Die Juden und die deutsche Literatur

Die Juden und die deutsche Literatur
Einleitung zu Universitätsvorlesungen Winter 1903/4


Ich glaube nicht, daß eine solche Vorlesung, wie die, die ich heute beginne, schon aus einer deutschen Universität dargeboten ist, und der große Zulauf, den diese erste Vorlesung gefunden, hat vielleicht seinen Grund in der Welkheit des Unternehmens. Diese Tatsache, etwas ganz Neues den Zuhörern zu bieten, ist in naturwissenschaftlichen und technischen Disziplinen gewiss nichts Seltenes. Bei dem ungeheueren Umfange, den diese einnehmen, entstehen neue Richtungen, Systeme, Fächer in solcher Klasse, daß ordentliche Professuren, große Anstalten für Untersuchungen geschaffen werden müssen, die vor einem Jahrzehnt noch völlig unbekannt waren. In unserem historisch-philosophischen Fach ist dies, in diesem Umfange wenigstens, gewiss nicht der Fall. Darum muss der, der eine solche neue Vorlesung unternimmt, sich dahin ausweisen,


1. daß der Stoff zu einem solchen Thema wirklich vorhanden,
2. daß seine Behandlung wissenschaftlich ist,
3. daß der Redner die geeignete Persönlichkeit zu einem solchen Versuche ist.

I. Was das erste betrifft, so kann höchstens über Fülle des Stoffes, nicht aber über Mangel an solchem geklagt werden. Die Fülle ist so groß, daß ich etwas, was vielleicht manche erwarten, gar nicht berühren werde, nämlich die Tatsache, daß ein jüdisches Theater in Berlin existiert, das außer manchen anderen fragwürdigen Darbietungen auch allabendlich vor sehr gefülltem Hause, dessen Besucher sich durchaus nicht nur aus Juden rekrutieren, Stücke in jüdisch-deutschem Jargon aufführt. Dieses Theater, das sich aus schüchternen Versuchen jüdischer, aus dem lösten stammender Schauspielertruppen zu einer ständigen Berliner Eigentümlichkeit entwickelt hat, bietet gewiss einen interessanten Beitrag zur Kulturgeschichte; als die Blüte, als Gipfelpunkt der Entwicklung, die ich Ihnen vorzuführen gedenke, kann ich es indessen nicht auffassen. So viel Sinn ich für Humor zu besitzen glaube, — in diesen Exhibitionen ordinären jüdischen Witzes mit Gliederverrenkungen und frivolen Scherzen vermag ich unmöglich wirkliche Literatur zu erblicken.

Aber auch sonst ist die Fülle des Stoffes überraschend groß. Das Jahr 1913 brachte vier Werke, die, weil symptomatisch, in dieser Einleitung berührt werden müssen.

Als ich die letzten Vorbereitungen zu dieser Einleitungsvorlesung machte, erschien in Reclams Universalbibliothek eine Übersetzung von Heijermanns „Ghetto“ und unter den Schriften, die im Jahre 1903 das Licht erblickt hatten, befand sich eine Darstellung des Judentums in der deutschen Kulturgeschichte, die Behandlung des Judentums in einem deutschen Drama und ein Versuch, die Linien unseres Themas angeblich in wissenschaftlicher Weise zu ziehen.

1. Heijermanns „Ghetto“ kann als Werk eines Holländers nur kurz angedeutet werden. Es behandelt den Kampf des jungen Geschlechts gegen das alte, einen Kampf, in dem unsere Sympathie naturgemäß auf Seite der Jungen ist. Raphael, zum Trödler erzogen, hat den Zug nach höheren Dingen, verachtet den Vater, einen Schacherer, nachdem er gesehen, wie der Alte sich durch Betrug bereichert, verliebt sich in ein Christenmädchen, Rose, und erklärt seinem Vater, daß er das Haus verlassen werde. Das Mädchen, dem man einredet, daß er eine andere Partie eingehen werde, läuft ins Wasser, der Jüngling entflieht. — Dem jüdischen Leser mag das traurige Wort Raphaels „unser ganzes Volk ist entartet“ widerlich klingen; den Gläubigen mag die Selbstüberhebung „er redet von Pflichten, auferlegt von Gott, den wir nicht kennen, und den die Christen nicht kennen“ unangenehm tönen; der Literarhistoriker blickt bei allen Bedenken, die er gegen das Einzelne, und bei manchem Widerspruch, den er gegen die dramatische Technik des Werkes hegen muss, daraus hin als auf eine kraftvolle Schilderung des Gegensatzes, wie er stets zwischen zwei Geschlechtern besteht, des Widerspruchs der aufstrebenden Generation wider die alte, wie er sich auch in Deutschland noch vielfach in kleinen Städten erhalten hat.

2. G. Liebe hat unter dem Titel: Das Judentum in der Kulturgeschichte, Leipzig 1903 (Steinhausens Monographien zur deutschen Kulturgeschichte, X) ein Werk veröffentlicht, das als Bilderbuch vortrefflich, auch im Text nicht vollständig zu verwerfen ist. Kultur ist nicht Literatur; daher kommt ein großer Teil des Werkes für unsere Zwecke nicht in Betracht. Eine Kritik im einzelnen kann und soll hier nicht geliefert werden. Nur das sei kurz bemerkt, daß der Verfasser höchst einseitig zu Werke geht; unhistorisch, mehr in der Art eines Pamphletschreibers, als eines geschichtlichen Schriftstellers die wider die Juden sprechenden Zeugnisse sammelt, statt unparteiisch Tatsachen und Ereignisse zusammenzustellen. Die Anhäufung der Zeugnisse über Schacher und Wucher, die Zusammenstellung aller, gegen die Juden vorgebrachten Anklagen und Schmähungen vermögen kein vollgültiges Bild zu geben; was die Juden z. B. als Ärzte waren, wird nur gestreift, die wirklichen Dienste, die sie der Kultur erwiesen haben, werden überhaupt nicht berührt.

3. H. Sudermann: der Sturmgeselle Sokrates, Komödie in 4 Akten, Stuttgart 1903, ist ein Stück, das seit einem Monat und länger aus einer hiesigen Bühne allabendlich gegeben wird und die übliche große Reihe von Auflagen Sudermannscher Schriften teils schon gehabt hat, teils gewiss noch haben wird. Ich bin am allerwenigsten geneigt und geeignet, die Apologie dieses kläglichen Machwerkes, dieser kleinlichen Verhöhnung einer großen Zeit — denn das war ja doch das Jahr 1848 - zu liefern; für unseren Zweck ist das Werk nur symptomatisch dadurch, daß hier unter Persönlichkeiten der Kleinstadt, sowohl unter den älteren, neben dem Arzt, dem Freiherrn, dem Oberlehrer, dem Steuerinspektor und dem Kaufmann, als den jüngeren, einem Arzt und einem Korpsburschen, auch je ein Jude vorkommt, der Rabbiner und dessen Sohn, zwei Persönlichkeiten, die man doch gewiss als Juden in der deutschen Dichtung bezeichnen muss. Aber keineswegs als die Juden. Denkt hier handelt es sich auf der einen Seite nur um einen Humanitätsapostel, um einen sogenannten freisinnigen, menschlich gesinnten Geistlichen, der es mit den äußerlichen Geboten seiner Religion merkwürdig leicht nimmt, der den Menschen in sich wahren will, wenn er auch dem Juden nicht zur Liebe verhelfen kann; auf der anderen Seite um einen Jüngling, der wegen einiger Kränkungen, die er im gesellschaftlichen Leben erfahren hat, insbesondere wegen der für ihn betrüblichen Tatsache, daß er nicht Korpsstudent geworden und nicht höflich genug behandelt worden ist, sich als Feind der ganzen Gesellschaft erklärt: „Ihr wollt uns zu Feinden, Ihr sollt uns zu Feinden haben“.

4. Die vierte ist die Schrift eines sehr streitbaren Herrn, der schon einige male gegen eine ihm unangenehme Kritik eine Broschüre geschrieben hat. Herr Adolf Bartels nämlich, der Verfasser einer viel gelesenen, von einigen gerühmten, aber von urteilsfähigen Gelehrten aller Konfessionen als einseitig verurteilten deutschen Literaturgeschichte ließ gegen einzelne dieser Kritiker eine Schrift ausgehen: „Kritiker und Kritikaster, mit einem Anhang: das Judentum in der deutschen Literatur“ (Leipzig 1903). Ich hoffte wirklich in diesem Anhange eine Behandlung unseres Themas zu finden, wie sie mir vorschwebte, erlebte jedoch eine grausame Enttäuschung. Schon in der Hauptschrift, in der Bartels vier Kritiker „als Wahrheitsfeind, Schimpfheld, geistreicher Raisonneur, gelehrter Kleinigkeitskrämer“, abtut, wimmelt es von Schimpfwörtern gegen Juden und Judentum. Nach seinen Ausführungen ist die ganze Kritik, Presse, Literatur verjudet. Der Satz, von dem Bartels ausgeht:"da es nur eine nationale Kunst ist“, erhält durch die gesamte Kunst- und Literaturgeschichte ein schlagendes Dementi. Wer die deutsche Literatur und Kunst, um nur bei ihr zu verweilen, betrachtet, der wird geradezu sagen müssen, daß es eine ausschließlich deutsche Kunst fast niemals gegeben hat, ja daß geradezu die glänzendste Epoche den größten Einfluss entweder des Altertums oder der ausländischen Völker deutlich aufweist.

Indessen haben wir uns hier mit solchen allgemeinen Sätzen, die natürlich eine weit breitere Behandlung erfordern, als ihnen eben zuteil geworden, nicht zu beschäftigen. Von dem Thema, das er behandeln will, hat er nicht die geringste Ahnung. Aus vergangenen Zeiten kennt er nur oder gibt nur an: Trimberg, Johannes Pauli (der gar kein Jude war), Pfefferkorn, Mendelssohn. Dann aber geht bei ihm sofort das Presse- und Literaturjudentum an. Von jüdischen Ideen, von dem Einfluss ihres Geistes, von der Behandlung ihrer Literatur ist gar keine Rede. Es kommt ihm nur darauf an, möglichst viele Schriftsteller zu Juden zu stempeln, natürlich solche, die ihm unangenehm sind, darunter gut christliche Schriftsteller, die überhaupt nichts oder wenig mit Juden zu tun haben, wie Paul Lindau u. a. Solche Schimpfereien im einzelnen zu bekämpfen, kecke, unbegründete Angriffe zu widerlegen, habe ich weder Lust noch Zeit. Ein Pröbchen möge für die Art des Bartelsschen Verfahrens genügen. Von allen spezifisch christlich gesinnten Schriftstellern waren bisher die Geschwister Brentano, Clemens und Bettine, in besonderen Schutz genommen worden, obgleich Bettine im Gegensatz zu ihrem Bruder, einem ausgesprochenen Judenfeinde, eine erklärte Gönnerin der Juden war; Herr Bartels, der gegen beide Abneigung empfindet, stempelt beide zu Juden. Er sagt: "Was meinen Argwohn vor allem wachrief, ist die in der „Günderode“ enthaltene famose Geschichte von der Nobilitierung ihres Großvaters Laroche, die auf dem Schlachtfelde durch den König von Frankreich geschehen sein soll. Hier bei diesem Großvater Laroche steckt, wie ich glaube, der Haken; denn bekanntlich hieß er eigentlich Michael Frank und stammte aus Lichtenfels in Franken, wo es immer viele Juden gegeben hat. Nach der einen Version wäre Frank ein unehelicher Sohn des Grafen Stadion gewesen, nach der anderen aber kam er dadurch mit dem gräflichen Hause in Beziehung, daß er, ein kleiner schwarzäugiger Junge, nach einer Feier im Schloss absolut nicht ins Elternhaus zurück wollte, — was mir als ein recht charakteristischer Zug erscheint. Später ward er dann vom Grafen in Churmainzische Dienste gebracht und ein gewaltiger Aufklärer, was ja auch recht gut zum Judentum passt. Sollte die Larochefährte sich als falschführend erweisen, so bliebe immer noch die Annahme, daß die Brentanos ursprünglich italienische, dann zum Katholizismus übergetretene Juden gewesen seien. -— Als ein indirekter Beweis, daß bei den Brentanos nicht alles stimmt, erscheint mir auch der vor einer Reihe von Jahren festgestellte Antisemitismus Achims von Arnim, des Mannes der Bettine.“

Der Schlusssatz ist köstlich: weil Bettine angeblich von Juden stammt, wird ihr Mann Antisemit. Wüsste Bartels in der Literaturgeschichte besser Bescheid, so müsste ihm bekannt sein, daß Arnim schon lange vor seiner Verheiratung sich antisemitisch geäußert hat, und es wäre doch für einen so charaktervollen, christlich denkenden Mann eine höchst seltsame Tat, sich mit einer aus dem Judentum entsprungenen Frau zu verbinden. Aber die ganze Ausführung über den Großvater Laroche ist der Gipfel der Unkritik und Unwissenheit. Ein Blick auf die neueste Biographie des Mannes (von Rudolf Asmus, Karlsruhe 1899) hätte Bartels zeigen können, daß Laroche den Namen Frank durchaus mit Unrecht führt, daß er wahrscheinlich der Sohn des Grafen Stadion und einer Französin Laroche ist, daß diese nach der Empfängnis des Knaben einem Chirurgen Frank zur Frau gegeben wurde, der vor der Geburt des Kindes bereits gestorben ist, daß also dieses Kind nicht das geringste Anrecht zu dem Namen Frank hat. Alle Folgerungen, die sich aus diesem Hainen ergeben, sind also vollkommen hinfällig. Nach dieser einen Probe kann man die ganze Bartelssche Schrift beurteilen und hat das Recht, sie völlig unbeachtet zu lassen. Für unser Thema kommt sie absolut nicht in Betracht.

Wenn, wie eben ausgeführt worden ist, innerhalb eines einzigen Jahres über einen Gegenstand vier Schriften der verschiedensten Art erscheinen, so wird man über Stoffmangel jedenfalls nicht klagen können.

II. Bevor indessen dieser reiche Stoff gegliedert und im einzelnen dargelegt wird, müssen noch einzelne Auseinandersetzungen über das Wie der Behandlung gegeben werden. Sie soll, so wurde vorher gesagt, wissenschaftlich sein, und es wurde zugleich angedeutet, daß die Bartelsschen Expektorationen auf eine solche Bezeichnung keinen Anspruch erheben dürfen. Ist denn aber, so wird man fragen dürfen, von jüdischer Seite etwas Ernstliches geschehen? Eine allgemeine Lösung der Aufgabe liegt nicht vor, wohl aber sind einzelne Versuche gemacht worden, und eine gewisse Stimmung der ganzen Aufgabe gegenüber ist vorhanden. Betrachtet man Leistungen und Stimmungen, so wird man folgendes nicht verhehlen dürfen. Man wird nämlich nicht leugnen, daß: peccatur intra et extra: man sündigt hüben und drüben. Mit derselben Entschiedenheit, mit der Auswüchse wie die Redensarten von Bartels abzuweisen sind, muß auch vor Übertreibungen gewarnt werden, die aus jüdischer Seite häufig vorkommen. Hier ist ein Dreifaches zurückzuweisen: 1. der polemische, nörgelnde Ton, das Absprechen gegenüber den Leistungen Andersgläubiger, das witzelnd Spöttische, das man mit Unrecht als eine bloß jüdische Eigentümlichkeit bezeichnet.

2. Die Überhebung der eigenen, d.h. der jüdischen Leistungen. Wenn H. Landsberg in einer kürzlich erschienenen Monographie über Rahel sich zu dem Satze versteigt, erst die Berliner jüdischen Frauen seien in Goethes Verständnis eingedrungen, wenn er die Verbreitung des Goethekultus fast ausschließlich Juden zuschreibt, so ist dies gewiß ungeschichtlich. Wenn M. Güdemann in seinem gewiß höchst anzuerkennenden Werke über die Erziehung der Juden usw. sagt: „die Juden waren im Mittelalter den Christen in der Bildung voraus, sie seien mit ihren poetischen Untersuchungen den Deutschen nm ein Jahrhundert vorausgeeilt“, oder wenn er sich zu der seltsamen Behauptung versteigt: in Deutschland sei in den letzten Jahrhunderten des Mittelalters „nichts geglaubt worden“, es hätte nur „falsches Geld, gefälschte Lebensmittel, gefälschte Kleiderstoffe und gefälschte Glaubenslehren gegeben“, so sind dies Ausführungen, die um so mehr zurückgewiesen werden müssen, da sie nnter wirklich wissenschaftlichen Darlegungen stehen.

3. Die übergroße jüdische Empfindlichkeit. Man muß nicht gleich Zeter schreien, über jedes Bild und jeden guten oder schlechten Witz unserer humoristischen Blätter. Ich kann recht wohl — wie ich dies im Sommer oder Herbst dieses Jahres (1903) tat — herzlich lachen über einen Scherz, der den Familientag der „Familie Cohn“ in Wort und Bild darstellte, ohne daß ich darüber erröte oder mich entrüste. Ich sehe ferner nicht ein, warum die guten Judenwitze — wenn auch vielleicht hier Hausierer oder Kommerziellräte in nicht übermäßig appetitlicher Weise dargestellt werden — weniger statthaft sein sollten, als die stehende Rubrik der Schwiegermütter- und Professorenwitze. So wenig der ernsteste Professor und die beste Schwiegermutter über solche Anekdoten sich ereifern, so wenig braucht der Jude hier gleich über Unduldsamkeit und Böswilligkeit zu klagen.

Die Behandlung dieses Stoffes in wissenschaftlicher Weise hat aber auch Schwierigkeiten, die in der Sache selbst liegen. Ein Bedenken dieser Art ist mir nicht von judenfeindlicher, sondern von jüdischer, aufgeklärter Seite geäußert worden. Als ich im Jahre 1887 zum erstenmal in der von mir geleiteten Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland die eine oben erwähnte, erste derartige Studie; „Goethe und die Juden“ veröffentlichte, mahnte mich ein älterer, seitdem verstorbener Freund ab, diese Studien fortzusetzen. Er hatte auch gegen die schon veröffentlichte schwere Bedenken. Er meinte, man müsse die Judenfrage als nichts anderes behandeln, denn „als eitle allgemeine Frage der Humanität, der bürgerlicher Gerechtigkeit“. Man dürfe überhaupt keine Judenfrage anerkennen. Was ich damals antwortete und seitdem öfters genug auszuführen in der Lage war, kann ich auch heute nur wiederholen: ich konstatiere keine Judenfrage, sondern ich statuiere ein völkergeschichtliches Problem. Denn es ist ein völkergeschichtliches Problem, den Gang einer Glaubensgemeinschaft durch die Jahrhunderte, durch die Geschichte eines ursprünglich fremden Volkes zu verfolgen, zu zeigen, wie die Mitglieder dieser Glaubensgemeinschaft sich mit den Angehörigen des Volkes assimilierten, wie sie die Sprache und Geistesrichtung jener Nation annahmen und zu dieser Entwicklung ihr Eigenes beitrugen. So gut man Stoffentwicklung und Behandlung innerhalb einer Literatur oder der Weltliteratur verfolgt, ebenso ist es ein wissenschaftliches Unternehmen zu prüfen, wie innerhalb einer Nationalliteratur über eine besondere Gemeinschaft gedacht worden ist, und zu zeigen, wie die Zugehörigen dieser Glaubensgemeinschaft einem Volke sich angeschlossen haben, denk sie durch Geburt und Neigung, nur nicht durch den Glauben angehört haben.

III. Was nun aber die dritte Frage betrifft, ob gerade ich geeignet oder berufen sei, ein solches Thema wissenschaftlich zu behandeln, so hoffe ich nicht nötig zu haben, wir von Herrn Bartels darüber ein Zeugnis zu holen. Dieser nennt wich an einer Stelle „den eifrigsten Propagator des literarischen Judentums“ und sagt an einer anderen Stelle, da er voll Bettine spricht, „sie wird von Ludwig Geiger mit Vorliebe zum Studienobjekt gewacht“ (dabei ist es ganz lustig anzusehen, daß die geschworenen Verfechter der Romantik mich tadeln, daß ich Bettine nicht hoch genug stelle, weil ich bei aller Wertschätzung ihrer dichterischen und politischen Qualitäten als Historiker Protest gegen die Willkür einzulegen wagte, in der sie mit historischen Dokumenten umspringt).

Ich glaube allerdings berechtigt zu sein, dieses Thema wissenschaftlich zu behandeln, nicht nur weil ich ein Deutscher jüdischen Glaubens bin. Die Konfession allein befähigt und hindert nicht. So gut Leopold von Ranke, um nur einen Protestanten zu nennen, die Größe und Bedeutung des Papsttums und der katholischen Kirche erkannte und darstellte, so gut zwei Katholiken, Cornelius und Kampschulte, Calvin und die deutsche Reformation zu schildern fähig waren, so gut könnte jeder Christgeborene, wenn er nur die nötigen Kenntnisse besitzt, die Entwicklung des Judentums darstellen. Und so ist auch jeder wissenschaftlich gebildete Jude durchaus geeignet, der sogenannten christlichen, der allgemeinen deutschen Literatur sich hinzugeben. Wir deutsche Gelehrte jüdischen Glaubens haben stets unsere Ehre und unseren Stolz darin gefunden, voll und ganz in unserer Sprechweise, in unserer Kultur, in unserem Denken und fühlen, in unserer Art zu arbeiten, Deutsche zu sein. So wenig man den Darstellungen und Forschungen von Bielschowsky oder Morris über Goethe das geringste Jüdische ansehen kann, so wenig ist in den 27 Bänden des von nur herausgegebenen Goethejahrbuches seitens der Kritiker — und es hat deren viele bösartige und übelwollende gegeben — etwas von „Verjudung“ gespürt worden, man müsste denn den verflossenen Dichter Hans Herrig ausnehmen, der einmal in einer törichten Anwandlung dies Wort gebrauchte. Ich habe, wie ich wohl ohne Ruhmredigkeit sagen darf, durch eine nun 35-jährige wissenschaftliche Arbeit und durch eine nun 30-jährige akademische Lehrtätigkeit gezeigt, daß ich die deutsche Literatur nicht vom jüdischen Standpunkte ansehe oder beurteile, und ich darf die vielen Hunderte, die in diesen 30 Jahren meine Vorlesungen mitangehört, und die vielen Tausende, die meine Aufsätze und Bücher gelesen haben, wohl zu Zeugen anrufen dafür, daß sie nicht durch ein Wort daran erinnert wurden, daß ich ein Jude sei, sondern nur den Eindruck hatten, einen deutschen Gelehrten zu hören. Ich weise mit tiefer Verachtung alle die offenen und heimlichen Insinuationen zurück, daß ein deutscher Gelehrter jüdischen Glaubens bei Beurteilung irgendeiner Zeit oder irgendeiner Leistung der deutschen Literatur befangen wäre; ich beanspruche für ihn das Recht, auf dieselbe Stufe gestellt zu werden, wie seine christlichen Kollegen als einen, der erfüllt und genährt von den Schätzen der deutschen Literatur auch seinerseits wagen darf, zu ihrer Bereicherung beizutragen. Nicht minder weise ich als völlig unwissenschaftlich alle Bemühungen und Anschauungen von mir, die, durch die Unzufriedenheit mit den augenblicklichen Verhältnissen, durch Kränkungen, die der einzelnen Person oder der Glaubensgemeinschaft zugefügt wurden, entstanden, ein jüdisches Stammesbewusstsein konstruieren und den Traum einer jüdischen Rationalität oder gar eines jüdischen Staates darstellen, oder sich direkt bemühen, ihn in die Wirklichkeit umzusetzen. Ich beklage die zahlreichen Romane, Gedichte und Dramen, die in neuerer Zeit von deutschen Juden veröffentlicht worden sind, alle von dem Streben erfüllt, ein neues Ghetto zu errichten, viel drückender als das alte, weil es ein selbstgeschaffenes ist, und weil es nicht diejenigen zurückdämmt, die durch Kleidung, Sprache und Gesittung sich von ihren Stadt- und Landgenossen unterscheiden, sondern weil es die durch die gesamte Kultur Geeinten, nur durch den Glauben Getrennten gänzlich voneinander zu scheiden sucht. Nicht Antisemitismus und Zionismus, diese beiden traurigen Schmarotzerpflanzen des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts, können in mir die Überzeugung nicht vernichten, daß der deutsche Gelehrte und Schriftsteller jüdischen Glaubens voll und ganz in Sprache und Gesinnung ein Deutscher ist, wohl berechtigt und befähigt, die Juden in der deutschen Literatur zu betrachten.

Was soll nun diese Vorlesung bieten? Ihr deutscher Titel: die Juden in der deutschen Literatur deutet es nicht vollständig an. Er könnte den Irrtum erwecken, daß eben nur ihre aktive Beteiligung an der deutschen Literatur gemeint sei, daher kann der lateinische, so zopfig er ist, als etwas deutlicher bezeichnet werden: quales in titteris germanicis sint descripti et quid praestiterint. Er besagt, daß zu dem Aktiven etwas Passives komme; welche Rolle sie in der Beurteilung der deutschen Schriftsteller spielten; ich sage absichtlich: passiv, weil die von ihnen gespielte Rolle meist die leidende war. Ein Drittes indes muß hinzugefügt werden, nämlich das Kausative, oder Faktitive, die Wirkung und Beeinflussung der Literatur durch die Juden. Hier handelt es sich hauptsächlich um ein Doppeltes.

A. Neben der Darstellung von jüdischen Legenden (Herder) oder jüdischen Erzählungsstoffen (Chamisso) in der deutschen Literatur, um den Einfluß der Bibel auf die Denk- und Redeweise unserer Großen. Die Tatsache, daß Goethe die zehn Gesetze des alten Bundes untersuchte, die Wanderungen des Volkes Israels in der Wüste darstellte, das Hohelied übersetzte, in seinen vertrauten Briefen und in vielen seiner Gedichte sich zahlloser Ausdrücke ans dem Alten Testamente bediente, ist ebenso eingehend zu behandeln, wie Schillers Sendung Mosis oder die von biblischen Ausdrücken strotzende Sprache der „Räuber“.

B. Um die Beeinflussung deutscher Gelehrter, Schriftsteller und Dichter durch Juden. Tatsachen wie die folgenden: Daß Klaus Wyße und Philipp Kolin im 14. Jahrhundert sich bei dem Juden Samson Pine wegen Übersetzung des Stoffes von Parzival bedanken, daß ein Jude Eisik Wallich im 16. Jahrhundert eine große Anzahl deutscher Volkslieder sammelt und dadurch manche vom Untergange rettet, oder der von Siegfried geführte Nachweis, daß Luthers Art der Bibelerklärung direkt durch Nikolaus von Lyra, indirekt aber durch den jüdischen Meister Raschi bestimmt ist, wiegen schwerer als Bände von Deklamationen. Sie zeigen auch dem Widerstrebenden, in welcher Weise durch Juden die deutsche Literatur beeinflusst worden ist.

Nach diesen allgemeinen Darlegungen gab ich eine Zusammenstellung des Inhalts. Ich gliederte den Stoff in 31 Paragraphen. Der erste behandelte die Anfänge, Kreuzzüge, Süßkind von Trimberg, wo ich die Gelegenheit ergriff, gegen die Überschätzung dieses jüdischen Minnesängers voll jüdischer Seite zu protestieren.

§ 2. (14. und 15. Jahrhundert). Anteil der Juden all der deutschen Literatur des Mittelalters. Abschriften und Übersetzungen mittelalterlicher Dichtungen, Notiz aus Reinecke Voß von denk Meister Abryon, der ,,aller Sprachen gelehrt“ sei. — Deutsche Worte in rabbinischen Responsen. Anfänge der jüdisch-deutschen Literatur, das kleine Buch der frommen, das Sittenbuch, Bibel und Gebete für Frauen, Kalender. — Satirische Literatur der Deutschen gegen die Juden: Fastnachtsspiele und Narrenschiff.

§ 3. Reuchlin und der Streit um die Bücher der Juden. Es handelt sich hier um ein Doppeltes: a) Schmähschriften getaufter Juden, wie Pfefferkorn und Victor von Karben; b) Reuchlins Verteidigungsschriften vom Augenspiegel 1511 an. Es darf natürlich nicht verschwiegen werden, daß Reuchlin 1505 ein (keineswegs judenfreundliches) Schriftchen geschrieben: Warum die Juden so lange im Elend seien. Eine Erzählung des Reuchlinschen Streites (Dunkelmännerbriefe, humanistische Satiren usw.) gehört natürlich nicht hierher, wohl aber eine kurze Darlegung von Reuchlins Studien der hebräischen Sprache und seiner kabbalistischen Bemühungen vom de verbo mirifico 1494 an bis de arte cabbalistica 1516.

§ 4. Luther. So wenig wie in § 3 die Geschichte des deutschen Humanismus ist in diesem Paragraphen die Entwicklung der deutschen Reformation zu erzählen. Der Hauptnachdruck ist zu legen
1. auf Bibelübersetzung (Mathäus Aurogallus u. a.) und Bibelerklärung (Nikolaus von Lyra, vgl. oben).
2. auf die Schriften: .
a) daß Jesus Christus ein geborener Jude sei, 1529,
b) wider die Juden und ihre Lügen, 1544. Der bleibende kulturhistorische Wert der ersten Schrift als Abhängigkeitserklärung des Christentums vom Judentum ist weit stärker zu betonen, als die zeitliche, von einem Augenblickszorn diktierte zweite Streitschrift. Kurz ist einzugehen aus die jüdische Dinge behandelnden Briefe: Josel von Rosheim, dessen ganze Stellung kurz zu charakterisieren ist. Sodann ist schon in diesem Paragraphen die Beteiligung der Reformatoren und Antireformatoren an der Judenfrage zu streifen: Andreas Osiander, Johannes Eck, Martin Bucer.

§ 5. 16. Jahrhundert. Im wesentlichen darf ich mich für diesen Paragraphen, poetische und satirische Literatur (Schwänke, Romane, Dramen), Predigten und Prosabroschüren der Deutschen gegen Juden auf meine Studie beziehen im II. Bande der Zeitschrift für Geschichte der Juden in Deutschland.

§ 6. Aktiver Anteil der Juden an der deutschen Literatur.
a) Moses Minz und Jsserles, phonetische Untersuchungen.
b) Erhaltung deutscher Volkslieder in einer von einem Juden herrührenden Handschrift (vgl. oben). Die an wichtigen Resultaten reiche Abhandlung von Felix Rosenberg in meiner Zeitschrift ist sehr ausführlich darzustellen. Die Bedeutung dieses jüdischen Schreibers ist unvergleichlich. Wie viele solcher Handschriften, das heißt, solcher Betätigungen jüdischer Autoren mögen verloren gegangen sein?
c) Das biblische Drama des 16. Jahrhunderts. Es ist einerseits wichtig dadurch, daß es zeigt, wie populär die Persönlichkeiten des Alten Testamentes gewesen sind: Abraham, Saul, David, Tobias u.a., andererseits dadurch, daß gelegentlich religiöse Streitfragen hier zum Ausdruck kommen, die Stellung zu den Juden gekennzeichnet wird, zum Beispiel bei der Behandlung der Esthersage.
d) Den Übergang vorn 16. zum 17. Jahrhundert bilden zwei jüdische Stoffe: der ewige Jude und der Kaufmann von Venedig. Hier ist ebenso wohl darauf hinzuweisen, wie diese Stoffe, die ursprünglich gar keine jüdischen waren, zu jüdischen wurden, wie darauf, daß mit der Weiterwanderung der Stoffe aus Italien oder England nach Deutschland das antijüdische Element sich verstärkt.

§ 7. 17. Jahrhundert bis zur ersten Hälfte des 18. Zuerst der Dreißigjährige Krieg. Selbstverständlich nicht mit historischer Erzählung der Judenleiden, aber mit dem Hinweis aus die Spottgedichte (Kipper und Wipper), und auf die Zerstörung der Schätze jüdisch-deutscher Literatur. Untersuchung der Judaizantes. Frank und die Frankisten. Die Sabbathai Zewi-Literatur in Deutschland und die damit im Zusammenhang stehenden kabbalistischen Schriften und messianischen Hoffnungen. Gerade diese für die deutsche Kultur schlimmste Zeit bildet für unser Thema eine Periode des Aufschwungs. An der Regelhaftigkeit und an den Spielereien der sogenannten ersten und zweiten Schlesischen Schule haben sich freilich Juden kaum beteiligt, wie sie auch von den Schriftstellern jener Epoche verhältnismäßig wenig behandelt wurden. Aber die Verfolgten, unterdrückten, in ihrer Bewegung Gehemmten verlangten stürmisch danach deutsch zu lesen und deutsch zu schreiben. In diesem Zusammenhang bilden Glückwunsch- und Spottgedichte, Einleitung und Schlusspoesien von Druckern und Ähnliches, wie sie im II. Bande meiner Geschichte der Juden in Berlin und von Freudenthal in seinem Buche: Aus der Heimat Mendelssohns (Berlin 1900) mitgeteilt sind, äußerst wichtige Kulturmomente. Hier ist aber nochmals auf die jüdisch-deutsche Literatur in ihrer Entwicklung hinzuweisen: die Poesien, wie sie in den Sammlungen von Ulrich, Bodenschatz, Wagenseil u. a. mitgeteilt sind. Eine außerordentliche Bedeutung ist beizulegen den Darstellungen von Ereignissen, die für die Geschichte der Juden bedeutungs- und verhängnisvoll geworden sind, zum Beispiel des fettmilchschen Aufstandes in Frankfurt, eine noch größere den Dichtungen des Josel Witzenhausen. Sie mögen poetisch noch so geringwertig sein; ihre außerordentliche kulturhistorische Wichtigkeit liegt darin, daß rein deutsche Stoffe, die jüdischen Anschauungen ganz fern liegen, als Lektüre für Juden bestimmt werden; ein deutliches Zeugnis, wie sehr die Juden bei aller Anhänglichkeit an ihren Glauben die geistige Nahrung des Volkes, innerhalb dessen sie wohnten, für sich begehrten. Witzenhausen verdient die ausführlichste Darstellung. Seine Bearbeitung des König Artus nach Wirnt von Gravenberg ist im einzelnen zu besprechen. Als das merkwürdigste Dokument dieser Übergangszeit sind jedoch die Memoiren der Glückel von Hameln, geboren 1645, gestorben 1724 zu betrachten (herausgegeben voll David Kaufmann, leider noch nicht übersetzt, das heißt in deutschen Typen und etwas modernisierter Schreibung zugänglich und trotz Feilchenfelds Ausführungen AZdJ. 1898 nicht genügend bearbeitet). Diese Familienaufzeichnungen, durchaus nicht zur Publikation bestimmt, sind zunächst deshalb so bedeutungsvoll, weil sie vielleicht das ersterhaltene Werk einer deutsch-jüdischen Frau (um nicht zu sagen Schriftstellerin) sind, sodann aber wegen ihrer Sprache und wegen ihres Inhaltes. Die Sprache (jüdisch-deutsch) mit mancherlei Anklängen an Ausländisches dokumentiert den Bildungsgrad des Durchschnittspublikums. Der Inhalt ist von größter Vielseitigkeit, wobei der Literarhistoriker besonders aufmerksam machen muß aus die Weite des Gesichtskreises: Hinweis auf allgemeine politische Ereignisse, ferner auf die Notizen über ihre Lektüre, deutsche Erbauungsbücher, besonders der deutsche Brandspiegel, und auf die Einfügung moralischer Erzählungen, wodurch ihre Tendenz zu unterhalten, neben ihrer Hauptabsicht zu belehren, klar hervortritt.

§ 8. Beginn der Aufklärung. In dem ersten der Aufklärung gewidmeten Paragraphen wird der Literarhistoriker geschichtliche Exkurse nicht vermeiden können. Außer dem Nachweis, daß die Aufklärungsgedanken, wie sie von England und Frankreich nach Deutschland überspringend, in theologischen und philosophischen Schriften die Frage der Judenduldung neu erörtern, ist zu zeigen, daß trotz aller beschränkenden Verfügungen, Ideen der Menschenrechte auftauchen: Friedrich der Große; Äußerungen seiner Räte: Manitius, d'Asnières (Mitteilung aus den Akten in meiner Geschichte der Juden in Berlins Auf Marquis d'Argens Lettres juives ist hinzuweisen, weil sie, obgleich französisch geschrieben und von einem Franzosen herrührend, doch eben von einem Manne stammen, der in Deutschland lebte, deutsche Verhältnisse kannte und gelegentlich beleuchtete; auch die neuerdings veröffentlichten Streitschriften zwischen Voltaire und Abraham Hirsch sind nicht zu übergehen, obgleich sie Prozessakten und nicht eigentlich literarische Dokumente sind. Der wesentliche Inhalt des Paragraphen ist die Zusammenstellung der Zeugnisse für die Juden in den literarischen Werken deutscher Schriftsteller, die man freilich nicht unterschiedslos als Aufklärer wird bezeichnen dürfen. Eine genaue Untersuchung der deutschen Schriften müsste manches Unbekannte an den Tag bringen. Hier sei nur genannt: Loën, der redliche Mann am Hofe, oder die Begebenheiten des Grafen von Ribera, zuerst erschienen 1740; Gellert: Leben der schwedischen Gräfin von G. (die erste sehr ausführliche Darstellung eines wackeren, edel denkenden, menschlich handelnden und ebenso behandelten Juden); Lessings Lustspiel: Die Juden; Nathan der Weise. Bei Lessing ist auf seine persönliche Bekanntschaft mit Juden in Hamburg, Wolfenbüttel (Daveson), Berlin hinzuweisen.

§ 9. Moses Mendelssohn. Die große, von mir geplante Darstellung schließt natürlich das rein Biographische aus; wie weit eine solche Ausschließung bei dem ersten, wirklich deutschen Schriftsteller jüdischen Glaubens durchzuführen ist, steht freilich dahin. Vor allein wird es Gegenstand dieses Paragraphen sein, auszuführen, worin der Unterschied zwischen Mendelssohns deutscher Schriftstellern und den zahllosen bisher von Juden geschriebenen deutschen Elaboraten besteht. Der Freundschaft mit Lessing ist eine besondere Darstellung zu widmen. Die Ausführungen über Mendelssohn als deutschen Philosophen und deutschen Kritiker (Literaturbriefe, allgemeine deutsche Bibliothek) sind natürlich nicht zu vermeiden, aber weise zu beschränken. Wesentliche Bedeutung müsste zukommen:

A) der Tätigkeit Mendelssohns auf dem Gebiete des Judentums:
1. Mischna, Talmud.
2. Mosaisch-talmudlsches Recht (Ritualgesetze, Stelle in den Literaturbriefen).
3. Bibel, Übersetzung der 3 Bücher Moses und Psalmen mit den Erklärungen.
4. Jugendunterricht (Morgenstunden).
5. Hebräisch als Schriftsprache, Zeitschrift Ha-Meassef. Wichtigkeit dieser kunstmäßigen Behandlung der hebräischen Sprache auch für die deutschen Juden.
6. Grammatik. Wissenschaftliche durch ihn veranlaßte Bestrebungen des Isaak Satanow u. a.
7. Gebetbuch; auch hier die von ihm angeregten Leistungen David Friedländers und Isaak Euchels.
8. Predigten: deutsche Predigten in der Synagoge: Roßbach, Leuthen, Friedensreden.
9. Rücksichtnahme auf mittelalterliche Philosophen.
10. Religionsphilosophie: Erklärung des Wesens des Judentums („Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum“).
11. Polemik gegen Andersgläubige: Lavater, Verteidigung Dohms, (siehe den folgenden Paragraphen); Übersetzung des Manasse ben Israel.
12. In einem Anhang ist darauf hinzuweisen, daß fast das einzige, von ihm nicht betretene Gebiet das der Geschichte war. Das ist kein Zufall, sondern eine Wirkung des Mangels an geschichtlichem Sinn, der bei Mendelssohn zu konstatieren und als verhängnisvoll für die Weiterentwicklung zu beklagen ist.
13. Auf den Briefwechsel ist gleichfalls Rücksicht zu nehmen, sowohl den mit Juden, als den mit Christen. Hier ist eine eingehende Würdigung der leider noch nicht ganz veröffentlichten Briefe an die Braut und Frau nicht zu umgehen.

B) Wirksamkeit Mendelssohns unmittelbar für die Juden : Auftreten gegen Beschränkungen.
C) Allgemeine Stellung Mendelssohns: Sehenswürdigkeit Berlins, Bewunderung der Fremden. Das projektierte Mendelssohn-Denkmal.

Als Kontrast gegen Mendelssohns Deutschtum als Zeugnis, wie wenig deutsch auch die materiell ungemein günstig gestellten Juden verstanden, wäre der Brief des alten Rotschild, 22. August 1780 (von mir veröffentlicht in der Frankfurter Zeitung 1904) anzuführen, in dem eigentlich kein Wort ganz richtig geschrieben ist.

§ 10. Stellung der christlichen Aufklärer zu den Juden. Christian Wilhelm von Dohm und die Gegenschriften; philanthropische Bestrebungen unter Joseph II. und die dadurch hervorgerufene judenfreundliche und judenfeindliche Literatur.

§ 11. Die jüdischen Aufklärer: David Friedländer, Markus Herz, Salomon Maimon, Lazarus Bendavid. Die Lebensbilder dieser vier Männer müßten wohl in etwas breiterem Umfange gegeben werden, denn ihr Leben ist auch kultur-historisch von Bedeutung, die Darlegung ihrer gesellschaftlichen Stellung nicht zu vermeiden. Immanuel Kants große Einwirkung auf die Genannten und auf das Denken der Juden überhaupt, ist natürlich breiter zu behandeln als etwaige einzelne Äußerungen des großen Königsberger Philosophen über Juden und Judentum. (Persönliches Zusammentreffen Kants und Mendelssohns, Herz als Schüler gegenüber dem Meister.) Außer den deutschen Schriften der Genannten sind ihre hebräischen, ihre Beiträge in der schon genannten Zeitschrift Ha-Meassef zu analysieren. Isaak Euchel und Hartwig Wessely verdienen eine besondere Besprechung.

§ 12. Einzelne deutsche Dichter jüdischen Glaubens: Jssaschar Falkensohn Behr, der polnische Jude, den Goethe rezensiert, Ephraim Kuh, wobei einigermaßen vor Berthold Auerbachs Schilderung zu warnen ist.

§ 13. Die Juden im deutschen Drama des 18. Jahrhunderts. Wirkung der beiden Lessingschen Dramen. Der Jude als Wucherer und als Retter, als Gegenstand des Spottes und der Verehrung. Vgl. die kleine Schrift von Carrington (Heidelberg 1892). Als Dichter solcher Dramen: Engel, Jffland, Stephanie und viele andere. Jffland als meisterhafter Vertreter deutscher Judenrollen, schon seit seinem ersten schau-spielerischen Versuche. Er hatte sich in solche Rollen so eingelebt, daß er, der Sohn eines christlichen norddeutschen Beamten, auch in anderen Rollen, ja selbst im Privatleben, mauschelte (vgl. Ekhofs sehr merkwürdige Äußerung in „Bühne und Welt“ 1915, II. Maiheft).

§ 14. Herder. Beziehungen zu Mendelssohn, wobei eine Zurückweisung der Kayserlingschen Darstellung nicht fehlen darf. Ausführliche Behandlung der Schriften: Geist der ebräischen Poesie; Briefe zur Beförderung der Humanität; Adrastea. Herder als Erwecker der hebräischen Literatur unter den Christen nach ihrem poetischen Gehalte und ihrer wissenschaftlichen Bedeutung. Hinweis auf die orientalische Literatur, die in seinen Spuren wandelt, und auf die ungeheuere Übersetzungsliteratur, die von ihm angeregt ist. Wunderbare Stellen über Judenbekehrung, innere Ausklärung der Juden, Jerusalem.

§ 15. Goethe. Stellung zur Bibel, persönliche Beziehungen zu Juden (David Veit), freundlich-galante Beziehungen zu Jüdinnen; Würdigung Mendelssohns; allgemeine Äußerungen über Juden und Judentum, die trotz einzelner Ablehnung und sogenannter judenfeindlicher Bemerkungen in einer Verklärung des ewigen Bestandes und der weltgeschichtlichen Mission dieser Religion gipfeln (das Nähere in meiner mehrfach genannten Abhandlung). In einem Anhang ist aus Schiller hinzuweisen, worüber gleichfalls meine schon erwähnte Studie zu vergleichen ist. Breiter jedoch, als dies bisher geschehen, wüsste die großartige Wirkung aufgezeigt werden, welche durch die Schriften beider Heroen auf jüdische Leser ausgeübt wurde. Hier würde Schiller, der sich viel seltener noch über Judentum aussprach, der Löwenanteil zukommen; der Dichter des Idealismus war für die Geknechteten ein Labsal; K. E. Franzos` meisterhafte Skizze, Schiller in Barnow, ist auch für den Historiker ein unverächtliches Material.

§ 16. Die Salons. Gewinnung der brauen für die deutsche Literatur. Ihre Mission für die Gesellschaft: Rahel, Henriette Herz, Dorothea Schlegel, andere Berliner Frauen, besonders die Schwestern Meyer, Frau von Grotthus und Frau von Eybenberg. Der Einwand, daß, da alle diese brauen dein Judentum untreu wurden, sie in diese Darstellung nicht gehören, ist nicht stichhaltig, denn sie haben auch aus ihre dem Judentum treu gebliebenen Schwestern und auf die jüdische Gesellschaft ganz unendlich gewirkt.

§ 17. Die Romantiker. Arnims deutsche Gesellschaft in Berlin, persönliche Beziehungen (Jtzig), Darstellung von Juden in „Halle und Jerusalem“. Brentanos eifrige Judenfeindschaft, dagegen Bettines apostolische Wirksamkeit (Briefwechsel mit Goethe), Verklärung einzelner Juden (die Günderode), Unterstützung jüdischer Jünglinge, persönliche Beziehungen. Bei der älteren Romantik ist mit besonderem Nachdrucke Jean Paul hervorzuheben, nicht nur wegen seines jüdischen Freundes Emanuel (vgl. Gutzkows Roman Fritz Ellrodt). Den jüngeren Romantikern sind einzelne jüdische Schriftsteller anzureihen, z. B. Ludwig Robert.

§ 18. Die Reaktion, die Hephep-Periode, auch in der Literatur. Als Signal dafür Sessa, die Judenschule; besonders Dramen und Romane von Julius von Voß.

§ 19. Börne und Heine. Die Untersuchung, wie weit ihre ganze Schriftstellerei vom Judentum beeinflusst ist, kann ebensowenig fehlen wie die Einzelforschung, ob ihr Stil und ihre Sprache jüdische Eigentümlichkeiten zeigt. Freilich ist eine Gesamtdarstellung ihres schriftstellerischen Wirkens zu vermeiden, aber Börnes Kampf für die Juden, seine flammenden Worte für Recht und Freiheit sind ebenso ausführlich zu behandeln, wie Heines dichterische Verklärung der jüdischen Vergangenheit.

§ 20. Die Begründung der Wissenschaft des Judentums. Leopold Zunz.

§ 21. Deutsche Predigt und Theologie. Abraham Geiger und seine Genossen.

§ 22. Michael Beer.

§ 23. Die Revolution von 1831. Ständeverhandlungen und Judendebatten. Gabriel Rießer. Das junge Deutschland, seine angeblichen Beziehungen zum Judentum.
§ 24. Nachwirkungen des jungen Deutschland. Fanny Lewald: Jenny. Joël Jakoby: Klagen eines Juden; Jansen. Judenlieder.

§ 25. Die Juden im deutschen Roman in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Spindler: Der Jude, im Gegensatze dazu unter dem Einflusse Eugen Sues, der Kriminalroman, mit seinen grauenerregenden Darstellungen jüdischer Gauner und Verbrecher. Stieber: Geheimnisse von Berlin, August Braß: Mysterien von Berlin u. a.

§ 26. Das Jahr 1848. Beteiligung der Juden an der Politik, Broschüren, Reden, Zeitungen; der Kladderadatsch mit seinen jüdischen Typen; David Kalisch, jüdische Possen und Juden in deutschen Possen.

§ 27. Die erste Ghetto-Literatur. Auerbach, Aron Bernstein, Leopold Kompert: Verklärung des Ghetto, Ironie, Versuche der Amalgamierung zwischen jüdischem und deutschem Wesen (Kulke und Weill sind anhangsweise zu schildern).

§ 28. Die deutsche Literatur der fünfziger Jahre. Als Hauptetappe Gustav Freytag: Soll und Haben. Die Juden des Ostens. Grillparzer: Esther; die Jüdin von Toledo. Friedrich Hebbel: Judith, Herodes und Marianne. Meißner: Schwarzgelb. Gutzkow und andere Zeitromane.

§ 29. Die jüdische Novellistik der 50er und 60er Jahre. Die Schriften des Literaturvereins. Ludwig und Phöbus Philippson, Fomlstecher, Wassermann, Leopold Stein. — Die jüdische Schriftstellerin Rahel („Zwei Schwestern“ u. a.).

§ 30. Die Zeit von 1870. Das nationale Element. Politische Gleichstellung, im Gegensatze dazu: Reaktion. Wirkungen der Verklärung des Judentums in Elliots Daniel Deronda auf Deutschland.

§ 31. Blick aus die Literatur des Antisemitismus. Juden stehende Typen in den Witzblättern, unentbehrliche Figuren im deutschen Roman und Drama. Eine Aufzählung der Dichtungen, in denen Juden gelegentlich oder als Hauptpersonen vorkommen, würde Seiten füllen, daher sind nur charakteristische Typen vorzuweisen und die ganze Art der Behandlung an wichtigen Beispielen anzuzeigen.

§ 32. Erwachen des jüdischen Bewusstseins. Jacobowski: Werter der Jude. Als Ergänzung dazu, vielleicht als Wirkung der ausblühenden Wissenschaft der neutestamentlichen Zeitgeschichte die zahlreichen Romane, die die Übergangszeit vom Judentum zum Christentum behandeln. Ähnliche Bewegungen im Drama, Sudermanns Johannes.

§ 33. Die neueste Zeit. Karl Emil Franzos. — Aufrichtung eines neuen Ghetto, der große Judenschmerz, jüdischer Stamm und jüdischer Staat (Zionismus), Herzls und Nordaus Dramen; besondere Zeitschriften (Ost und West); Jüdische Lieder (J. Loewenberg u. a.); christliche Dichter als Verklärer des Judentums: Börries von Münchhausen (im Vereine mit jüdischen Künstlern: Lilien); als Schluß Herzls Roman Alt-Neuland, die zionistischen Romane, Schilderung oder Verklärung jüdischen Wesens vergangener Zeit: A. Schnitzler, der Weg ins Freie, A. Hauschner: Familie Lowositz, G. Herrmann: Jettchen Gebert und Henriette Jacoby.

Die Einleitungsvorlesung — die Darlegung des Inhalts hatte schon einen großen Teil des zweiten Kollegs in Anspruch genommen — schloß ich mit den Worten: Ich kümmere mich wenig darum, ob ich Wohlgefallen finde bei den einen oder ob ich anderen Ärgernis bereite. Ich kenne nur Studenten, die ich belehren will, nicht aber den zornigen Eifer gegnerischer Parteien. Ich will nur klar werden über ein wissenschaftliches Problem, der Wahrheit zu dienen ist mein Beruf. Ich kann zwar vor den Autoritäten vergangener Zeit huldigend mich beugen, aber als einzigen, heiligen Führer ehre ich nur die Wahrheit.






Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Deutsche Literatur und die Juden
Bettine Brentano (1785-1859), deutsche Schriftstellerin

Bettine Brentano (1785-1859), deutsche Schriftstellerin

Clemens Brentano (1778-1842), deutscher Schriftsteller

Clemens Brentano (1778-1842), deutscher Schriftsteller

Franz Grillparzer (1791-1872), österreichischer Schriftsteller und Dramatiker

Franz Grillparzer (1791-1872), österreichischer Schriftsteller und Dramatiker

Gustav Freytag (1816-1895), deutscher Schriftsteller

Gustav Freytag (1816-1895), deutscher Schriftsteller

Karl Ferdinand Gutzkow (1811-1878), deutscher Schriftsteller, Dramatiker und Journalist

Karl Ferdinand Gutzkow (1811-1878), deutscher Schriftsteller, Dramatiker und Journalist

Karl Emil Franzos (1848-1904), österreichischer Schriftsteller und Publizist

Karl Emil Franzos (1848-1904), österreichischer Schriftsteller und Publizist

Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781), wichtigster Dichter der deutschen Aufklärung

Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781), wichtigster Dichter der deutschen Aufklärung

Max Nordau (1849-1923), Schriftsteller, Politiker und Mitbegründer der Zionistischen Weltorganisation und Herzls Hausarzt in Paris

Max Nordau (1849-1923), Schriftsteller, Politiker und Mitbegründer der Zionistischen Weltorganisation und Herzls Hausarzt in Paris

Francois Voltaire (1694-1778), französischer Schriftsteller

Francois Voltaire (1694-1778), französischer Schriftsteller

Martin Luther, (1483-1546) dt.Reformator

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Johannes Calvin (1509-1564), Reformator französischer Abstammung und begründer des Calvinismus

Johannes Calvin (1509-1564), Reformator französischer Abstammung und begründer des Calvinismus

Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), deutscher Dichter

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August Wilhelm Jffland (1759-1814), Schauspieler, besonders bedeutend in Rollen Shakespeares

August Wilhelm Jffland (1759-1814), Schauspieler, besonders bedeutend in Rollen Shakespeares

Theodor Herzl (1860-1904), österreich-jüdischer Schriftsteller und Publizist

Theodor Herzl (1860-1904), österreich-jüdischer Schriftsteller und Publizist

William Skakespeare (1564-1616), englischer Schriftsteller und Dramatiker

William Skakespeare (1564-1616), englischer Schriftsteller und Dramatiker

Satirische Literatur

Satirische Literatur "Das Narrenschiff"

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