlangen gewiß keinen neuen Pfefferkorn, um so weniger als es an Überläufern und geborenen Christen nicht fehlt, die, wenn es anginge, sein Werk fortsetzen möchten, aber ein Reuchlin unter den Christen täte not, der mit ebenso eindringender Kenntnis wie hingebender Liebe sich in die jüdische Literatur zu versenken, ihren weltgeschichtlichen Einfluß zu verfolgen wüsste.
An Lob und Ruhm hat es Reuchlin auch nach seinem Tode nicht gefehlt. Es gibt ein wenig bekanntes Gedicht Goethes, in dem sich dieser mit dem berühmten Gelehrten vergleicht und sich wünscht, daß auch für ihn Helfer erstehen, gleich Hutten und Sickingen, die ihn schützen mögen „gegen die obskuren Kutten, die mir zu schaden sich verquälen“, ein Gedicht, das mit den Versen beginnt:
Reuchlin, wer will sich Dir vergleichen,
Zu seiner Zeit ein Wunderzeichen.
Drei Jahrhunderte vorher wurde eine noch entschiedenere Verherrlichung Reuchlins geschrieben und bald nachher veröffentlicht. Sie rührt von Desiderius Erasmus, dem großen Zeitgenossen Reuchlins, her, der sich trotz aller seiner sonstigen Zurückhaltung zu dem Angegriffenen gesellt und mutige Worte an dessen Gegner gerichtet hatte. Nun, nach dein Tode des Verehrten veröffentlichte er eine „Apotheose Reuchlins“, eine Vision, die ein Franziskaner in der Todesstunde des Gefeierten gehabt haben soll:
Jenseits einer Brücke, die über einen Bach führte, erblickte der Seher eine herrliche Wiese. Auf die Brücke zu schritt Reuchlin in weißem Gewande, hinter ihm ein schöner Flügelknabe, sein guter Genius. Große schwarze Vögel verfolgten ihn mit Geschrei, er aber wandte sich nm und verjagte sie. An der Brücke empfing ihn der heilige Hieronymus und begrüßte ihn als Kollegen der Sprachgelehrsamkeit. Die Wiese und die Lust war mit Engeln angefüllt; auf einem Hügel, der sich ans der Wiese erhob, erhob sich vorn offenen Himmel eine Feuersäule nieder, in dieser stiegen die beiden Seligen, sich umarmend, unter denk Gesang der Engelchöre empor.
Zum Range eines Engels und eines Heiligen erheben wir keinen Menschen. Aber wir preisen Reuchlin, weil er sein Lebenlang der Wahrheit diente und preisen ihn doppelt, weil dieser Dienst auch für uns Juden ein heilbringender und segenspendender war. Wäre er ein Kämpfer gewesen, der den Streit, wenn auch zunächst wegen des Zieles, doch auch um des Ringens selbst willen liebte, so hätte er wie sein Gesinnungs- und Zeitgenosse Hutten sagen können: „Die Wahrheit muß herfür“. Wäre er geschwellt gewesen von dein Selbstbewusstsein, das mancher besitzt, der etwas gewirkt hat, so hätte er als Wahlspruch das von Rousseau angewendete Wort genommen: „Das Leben für die Wahrheit verwenden vitam impendere vero“. Er aber war nur ein stiller Forscher, ein eifriger Gelehrter, der den Kampf nur aufnahm, wenn er ihm aufgenötigt wurde und der nur selten ein Wort des Selbstlobes für sich fand. Und darum sprach er das rührende Wort: „Ich verehre den heiligen Hieronymus, ich gebe dem Nicolaus de Lyra die Ehre, die ihm gebührt, sed veritatem colo ut deum, aber nur die Wahrheit bete ich an als Gott.“
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Deutsche Literatur und die Juden
Johann Reuchlin (1455-1522), deutscher Philosoph, Humanist und bedeutenster deutscher Hebraist
Ulrich von Hutten (1488-1523), deutscher Humanist
Erasmus von Rotterdam
Picco della Mirandola (1463-1494), italienischer Humanist und Philosoph
alle Kapitel sehen