Gabriel Rießer

Gabriel Rießer

(Vortrag, gehalten 3. April 1906)


Wir sind zusammengekommen, um Gabriel Rießers Andenken zu erneuern. Bei einer solchen Feier hat man das Recht und die Pflicht, sich zwei Fragen vorzulegen.

1. Ist es angebracht, eines Toten zu gedenken? Der Zeitungsleser und der moderne Mensch ist von Jubiläen förmlich übersättigt: da wird einer gefeiert, der 40 Jahre in derselben Wohnung gewohnt hat, oder sechs Dezennien auf dieselbe Zeitung abonniert war, und gar mancher Gedenktag wird hervorgehoben, ohne daß der Träger jemals aus seiner Dunkelheit hervorgetreten wäre.

Bei Gabriel Rießer ist es etwas anderes. Allerorten regt man sich, um ihn zu feiern, und wir dürfen wirklich auf ihn das Wort unserer Weisen anwenden: „Männer von Verdienst heißen gerade dann lebendig, wenn sie irdisch tot sind.“

2. Hat man das Recht, Rießer zu feiern, dessen Lebenszweck, den Juden in Deutschland die volle Gleichstellung zu verschaffen und das ungeschmälerte Bürgerrecht zu erringen, nicht erreicht worden ist? Auch diese Frage dürfen wir bejahen. Das oft gebrauchte Wort: „der Erfolg lehrt“, ist grausam und ungerecht. Denn der Erfolg ist etwas Blindes, das oft den Strebern und Ruhmes Unwürdigen zuteil wird; in Dingen des Geistes genügt das Streben und die Tat: magna voluisse sat est.

Gabriel Rießer ist am 2. April 1806 zu Hamburg geboren und in seiner Vaterstadt am 22. April 1863 gestorben. Er stammte aus einem angesehenen Hause. Sein Großvater Raffael Cohen, Rabbiner zu Altona (1723-1803), war ein gelehrter, eifervoller Mann, der Mendelssohns Pentateuch Übersetzung mit dem Banne belegt hatte, sein Vater Lazarus Jakob, aus Rieß stammend, daher Rießer genannt, Sohn eines frommen und gelehrten Rabbiners, wurde durch Heirat mit Fanny (Frommet) Cohen nach Altona verpflanzt, wurde dort Sekretär des jüdischen Gerichts, wandte sich aber, als sein Schwiegervater sein Amt ausgab, den Geschäften zu und lebte bald in Hamburg bald in Lübeck.

Gabriel war das jüngste der fünf Kinder. Ein herzliches Einvernehmen herrschte unter den Geschwistern und im Leben der Kinder mit den Eltern. Heitere Geselligkeit wechselte mit ernsten Studien ab. Besonders innig gestaltete sich das Verhältnis zum Vater, der, selbst ein gebildeter Mann, von Verständnis in politischen Angelegenheiten der Zeit, selbst gelegentlich als Schriftsteller auftrat, auch mit der deutschen Literatur vertraut, seinen Sohn auch, soweit er es verstand, mit den jüdischen Quellen bekannt machte. Gabriel besuchte nach dem Abschluß der Schule, 1824, die Universität Kiel, 1825 Heidelberg, wo er ein eifriger Schüler der großen dortigen Juristen wurde, die Natur genoss, Lebensfreundschaften schloß. Nach dem frühen Tode des Vaters, 9. März 1828, versuchte Gabriel mehrmals in dem ihm liebgewordenen Heidelberg, dann auch in Jena, Advokat zu werden, kehrte aber nach Hamburg zurück, nachdem jene Versuche missglückt waren.

Von Rießer zwar kann man das Wort nicht brauchen, das eine noch lebende nordische Schriftstellerin einmal gesagt hat: „Wir hoch oben reisen langsam“, aber auf Hamburg, namentlich in seinem Verhältnis zu den Juden, passt es sehr. Was eine jüdische Memoirenschreiberin an der Wende des 17. und 18. Jahrhunderts, Glückel von Hameln, einmal gesagt hat, nachdem sie auseinandergesetzt, daß die Hamburger Judenfeinde seien: „Ich fürchte, daß es immer so bleiben wird, solange die Bürger in Hamburg regieren“, das schien sich bis in das aufgeklärte 19. Jahrhundert hinein zu bewähren. Denn gerade in dieser „freien Stadt“ wurden Hepp-Hepp-Rufe laut, heftige Ausschreitungen wider die Juden fanden statt, so daß Michael Beer, der erste deutsche Dichter jüdischen Glaubens, mit bitterer Ironie schreiben konnte: „In Hamburg tanzt der Stock der deutschen Freiheit auf dem breiten Rücken der oft geprügelten Juden.“ Auch Rießer mußte in seiner Vaterstadt unter der Ungunst der Verhältnisse leiden. Er wollte nicht, wie der Vater gewünscht hatte, Notar am jüdischen Gerichte oder stillschweigend geduldeter, aber nicht gesetzlich anerkannter Mitarbeiter eines christlichen Anwalts werden, sondern bewarb sich um Zulassung zur selbständigen Ausübung der Advokatur, wurde aber am 23. Oktober 1829 abgewiesen.

Diese persönliche Kränkung wurde der erste Anlaß zu Rießers Schriftstellerei, zu der Tätigkeit, die sein Leben erfüllte. Die Erinnerung an seinen Vater trat hinzu, das Freiheitsgefühl, das mit der französischen Revolution 1830 seinen Einzug auch in Deutschland hielt, drängte entscheidend zur Aussprache. Persönliches und Allgemeines wirkten zusammen; er selbst brauchte einmal darüber das Wort: „Wer mit dem deutlichsten Bewußtsein an eine gute Sache sein Leben setzt, ist der darum zu tadeln, weil er mit der guten Sache sein Leben zugleich verteidigte“

Wie ein Biograph von Ulrich v. Hutten einmal gesagt hat: „Die Hebamme seines Geistes war der Zorn“, so dürfen wir auch von Rießer sprechen. Es ist keine willkürliche Annäherung dieser beiden Männer, Rießer selbst ahnte die Verwandtschaft, wie er in einer seiner ersten Schriften sagte: „Es ist die Sprache Luthers und Ulrich Huttens, mit deren mächtigen Tönen wir deutsche Herzen für unsere gute Sache zu gewinnen streben müssen.“ Und in der ganzen Art der Schriftstellerei haben beide vielfache Verwandtschaft. Persönliche Erlebnisse drängten beide zum Streit. Sie verfassten keine dickleibigen Bücher, sondern Hefte, fliegende Blätter, die im Augenblick wirken sollten; das Polemische machte sich bei beiden stark geltend; das flammende deutsche Bewußtsein, die Überzeugung von und das Verlangen nach Deutschlands Einheit und Größe, beseelte beide. Sie fühlen, wie sie sich durch ihre Kämpfe, die ihnen durch die Verhältnisse aufgedrungen werden, von den Ihrigen trennen, aber „der Würfel ist gefallen“, sie müssen es wagen, und auch die „Tränen ihrer frommen Mutter“ kann sie nicht hindern. Beide sind sich auch ähnlich darin, daß sie unvermählt durchs Leben gingen, in verhältnismäßig jungen Jahren starben und eines, doch nur halben Erfolges, sich erfreuen konnten. Aber der große Unterschied herrscht zwischen beiden: Hutten schleppte sich jahrelang hin mit einer Krankheit, die er sich durch eigene Schuld zugezogen, Gabriel Rießer war ein sittlich reiner Mensch, der diese Reinheit sich bis zum Ende wahrte.

Die erste Schrift erschien 1831, sie führte den Titel: „Über die Stellung der Bekenner des mosaischen Glaubens in Deutschland. An die Deutschen aller Konfessionen.“ Altona 1831.

Sie führte aus, daß die Juden allzeit Prügelknaben gewesen seien. Im Mittelalter infolge der Stärke des Glaubens und der Gewinnsucht, in der späteren Zeit hätte die religiöse und politische Schlaffheit die Juden von den bürgerlichen Rechten ausgeschlossen und dadurch viele veranlaßt, den Glauben zu wechseln. manche hätten diesen Übertritt aus Überzeugung vollzogen, viele, weil sie sich eingeredet, es herrsche ja doch in allen Religionen dasselbe Moralprinzip, die meisten aus Bequemlichkeit oder aus Lust, schneller vorwärts zu kommen. Dagegen erhebt sich der Schriftsteller mit aller Schärfe: „Wir haben nichts an der Religion unserer Väter zu rächen, wir haben nur Ursache, sie zu lieben. Wir sehen in ihr nichts als die frühesten Entwicklungskeime des Mosaismus gereiht an das Höchste, was die Menschheit unserer Tage zu fassen vermag . . . wir können darin nicht irren, daß nur Glaube und Überzeugung, nicht schnöde Rücksicht auf äußeren Vorteil, nicht ein feiges Weichen vor sinnloser Gewalt diese Fragen entscheiden müsse . . . Wir verachten den Jesuitismus der Aufklärung, der den Glauben wie das Gewand wechselt, der dem Lama oder Fetisch wie Mohammed oder Christus, der diesen die Lehre der katholischen Kirche, Luthers oder Calvins anzubeten bereit macht, je nachdem es die Umstände mit sich bringen.“

Wie gegen den Übertritt wendet er sich gegen die bequeme Art, wenigstens den Kindern die Vorteile der herrschenden Religion zukommen zu lassen. Denn außer der Beschneidung, „die dem Gewissen vieler von uns sehr entbehrlich scheint, hat aller Zwang ein Ende. Ihr könnt mit unbeschränkter Freiheit eure Kinder im Geiste eurer Gottesverehrung erziehen, ihr dürft jeden fremden Einfluß, der die reine, menschliche Entwicklung der kindlichen Gemüter stören könnte, abwenden; ihr braucht sie keinem Priester in die Hände zu liefern, daß er sie seinen Glauben bekennen, daß er sie seinen Gott anbeten lehre.“

Um die Rechte der Juden zu erkämpfen, forderte er zu Vereinen auf, deren Mitglieder sich verpflichten sollten, ihren Glauben nicht zu ändern. Er bekämpft die Meinung, als sei ein Streit zugunsten der Juden nicht eine allgemein menschliche Sache. Er wendet sich gegen die Meinung, man könne es der Zeit überlassen und bedürfe des Kampfes nicht. Vielmehr seien jetzt gerade die Zeitumstände besonders günstig. Die Vereine, zu deren Bildung er aufruft, hätten eine dreifache Aufgabe:

1. sie müßten sich in jedem deutschen Staate an die Regierung wenden,

2. mit besonderer Entschiedenheit in solchen, in denen ein Parlament eingeführt sei,

3. an den Deutschen Bund zur Erfüllung des in der Bundesakte gegebenen Versprechens, die jüdischen Verhältnisse zu regeln.

Die Schwierigkeiten seien groß, schon aber sei in Deutschland der Weg zur Freiheit erwacht; von vielen werde es als Pflicht anerkannt, gerade die Schwächeren zu unterstützen; trotz des noch vielfach herrschenden Neides und der sogenannten nationalen Antipathie werde das Gute durchdringen.

„Aber nach jenem Ziele bürgerlicher Freiheit müssen auch alle, die sie schmerzlich vermissen, müssen wir Jüngere, insbesondere die Söhne eines Jahrhunderts, dessen Atem die Freiheit ist, unablässig streben durch Wort und Tat. Ihm muß alle Kraft, die uns gegeben, alles Wissen, das wir erworben, alle Anstrengung, deren wir fähig sind, zugewendet sein; alle Achtung, selbst die wir errungen, alle Liebe, die wir gewonnen haben, müssen wir für diesen Zweck in Anspruch nehmen. Zurückhaltung geziemt uns wie jedem, wo es das Geltendmachen unserer Persönlichkeit, aber Kühnheit und trotziger Mut, wo es die gemeinsame Sache unserer Glaubensbrüder gilt. Es gilt hier nicht Rechte allein, es gilt auch die Achtung aller Edleren zu gewinkten. Denn man kann wohl den einzelnen Unterdrückten achten, aber niemals den, der sich der Unterdrückung feig und willig schmiegt. Wir, die wir wärmer für Freiheit und gesetzliche Gleichheit fühlen, die wir die fehlende schmerzlicher vermissen, wir wollen die nicht gering schätzen, die die langjährige Gewohnheit für jenen Schmerz abgestumpft hat, die sich durch den Besitz äußerer Güter darüber trösten, oder bei denen die herbe Not des Tages keinen freien Gedanken Raum läßt, aber ebensowenig wollen wir durch ihre Kälte uns in unserm Eifer irre machen lassen.“

Die Schrift erregte an vielen erteil große Begeisterung, aber sie rief auch einzelne Gegenschriften hervor. Gegen die des Kirchenrats Paulus schrieb Rießer eine Antwort, „Verteidigung der bürgerlichen Gleichstellung .... Den gesetzgebenden Versammlungen Deutschlands gewidmet“. Er bemühte sich darin, das Märchen zu zerstören, daß die Christen wirklich von Juden regiert würden, hob mit Entschiedenheit hervor, daß es keine besondere jüdische Nationalität gäbe, und leugnet zugleich energisch, daß Aufklärung der Juden mit ihrer Gleichstellung irgend etwas zu tun habe.

Solche Gedanken verkündete Rießer mit großer Entschiedenheit in immer neuen Variationen in seiner Zeitschrift „Der Jude“, von der 26 Nummern erschienen. Er hatte absichtlich den Namen Jude gewählt, um den Schimpf- zu einem Ehrennamen zu machen. „Wenn ein ungerechter Haß an unserem Namen haftet, sollen wir ihn dann verleugnen, anstatt alle unsere Kraft daran zu setzen, ihn zu Ehren zu bringen? Wir lachen über die kindische Sitte unserer Vorfahren, dem gefährlich Erkrankten seinen Namen zu ändern, als würde ihn dann der Todesengel nicht wieder auszufinden wissen. Sind wir nicht ebenso töricht mit unseren modernen umschreibenden Bezeichnungen? Glaubet mir, der Haß weiß seinen Mann zu finden, so gut wie der Todesengel und so lange er ihn sucht, wird er ihn durch tausend begütigende Namen hindurch erkennen.“

Den wesentlichen Inhalt der kühnen Zeitschrift bildeten kritische Beleuchtungen der Verhandlungen einzelner Staaten: Baden, Bayern, Hannover, Kurhessen, über jüdische Angelegenheiten. Diese Aufsätze hatten die dreifache Wirkung: die Radikalen zu stärken, die zahmen Liberalen zu mahnen und die Juden zu veranlassen, durch Eingaben und Beschwerden ihre Sache zu führen.

Der Zorn des Schriftstellers wurde größer, sobald er sich dem größten deutschen Staate, Preußen, zuwendete. Dort lagen die Verhältnisse wesentlich anders als in den kleinen Staaten. Zunächst war die Zahl der Juden eine bedeutend größere, zweitens handelte es sich nicht um die Einwirkung auf eine Ständeversammlung, in der das liberale Element stark vertreten, auf die daher ein Einfluß leichter zu gewinnen war, sondern nur den Kampf gegen eine Regierung, die, in alten Anschauungen befangen, eifersüchtig auf ihre Rechte, unzugänglich dem freien Luftzug der Zeit, gerade infolge der französischen Revolution bestrebt war, jede liberale Forderung als revolutionär zu verwerfen. Drittens der Kampf richtete sich gegen den Bruch eines Versprechens, gegen die Verletzung des Ediktes von 1812, das mit Jubel begrüßt worden war, weil es eine frohe Zukunft verheißen hatte.

Dreimal hatte sich Rießer mit preußischen Verhältnissen zu beschäftigen: 1833, 1842, 1861.

Die beiden ersten Male gab ein in Aussicht stehendes neues Judengesetz die Veranlassung zum Schreiben. 1833 war die Gefahr vorhanden, daß man Staatsbürger und Schutzjuden unterscheiden und den letzteren Beschränkungen bei Verheiratung, Wohnsitz und Gewerbe auferlegen wolle. Gegen den Verteidiger, den geistigen Vater dieses Planes, Streckfuß, richtete Rießer ausführliche Darlegungen, die fast den ganzen zweiten Band seiner Zeitschrift „Der Jude“ füllten.

Gegen denselben, der 1842 als der Urheber eines Gesetzentwurfs galt, in dem die Nationalität der Juden besonders betont werden solle, richtete Rießer neue Schriften 1842 und 1844. In der ersteren heißt es: „Nur eine Verirrung aller Begriffe, ein Verkennen aller Tatsachen, ein Missbrauch aller Worte kann dazu führen, eine Gemeinschaft, die allein durch das religiöse geistige Band da ist und erhalten wird, für eine nationale zu erklären . . . selbst wenn es Vorteile wären, die man einem falschen Prinzip gewähren will, so würden wir sie zurückweisen, ebenso wohl wie wir die Bedrückungen und Gehässigkeiten zurückgewiesen haben, die dem Boden desselben Prinzips entsprossten. Wir wollen und können unser Streben nicht wechseln nach der Mode des Tages, nach den Launen der Herrscher des Augenblicks. — Die Selbständigkeit einer religiösen Überzeugung, die unerschütterliche Festigkeit eines Grundsatzes der Wahrhaftigkeit und der Treue, die wir zu allen Zeiten gegen Haß und Druck und Verfolgung behauptet haben, werden wir zu behaupten fortfahren, aber ein politisches Band, das seit Jahrhunderten zerrissen ist, werden wir uns ebensowenig von einer freundlichen Absicht aufdringen, wie von einer böswilligen andichten lassen.“

In seiner letzten, aus preußische Verhältnisse bezüglichen Schrift, „Die Judenfrage noch einmal vor beiden Häusern des Landtags“, wagte er den Junkern darzulegen, daß die Juden bessere Preußen seien als sie: „Ein Jude, der beharrlich bei einer Form der religiösen Empfindung, in welcher das Göttliche zuerst in seinem jugendlichen Herzen Leben gewonnen hat, das ehrliche Bestreben hat, aller Befangenheit Herr zu werden, die den Menschen vom Menschen, den Bürger vom Bürger trennt, — ein preußischer Jude, den der Gedanke durchdringt und erhebt, daß es eben die große geschichtliche Entwicklung, daß es der glorreichste Aufschwung seines Landes ist, der auch dem bedrücktesten Teile seiner Bevölkerung, das Recht des Menschen und die Ehre des Bürgers verliehen hat, — ein solcher Jude ist tausendmal inniger verwachsen mit der ruhmreichen Geschichte Preußens, mit der Gegenwart und Zukunft, ja selbst mit den edelsten Momenten der Vergangenheit seines Volkes, als eine Schar von Junkern, die es immer noch nicht vergessen können, daß die jenem großartigen Aufschwunge entsprossene Gesetzgebung sie um veraltete Privilegien gebracht hat, die den Kampf wider die volkstümliche Entwicklung und den naturgemäßen Fortschritt ihres Landes, wider die Kraft und Geltung seiner Verfassung, der Grundlage seiner Rechte, zur Lebensaufgabe gemacht haben.“

Der Mann, der solches schrieb, war als erster Jude Oberrichter in Hamburg geworden.

Sein Leben hatte sich so entwickelt. Nachdem er eine zeitlang Redakteur gewesen, 1833 wiederum, und zwar aufs neue, vergeblich versucht hatte, in Hamburg Advokat zu werden, war er 1836 nach Bockenheim übergesiedelt. Seine Hoffnung, in Kurhessen Bürger zu werden, schlug fehl, aber sein Aufenthalt in dem kleinen, Frankfurt ganz nahe gelegenen Städtchen brachte ihm einen innigen Gemütsanschluss an seine Frankfurter Verwandten, vielfache Ehrungen durch die Juden allerorten, die in ihm ihren mutigsten und glücklichsten Verteidiger sahen. Er trennte sich ungern von der ihm liebgewordenen Umgebung, folgte aber dem Rufe, der nach dem Tode des jüdischen Notars Bresselau in Hamburg an ihn erging. Fast 20 Jahre, während deren er 1849 infolge der zu Hamburg durchgeführten Gleichstellung der Juden Bürger geworden war, behielt er dieses Amt, 1857 legte er es nieder, 1859 wurde er Mitglied der Bürgerschaft in Hamburg, 1860 Mitglied des Obergerichts, der erste Richter jüdischer Religion in Deutschland.

In der großen Bewegung des Jahres 1848 trat Rießer in den Vordergrund. Das konnte er zwar nicht durchsetzen, von seiner Vaterstadt ins Parlament geschickt zu werden, die Stimmen eines anderen Wahlkreises jedoch machten ihn zum Mitgliede des Parlaments, er spielte darin eine bedeutende Rolle. Er war schon Mitglied des Vorparlaments gewesen und wurde ein tonangebender Mann der deutschen Nationalversammlung. Sein erstes Auftreten geschah für die Juden. Am 29. August 1848 wurde § 13 der deutschen Grundrechte beraten. Er sollte lauten: „Durch das religiöse Bekenntnis wird der Genuß der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte weder bedingt noch beschränkt. Den staatsbürgerlichen Rechten darf dasselbe keinen Abbruch tun“. Dazu stellte Moritz Mohl ein Amendement, das zwar den Juden das aktive und passive Wahlrecht gewährleistete, aber besagte: „Die eigentümlichen Verhältnisse des israelitischen Volksstammes sind Gegenstand besonderer Gesetzgebung und können vom Reiche geordnet werden.“ Der Antragsteller hatte seinen Zusatz durch den Hinweis auf den Wucher und dessen verderbliche Folgen gestützt. Rießer wehrte zunächst mit einer ironischen Bemerkung darüber, daß man den nicht Deutsch redenden Volksstämmen Gleichberechtigung zugebilligt habe, das Märchen von einem besonderen Volksstamme der Juden ab, zeigte sodann, wie alle Zeit die gegen Juden beschlossenen, beschränkenden Maßregeln auf die Christen die übelste Wirkung geübt hätten, wies ferner darauf hin, daß durch solche Ausnahmegesetze die deutsche Nationalversammlung sich in Gegensatz zu den größten deutscheu Staaten, z. B. Preußen setzen würde, und schloß mit den stammenden Worten: „Die Juden werden immer begeistertere und patriotischere Anhänger Deutschlands unter einem gerechten Gesetze werden. Sie werden mit und unter den Deutschen Deutsche werden. Vertrauen Sie der Macht des Rechts, der Macht des einheitlichen Gesetzes und dem großen Schicksale Deutschlands. Glauben Sie nicht, daß sich Ausnahmegesetze machen lassen, ohne daß das ganze System der Freiheit einen verderblichen Riss erhalte, ohne daß der Keim des Verderbens in dasselbe gelegt würden“

Im allgemeinen gehörte Rießer zu den Gemäßigten. Er schloß sich der Gruppe an, die gesetzliche Ordnung, mäßige (nicht revolutionäre) Freiheit wünschte. Er war Mitglied des Verfassungsausschusses und dessen Berichterstatter. Am 2. Oktober wurde er mit großer Majorität zum 2. Vizepräsidenten gewählt, am 2. November wurde diese Wahl wiederholt; nachdem Gagern und Simson nach Berlin gesendet worden waren, hatte er die Verhandlungen zu leiten. Namentlich in preußischen Dingen entfaltete er eine bemerkenswerte Tätigkeit: er verlangte mit Entschiedenheit, daß der König von Preußen aufgefordert werden solle, das unpopuläre Ministerium Brandenburg-Manteuffel zu entlassen, und doch gehörte er zu denen, die die Wahl des Königs von Preußen zum erblichen Kaiser von Deutschland verlangten und durchsetzten, er war ein Mitglied der Deputation, die nach Berlin ging, um dem König die Kaiserkrone anzubieten. Man weiß, wie unglücklich der Ausgang dieser Sendung war. Zwar ist das Wort von der „beschnittenen Krone“, das nach Varnhagens Bericht im Hinblick auf Rießer gesprochen sein soll, vom König nicht gesagt worden, aber der König lehnte die Krone ab. Der mutigere Teil der Deputierten erklärte, daß Annahme der Verfassung Grundlage für Angebot und Annahme der Kaiserwürde sei. Rießer und die Seinen begnügten sich mit der schwächlichen Erklärung, daß der König den Ruf der Nationalversammlung einer nochmaligen Prüfung unterziehen müsse.

Es hat dem wackeren Manne während seiner Tätigkeit in der gesetzgebenden Versammlung an Spott nicht gefehlt. Die Karikaturisten, die nichts schonten, stellten oft den stattlichen, zur Korpulenz neigenden mann mit etwas überreicher Körperfülle dar, und die Satiriker, darunter ein Dichter jüdischen Glaubens, verspotteten sein Reden und Tun. In Moritz Hartmanns „Reimchronik des Pfaffen Mauritius“ wird einmal ironisch gemeldet, daß Rießer nach Klubbeschluß den historischen Kuss zurückerstatten müsse, und ein anderes Mal heißt es:

Siehst du den Rießer dort, den braven?—
Ach, hier vergaß er, wie so schlecht
Das Leben schmecket ohne Recht,
Das Leben mit der Schmach des Sklaven.
Was er dereinst mit starkem Glauben
Für seine Juden wollt' im Streit —
Das will er, nun er's selbst hat, rauben
Dem Manne, den die Arbeit weiht.
O Mann, du rechnest wahrlich schlecht,
Gib acht, daß man nicht bald es spricht —
Man spricht es schon sogar — vom Knecht,
Vom Sklaven, der die Kette bricht.


Aber er fand auch mannigfache Anerkennung. Der Historiker des Parlaments, Heinrich Laube, verglich den Redner mit Daniel in der Löwengrube. Er fand etwas Priesterliches in ihm und berichtete, daß seine Schlussrede einen unverlöschbaren Eindruck gemacht hatte. „Viele und darunter die besten Männer einen dem Herabsteigenden entgegen, stürzten ihm in die Arme und herzten und drückten ihn.“ Denn also hatte er sein Programm des deutschen Volkstums und des duldenden Juden ausgesprochen: „Wir werden, wenn der Stein, den wir dem Gipfel nahe glaubten, sich abermals herabsenkt und mit Donnergepolter zu unseren Füßen niederfällt, wir werden ihn immer wieder heben und emporzusetzen suchen und in duldender Arbeit beharren, bis der erwachende Genius des Vaterlandes die Fesseln bricht und uns von der Qual vergeblicher Arbeit erlöst.“

Galt es in der ganzen bisherigen Tätigkeit Rießers, die Staaten, Herrscher oder Volksvertretungen für die Juden zu gewinnen, Protest einzulegen gegen jede Rechtsverkümmerung, so war die Aufmerksamkeit des kühnen, unermüdlichen Streiters auch auf die Literatur gerichtet und auf die Art und Weise, wie in ihr die Juden behandelt wurden.

Er stand auf der Wacht, bereit zur Abwehr und zum Angriff. Nicht als ob er jedes obskure Blättchen ansah und spähte, ob seinen Glaubensgenossen darin etwas am Zeuge gestickt würde, vielmehr wählte er sich solche Gegner, mit denen eine Lanze zu brechen sich lohnte, Männer, die in der öffentlichen Meinung etwas bedeuteten, nicht etwa Reaktionäre, bei denen Judenfeindschaft zum System gehörte, sondern gerade Liberale, die infolge ihres Freisinns berufen gewesen wären, mit den Juden zu empfinden und für sie aufzutreten.

Im vierten und letzten Band von Rießers Schriften sind die Arbeiten über Literatur und literarische Verhältnisse zusammengestellt. Merkwürdigerweise kommt der Name Goethes fast niemals vor. Die Schriftsteller, mit denen er sich am meisten beschäftigt, sind Lessing, Schiller, Börne, Heine. Außer den Genannten, auf die gleich einzugehen ist, rechnete er in seinen „Jüdischen Briefen zur Abwehr und Verständigung“ (zwei Hefte 1840 und 1842) energisch ab mit G. Pfitzer, W. Menzel, Gfrörer, Marggraf und Gutzkow, sprach mit geringer Sympathie von Rahel, dagegen meist zustimmend über Schriften von Michael Beer, Steinheim, Henriette Oppenheimer u. a.

Was Lessing ihm war, für dessen Denkmal er „die Israeliten Deutschlands“ zu gewinnen suchte, sagte er selbst in seiner kleinen, dem tapferen Manne gewidmeten Schrift. Er sah in ihm den Verteidiger von Menschenbildung, Menschenliebe, Aufklärung, Gewissensfreiheit, den Kämpfer gegen Unduldsamkeit, Religionshass und Geistesdruck; aus Lessings Klarheit und Ruhe schöpfte er Hoffnung für die Zukunft, aus seiner Freundschaft mit Mendelssohn die Gewißheit, daß Christen und Juden in gegenseitiger Achtung und Freundschaft das Leben durchwandern können.

Schiller wurde von ihm nicht für jüdische Kreise, sondern bei der allgemeinen Schillerfeier 1859 gewürdigt, als die Wogen der Schillerbegeisterung fast ebenso hoch gingen wie 1905. Er pries des edlen Dichters Volkstümlichkeit, Idealität, sein Ringen nach Freiheit im Leben und in der Dichtung, er hob das Geistige seiner Natur hervor und begrüßte begeistert die von jenem ausgesprochene Mahnung zur Einheit.

Mit Börne hatte sich Rießer 1832 zu beschäftigen. Sein Hamburger Landsmann, Eduard Meyer, war stark gegen Börnes Pariser Briefe aufgetreten. Rießer war mit den Briefen gleichfalls nicht völlig zufrieden: der Ton der Satire, die Verherrlichung der Revolution, die allzu große Schärfe, mit der deutsche Zustände behandelt wurden, waren ihm unangenehm. Trotzdem ist die kleine Schrift, die er damals schrieb, weniger ein Angriff gegen Börne, als eine Abwehr Meyers, besonders von dessen Behauptung, daß Börnes Gesinnung den Juden schuld gegeben werden müsse, und daß das Deutsche und Revolutionäre als ein eigentümlich Jüdisches zu bezeichnen sei.

Ist diese Abwehr anerkennenswert, so darf man freilich nicht leugnen, daß Rießer auch Börne gegenüber nicht ganz gerecht ist und daß er entweder nicht erkennt oder zu sagen sich scheut, wie günstig dieser aus dem Judentum ausgetretene Schriftsteller für die Sache der Juden gewirkt habe.

Börne hat auf das Pamphlet nicht geantwortet. In seinem Kampfe gegen Eduard Meyer brauchte er einen Verbündeten und hatte den Takt, einen halben Gesinnungsgenossen nicht bloßzustellen. Aber in der Fortsetzung seiner Pariser Briefe ging er auf Rießers Zeitschrift „Der Jude“ ein. Er tadelte an ihr, daß sie eben für Juden geschrieben sei, und meinte, daß man zugunsten der Juden nur dann wirken könne, wenn man zu Christen spräche. Dieser Tadel hat ein merkwürdiges Nachspiel, das ich nach den Akten des Börnearchivs in Frankfurt erzählen kann. Der wackere Bruder Rießers, ein Kaufmann, der sonst literarisch nicht hervortrat, Jakob Rießer, wandte sich aus Hamburg, 31. Januar 1834, an Börne mit einem ausführlichen Briefe. Er bewunderte seine letzten Schriften, bekämpfte aber seine Bemerkungen über Rießer. Er betonte, daß diese gerade bei den Christen ziemlichen Erfolg fänden. Er sandte ihm die letzten Arbeiten seines Bruders und verlangte von dem Adressaten, daß er sie lese. Zum Schluß wünschte er ihm, daß er „eine Revolution in Deutschland und ein glückliches Alter erlebe“. Diese beiden Wünsche sind ebensowenig in Erfüllung gegangen, wie die Bitte des Briefschreibers, eine Antwort zu erhalten. Gabriel Rießer seinerseits, der vermutlich über diesen Schritt seines Bruders unterrichtet war, trug dem Kämpfer für Recht und Freiheit seine heftigen Worte nicht nach. Er erbot sich vielmehr, wie man aus dem Briefe eines anderen Hamburgers 1836 ersehen kann, für die neue Zeitschrift „La Balance“ tätig zu sein und einen Berichterstatter in Hamburg für die neue Zeitschrift zu suchen. Wie sehr er aber Börne schätzte, bewies er dadurch, daß er für sein Andenken in den Kampf gegen Heine eintrat.

Denn diesem gegenüber fand Rießer fast nur Worte des Tadels. Ihm war, wie so vielen, die Heine als Dichter sehr hoch stellten, sein Mangel an Seelenadel und Gesinnungstüchtigkeit widrig und er durfte mit vielen Gleichdenkenden und Glaubensgenossen die Worte sprechen: „Die Juden aber haben Heine nicht anerkannt, sie haben sich nie anders als gleichgültig zu ihm verhalten, sie haben seine prosaischen und stilistischen Talente nie mehr als andere bewundert; sie haben für seine Gesinnung, für seine Spöttereien über jüdische und christliche Religionsvorstellungen nie Sympathie gehegt; sie haben ihn stets wie er sie verleugnet, wenn er ihnen ausgebürdet werden sollte. Nie hat sich ein Jude, der als solcher, der im Namen und Sinne seiner Glaubensgenossen über Heine redete, anders als zurückweisend, als jede Gemeinschaft ernst und offen ablehnend, über ihn geäußert.“

In sehr ausführlicher Weise wird Heines in den „Jüdischen Briefen“ gedacht. Hier tritt namentlich die Bemühung hervor, die Vorwürfe, die man etwa gegen Heine zu machen habe, nicht auf die Juden als solche zu übertragen. So wenig auch Rießer ein unbedingter Bewunderer des Schriftstellers Börne gewesen war, so war er doch über die Art, wie der Schriftsteller und Mensch in Heines Angriffsschrift 1840 behandelt wurde, so empört, daß er gegen die letztere in der „Hamburger Zeitung“ vorn 23. Juli 1841 eine öffentliche Erklärung drucken ließ. Darin wehrte er die schnöden Angriffe, die er geradezu als schändlich qualifizierte, ab, die Heine gegen Jeanette Wohl und ihren Gatten Strauß gewagt hatte, und bot sich an, den Kampf wider den Gegner persönlich aufzunehmen. Heine hat sich in seinen Briefen über diesen, wie er sagte, unbefugten Eindringling weidlich lustig gemacht, auch die neuesten Biographien Heines haben sein Eintreten als Donquichotterie zu bezeichnen versucht, man muß aber doch wohl in diesem ganzen Verfahren die ritterliche Art des kühnen Mannes anerkennen.

Rießer ist kein wahrhaft großer Schriftsteller. Es fehlt ihm die straffe Disposition, so daß es nicht leicht ist, sich durch seine größeren Arbeiten durchzufinden; es mangelt ihm auch an Kürze, sowohl an Kürze der einzelnen Sätze, als an knapper Zusammenfassung der Gedanken. Unendliche Wiederholungen, zahlreiche Abschweifungen stoßen den Leser vielfach ab. Diesen Mängeln stehen aber mannigfache Vorzüge gegenüber: die Klarheit, die wohltuende Sauberkeit des Ausdrucks, das Bemühen, die Sprache von überflüssigen Fremdwörtern zu befreien, die edle Popularität. Man merkt jedem Worte, das der Autor spricht, das völlige Erfülltsein von seinem Gegenstande an, man ist genötigt, die Unermüdlichkeit zu bewundern, mit der er immer wieder aus denselben Gegenstand zurückkommt. Man erfreut sich der reinen Idealität, die nicht nur den Jüngling, sondern auch den reifen Mann ziert.

Dieser Mann reichen Geistes war ein vortrefflicher Mensch, pietätvoll gegen seinen Vater, dem zuliebe er gern fromme Ausdrücke brauchte und dafür sorgte, daß jeden Sabbatmorgen ein Brief eintraf. Treu in seiner Freundschaft, sanft und mild im Verkehr. Kein Mann allgemeinster Bildung: der Sinn für Musik war ihm gänzlich verschlossen und seine Empfänglichkeit für bildende Kunst war nicht groß. Aber literarisch wohl unterrichtet, mit Aufmerksamkeit die Bewegung in seinem Vaterlande und im Auslande verfolgend. Heiterkeit war der Grundton seines Wesens und doch erkannte er, daß der Witz ihm fehle; „wäre ich witzig, so brauchte ich nicht halb so grob in meinen Schriften zu sein“, bekannte er selbst. Er, der unvermählt geblieben ist, war zeitlebens ritterlich gegen die Frauen; unter seinen Briefen sind gerade die an weibliche Korrespondenten gerichteten von besonderer Anmut. Er war äußerst wohltätig, oft über seine Kräfte und beklagte nur, daß ihm die Fähigkeit abginge, andere zum Geben zu bestimmen. Er bewahrte sich stets die Jugendlichkeit; das Wort, das er freilich als Dreißigjähriger einmal niederschrieb, „Ich muß lachen über das Gefühl des Altwerdens“, bekannte er noch als fünfzigjähriger als seine Überzeugung. Er selbst charakterisierte sich einmal mit dem Worte: "Naturen, wie die meinige, die mehr Sinn als Kraft, mehr allgemeine Empfänglichkeit als besondere Fähigkeit besitzen, die können starker Anregung nicht entbehren, um, auf einen bestimmten Punkt gedrängt, in diesem sich zu konzentrieren und produktiv zu werden.“ Gerade diese Art erwirkte in ihm das Verlangen nach Freundschaft und gab ihm die Befähigung, Freundschaft zu üben und zu wahren. Die besten Männer seiner Zeit rühmten sich, innig mit ihm verbunden zu sein, und brachten dies oft in rührender Weise zum Ausdruck.

Als er starb, schrieb Berthold Auerbach 24. April 1863: „Rießer tot! Ich sterbe hundertfältig, ich sterbe mit den Menschen gemeinsam; die mächtigen Schauer des Verschwindens, das Denken, wie sich die Lebenswelle im Stromlauf der dura necessitas wieder schließt, und alles ist vorbei — das alles mache ich so entsetzlich durch. Das Dasein geht in Trümmer und Ödigkeit über, bevor man aus demselben scheidet .... ich kann mir's gar nicht denken, daß Rießer tot sein soll, ich meine, er müsse plötzlich bei mir eintreten, wie er so oft getan. Wie viel lebte ich mit ihm in Frankfurt, und durch alle Zeit waren wir uns immer so nah und verstanden uns so vollauf . . . Nie habe ich einen Menschen gekannt, der gleichmäßiger human, gut und sein war und für alles Echte teilnehmend wie er . . . mir ist es eben, als ob ich seine Stimme hörte, ganz deutlich, ich könnte sie malen, wenn es Zeichen dafür gäbe.“

Das ist die Stimmung, in der wir Nachgeborenen Rießers gedenken sollen: „Uns ist eben, als ob wir seine Stimme hören.“ Die Feier für ihn sei keine Wallfahrt nach seinem Grabe, sondern eine Seelenfeier in des Wortes schöner Bedeutung. Wie in unseren Gotteshäusern nach der Vorführung von Bildern des Todes und nach pietätvoller Erinnerung an die Heimgegangenen die Seelenfeier mit dem Jubelgesange schließt: „Darum freuet sich mein Herz, ist fröhlich meine Seele“ und dem Anruf an Gott: „Du zeigst mir an den Pfad des Lebens“, so sammle sich auch unser Gedenken in einem freudigen Aufblick.

Unähnlich den Alten, welche in längst vergangene Zeiten die goldene Zeit verlegen, haben wir alle in einem Winkel unseres Herzens ein Stückchen Messiasglauben gerettet.

Die einen denken sich nach biblischer Vorstellung eine Epoche von Friede und Einheit, da der Wolf mit dem Lamme wohnen werde, alles Übel geschwunden sei und allein die Liebe herrsche; die anderen, in nationalem Wahne befangen, malen sich aus, wie ein kriegerischer Fürst erscheinen, alle Feinde mit Waffengewalt vertilgen und mit Blut und Morden die Einheit erzwingen werde; wir aber, der kindlichen Vorstellung entrückt und die blutigen Bilder verabscheuend, vertrauen der geistigen Erhebung und denken mit Rießer: „Der Glaube an die Macht und den endlichen Sieg des Rechten und Guten, das ist unser Messias.“ Und wir geloben in seinem Sinne: „Die kräftigen Klänge deutscher Sprache, die Gesänge deutscher Dichter haben in unserer Brust das heilige Feuer entzündet und genährt; der Hauch der Freiheit, der über die Deutschen der neuen Zeit zog, hat unsere schlummernde Freiheitshoffnung geweckt, und manche frohe Aussicht ist ihnen schon seitdem geworden. Wir wollen dem deutschen Vaterlande angehören, wir werden ihm allerorten angehören. Es kann und darf und mag von uns alles fordern, was es von seinen Bürgern zu fordern berechtigt ist; willig werden wir ihm alles opfern, — nur Glaube und Treue, Wahrheit und Ehre nicht; denn Deutschlands Helden und Deutschlands Weise haben uns nicht gelehrt, daß man durch solche Opfer ein Deutscher wird.“




Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Deutsche Literatur und die Juden
Friedrich Schiller (1759-1805), deutscher Dichter, Philosoph und Historiker, Bild aus dem Jahre 1794

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Im Jahre 1825 besuchte Gabriel Rießer die Universität in Heidelberg

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Heinrich Heine (1797-1856), deutscher Dichter und Journalist

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Ulrich von Hutten (1488-1523), deutscher Humanist

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Johannes Calvin (1509-1564), Reformator französischer Abstammung und begründer des Calvinismus

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Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781), wichtigster Dichter der deutschen Aufklärung

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Martin Luther, (1483-1546) dt.Reformator

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Moses Mendelssohn (1729-1786), deutsch-jüdischer Philosoph im Zeitalter der Aufklärung

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In Wien lernte Gabriel Rießer seine zweite Frau kennen

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