Der Estherstoff in der neueren Literatur

Der Estherstoff in der neueren Literatur

Zu den wichtigsten Aufgaben der vergleichenden Literaturgeschichte gehört es, die Wanderung eines Stoffes durch die verschiedenen Zeiten und Völker zu verfolgen. Unter diesen Stoffen sind es besonders die antiken und die biblischen, welche das Interesse des Forschers erregen; unter den Dichtungsarten, auf die diese Methode angewendet wird, steht das Drama in erster Linie.


Seit der Zeit der Wiederbelebung der Wissenschaft, die man kurz als Renaissance zu bezeichnen pflegt, stritten Bibel und Antike um die Gunst des literarischen Publikums. Die Bibel trat, seitdem sie durch den Protestantismus zum Volksbuche geworden war, in den Vordergrund, und Stoffe wie Josef und Saul, Susanna und Tobias gehören zu denen, die während des Reformnationszeitalters von manchen europäischen Nationen, nicht nur den dem Protestantismus angehörigen, dramatisch behandelt werden. Der Unterschied zwischen diesen und dem Estherstoffe, dem diese Betrachtung gilt, besteht nun darin, daß alle jene Stoffe ihre literarische Anziehungskraft seit dem 16. Jahrhundert eingebüßt zu haben scheinen, während der Estherstoff fast allein von großen Dichtern der späteren Zeiten benutzt worden ist.

Uber die Schicksale der Esther gibt uns Kunde das gleichnamige Büchlein, das einen Teil der hebräischen Bibel bildet. (Hagiographa, Kessuvim.) Einige Kapitel sind in der griechischen und lateinischen Übersetzung hinzugefügt worden; nur die letzteren machen einen Teil der Apokryphen aus.

Die Ansichten über die Entstehung des Buches sind nicht sonderlich verschieden. Denn die Anschauung, daß die Männer der großen Synagoge, oder etwa Mordechai selbst, das Buch geschrieben haben, wird gewiß nur von wenigen Strenggläubigen geteilt. Da das Purimfest schon 160 vor der bürgerlichen Zeitrechnung gefeiert wurde, so muß das Buch damals schon längst existiert haben. Die verbreiterte Ansicht ist die, daß das Werk aus wirklich geschichtlichen Vorgängen beruht, wenn auch gewiß manche einzelne Züge zur Ausschmückung erfunden sind. Es mag etwa im Jahre 400 v. Ehr. geschrieben sein, und zwar von einem, der nicht in Palästina, sondern im eigentlichen Persien, vielleicht in Susa selbst gelebt hat. Der Inhalt des biblischen Buches ist folgender:

Die Königin Vasti weigerte sich, bei einem Gastmahl ihres Gatten, des Herrschers Ahasverus, zu erscheinen, um sich nicht den betrunkenen Gästen zur Schau zu stellen. Sie wurde deshalb ihrer Stelle entsetzt, Mädchen aus dem ganzen Reiche wurden ausgewählt und aus ihrer Zahl Esther, Nichte und Pflegetochter des Juden Mordechai, zur Gemahlin des Königs erhoben. Mordechai, der durch ihren Einfluß eine kleine Stelle am Hofe erhalten zu haben scheint, entdeckte eine Verschwörung wider den König, erlangte aber für seine Tat keine Belohnung, nur deren Aufzeichnung in der Chronik des Reiches. Er weigerte sich, vor Haman, dem zum ersten Minister Erhobenen, sich zu beugen, wohl nicht aus bloßem Trotz, sondern aus religiösen Gründen, entweder weil an dessen Kleidung sich Götzenbilder befanden, oder weil ihm das Beugen vor Heiden als gottlos erschien. Gereizt durch diesen Widerstand, erlangte Haman den Befehl, nicht bloß Mordechai, sondern alle Juden zu vertilgen. Diese Nachricht kam der Esther zu, die ihren Oheim in Sack und Asche vor dem Palaste sitzen sah. Sie versuchte den König günstig für ihr Volk zu stimmen und lud zu diesem Zwecke ihn und Haman zu sich ein. In der vorausgehenden Nacht aber ließ sich der König, um seine Schlaflosigkeit zu bekämpfen, aus der Reichschronik vorlesen und erfuhr die unbelohnt gebliebene Tat des Mordechai, ließ Haman kommen und erteilte ihm, der selbst den Rat dazu gegeben, freilich im Glauben, daß ihm die Ehren bestimmt seien, den Auftrag, Mordechai in ausgezeichneter Weise öffentlich zu ehren. Durch diese Erhebung ihres Oheims hatte Esther leichtes Spiel, sie wußte den König gegen Hamans Pläne einzunehmen, der königliche Zorn wurde zur sinnlosen Wut, da er Haman ans dem Ruhelager der Königin erblickte und diese Lage nicht als die eines Hilfeflehenden, sondern eines, der Gewalt gegen die Königin brauchen wollte, auffasste. Nun wurde Haman gehängt, Mordechai erhielt des Gegners Haus und Güter und wurde an dessen Stelle erhoben. Der gegen die Juden gerichtete Befehl konnte zwar, weil einmal erlassen, nicht zurückgenommen werden, wohl aber wurde ein anderer gleichfalls durch das ganze Reich verbreitet, der den Juden das Recht der Verteidigung zusprach. Sie machten so ausgiebig davon Gebrauch, daß 75.000 Perser an einem Tage getötet wurden.

Die Juden begehen den Tag, der ironisch als der Tag der über sie geworfenen Lose, Purim bezeichnet wird, als Freudentag für alle Zeiten.

Das Büchlein Esther ist gewiß keines der schönsten der Bibel. Es ist durch und durch orientalisch, nicht bloß in seiner Erzählung, sondern in seiner Tendenz. Es soll die Lehre verkünden, daß der Mann Herr sein solle in seinem Haus und von der Frau unbedingten Gehorsam zu fordern habe. Es bietet eine unhistorische Rühmung der Juden gegen die Andersgläubigen: während Haman die Vernichtung der Juden vorschlägt, mit der ausgesprochenen Absicht, sich oder dem Staate ihr Vermögen zu verschaffen, wird dreimal ausdrücklich betont, daß die Juden „keine Hand an die Beute legten“.

Das Buch leidet ferner an abgeschmackten Übertreibungen und unglaubwürdigsten. Wie unsinnig ist es, glauben zu machen, daß die Juden ungestraft 75.000 Landeskinder töten konnten. Es ist ferner durchaus unglaubwürdig, daß für die Entdeckung einer Verschwörung Mordechai nicht belohnt wird, und ein überaus plumper Kunstgriff, daß die Schlaflosigkeit des Königs die Erinnerung an diese Unterlassung wecken muß.

Auch die Charakteristik der Hauptheldin ist nichts weniger als ideal. Esther selbst erscheint keineswegs als ein Wesen höherer Ordnung; nur das äußerliche, „schön von Gestalt und schön von Ansehen“, wird hervorgehoben; von Geist und Gemüt wird nicht gesprochen. Eine ihrer Haupteigenschaften ist Schlauheit: nach dem Auftrage des Mordechai verschweigt sie ihren jüdischen Ursprung, auf den Rat des Hüters der Frauen beweist sie, so oft sie auch zum König gerufen wird, bescheidene Zurückhaltung und befestigt sich dadurch in seiner Gunst. Auch daß sie Haman außer dem König zu sich einlädt, ist ein Zeichen dieser Schlauheit, weil dadurch der Feind sich weiter in Sicherheit wiegt. Zur Schlauheit tritt bei ihr die Rachsucht, denn es ist ihr Werk, daß die Leiber der zehn getöteten Söhne Hamans noch an den Galgen gehängt werden. Ein fernerer Zug ihres Charakters ist der Egoismus. Sie ist gar sehr auf ihre Erhaltung bedacht und verlangt dreitägiges Fasten ihrer Glaubensgenossen, damit ihr Unternehmen gelinge.

Gegenüber diesen wenig günstigen Charaktereigenschaften ist freilich die Dankbarkeit gegen ihre Verwandten und das Festhalten an ihrem Glauben zu erwähnen; man kann jedoch nicht sagen, daß diese Eigenschaften in idealer Verklärung erscheinen, indem Esther einen ziemlich schweren Kampf zwischen diesen und ihrer Liebe zur Ruhe zu bestehen hat.

Im Gegensatz zu Esther spielt Mordechai eine viel rühmlichere Rolle, so daß, wenn man auch an ihn als Autor nicht zu glauben braucht, eine Beziehung zwischen' dem Verfasser und der Partei oder dem Geschlecht des Mordechai angenommen werden könnte. Er zeichnet sich durch völlige Interesselosigkeit und Bescheidenheit aus. Trotz der großen Ehre, die ihm bei dem Umzuge zuteil wurde, wird er kein anderer; es heißt vielmehr unmittelbar nach jener Schilderung: „Und Mordechai kehrt zum Königstor zurück“. Wie man nun auch diese Stelle auffasst: entweder er habe dort aus einem Beobachterposten gesessen, oder er habe ein unbedeutendes Hofamt bekleidet, die Stelle beweist die Nichtunterbrechung seiner gewöhnlichen Lebensweise, seiner üblichen Beschädigung. Mordechai wird ferner charakterisiert durch das Vertrauen, das er aus Gott setzt. „Wer weiß“, so redet er Esther an, „ob du nicht für solche Zeit wie diese zur Herrschaft bestimmt bist“, aber er verzweifelt auch nicht für den Fall, daß sie etwa nicht geneigt sei, den Ruf anzunehmen, wolle sie nicht, so wird „Ausatmung und Rettung von einem anderen Orte kommen“. Aber die ganze Charakteristik Mordechais ist kein Meisterstück, und auch die zwei anderen stärker hervortretenden Persönlichkeiten, Haman und Ahasverus, sind die gewöhnlichen Typen des absoluten Bösewichts und des orientalischen Herrschers.

Aber auch der Midrasch im Buche Esther, auf den allein der Kürze halber hingewiesen werden soll, verfolgt nicht die Aufgabe, den poetischen Kern herauszuschälen, sondern gibt unzählige Anekdoten, weitschweifige Erklärungen und holt viel Ungehöriges, zum Verständnis Unnötiges herbei.

Wenn die Philologen und Prediger Material zu ihren Studien und Reden aus dem Midrasch zu schöpfen vermögen, so wird der Ästhetiker hier leer ausgehen. Höchstens an einzelnen Bemerkungen hat er seine Freude. Zu den hübschen Erfindungen gehört z. B. die Erzählung: In demselben Moment, da Haman das Los herausforderte, erscholl die Stimme Gottes: „fürchte dich nicht, Versammlung Israels! Kehrst du in Buße zu Gott ein, so trifft ihn das Los statt deiner.“ Oder das Bild, in welchem der eine Hochmut Hamans verspottet wird, statt des einzelnen Beleidigers das ganze Volk zu treffen: „Er gleicht einem Vogel, der ein Nest beim Meer erbaute. Eines Tages schwemmte die Welle sein Nest hinweg. Da geriet er in großen Zorn und wollte dafür das Meer erschöpfen und versanden.“

Jahrhunderte liegen zwischen diesen Ausschmückungen und den ersten Versuchen, den Estherstoff dramatisch zu bearbeiten. Das 16. Jahrhundert, das sogenannte Reformationszeitalter, ist die Epoche, in der die kunstmäßige Bearbeitung des Dramas beginnt, aber keine Blütezeit.

Die Technik ist noch höchst unvollkommen. Versuche zur durchgreifenden Charakteristik werden wenig oder gar nicht gemacht; die Dramatiker haben eine so naive Freude au dem Stoss, daß sie jeden neu gefundenen als eine angenehme Beute betrachten. Daher kommt es, daß derselbe Stoff in einer kurzen Spanne Zeit von verschiedenen so häufig behandelt wird, und daß auch der unsrige in jenem Zeitalter mehr als ein Dutzend Bearbeitungen erlangt hat. Sie stehen untereinander in enger Verbindung, nicht nur dadurch, daß sie sich alle an die Bibel anlehnen, sondern auch dadurch, daß sie den ersten der Bearbeiter, Hans Sachs, der zweimal demselben Stoff sich zugewendet hat, zum Muster nehmen. Es lohnt sich nicht, jedes einzelne dieser Dramen besonders zu behandeln, sondern es genügt, einzelne charakteristische Züge hervorzuheben. Dazu gehört die Einfügung von Engeln und besonders von Teufeln. Die letzteren werden ausgesandt, um die Juden zu verderben. In der Charakteristik Hamans zeigt sich einzelnes Reue, z. B., daß er nicht zu der Mahlzeit Esthers gehen will aus einer Art von innerem Widerstreben. Auch wird gelegentlich berichtet, daß der König in seinem ersten Zorn Haman niederstechen will, durch einzelne Getreue jedoch an der Ausführung dieses Planes gehindert wird. Gerade diese Hamanfigur wird in dem vielleicht bedeutendsten Drama jener Zeit von Thomas Naogeorg, das erst in dem Moment beginnt, da Esther Königin ist, am bestell herausgearbeitet. Dort ist Mordechais Entdeckung der Verschwörung das eigentliche Motiv des Hasses des Ministers gegen die Juden, weil jene Verschwörer Hamans Freunde oder Günstlinge waren. Der Minister wird als schrecklich jähzornig, als roh gegen seine Untergebenen, selbst gegen seine Frau, geschildert. Dem Haman steht eine Gegenpartei gegenüber, deren Führer der Kanzler Charsenas ist, der den König beständig gegen Haman aufzuhetzen sucht.

Den naheliegenden Versuch, bei der Schilderung der Niederlage des Judenbedrängers und des Triumphes der Juden Anspielungen aus die täglich beobachtete klägliche Stellung der damaligen Juden zu machen, wagte man nicht. Dagegen versuchte ein Dichter das Ganze symbolisch zu deuten, Haman als Vertreter des Judentums zu schildern, der Christus nicht anerkennt, ja an den Galgen zu bringen sucht. Derselbe Dichter sieht in Mordechai den Stifter des Christentums, in Esther die Heiden, in Vasti die Halbgläubigen, die dem Rufe Gottes nicht zu folgen vermögen. Ja, der schon angeführte Thomas Naogeorg „denkt bei Mordechai an die guten Protestanten, bei Haman an die bösen katholischen Ränkeschmiede, bei Ahasver an die geweihten Freunde des Protestantismus auf dem Throne“. Besonders charakteristisch in diesen Reformationsdramen sind die possenhaften Szenen. Sie treten am meisten hervor in einem Estherdrama, das zum Repertoire der „englischen Komödianten“ gehört, vielleicht auch aus englischen Quellen beruht und jedenfalls in England ebenso wie in Deutschland ausgeführt wurde. Ahasverus und Vasti nämlich steht der aus dem Volke stammende Hans mit seiner Frau gegenüber. Die Eheszenen zwischen diesen beiden nehmen einen mindestens ebenso breiten Raum ein, wie die eigentliche Staatsaktion. Es sind Prügel- und Schimpfszenen, in denen die Frau meist die Oberhand behält. Die Streitenden kommen sogar vor den König, der schließlich eine etwas obszöne Entscheidung fällt. Das Drama ist charakteristisch dadurch, daß es bei Ahasverus und Mordechai namentlich die Güte hervorzuheben sucht. Der König ist der edle Patriarch, auch Mordechai der gute Mensch, der z. B. für die zehn Söhne Hamans, die von anderen dem Verderben geweiht sind, ein freundliches Wort einlegt. Für Esther ist ein charakteristischer Zug die Ironie. Bei ihrem Mahle trinkt sie dem Haman zu mit den Worten: „Ich weiß, du liebst die Juden, darum will ich dir auf ihre Gesundheit zutrinken“, woraus Haman feindliche Worte murmelt, jedoch nicht offen zu widersprechen wagt und so tut, als wenn er der Königin folgte, aber das meiste auf die Erde gießt.

Das Stück, an und für sich nicht unbedeutend, gewinnt hauptsächlich Interesse dadurch, daß es von Shakespeares Truppe unter Beteiligung des Dichterschauspielers aufgeführt wurde. Man widersteht nur ungern der Versuchung, sich auszumalen, was wohl Shakespeare aus einem solchen Stoffe gemacht hätte! Daß das englische Schauspiel, soweit es uns überliefert ist, keine Spur seines Geistes zeigt, ist klar, andererseits aber ist bekannt, daß er die Stücke, in denen er mitwirkte, niemals ohne lebhaftes Interesse beobachtete.

Ist es nun leider nicht möglich, den großen britischen Dichter an der Arbeit zu sehen, so wird uns wenigstens das Glück, einen der größeren französischen Dramatiker des 17. Jahrhunderts, Racine, als Bearbeiter des Estherstoffes zu würdigen.

Racine hat aus dem 16. Jahrhundert viel entnommen. Er ist auch von einem Zeltgenossen du Ryer abhängig. Doch kann dieser Zusammenhang hier nicht näher verfolgt werden, da man bei seiner Darstellung auf die kleinsten Einzelheiten eingehen müsste. Außer der ästhetischen Bedeutung seines Dramas kommt aber zweierlei in Betracht: Das Theater der klassischen Periode Frankreichs hatte seine Vorlagen bisher ausschließlich in dem antiken Drama gefunden. Durch Esther wird mit weit größerer Autorität als bisher auch die Bibel als Stoffgebiet erobert. Freilich geschah dies nicht durch den freien Willen des Dichters, sondern infolge höheren Auftrags. Doch blieb Racine auf dem einmal eingeschlagenen Wege und ließ der „Esther“ eine „Athalie“ folgen.

Noch eine andere Tendenz macht sich bei Racine bemerkbar. Während das Reformationsdrama in einzelnen dramatischen Persönlichkeiten ganze Zeit- und Glaubensrichtungen wiedergibt; während einzelne Figuren die Träger ganzer Richtungen sind (Katholizismus, Protestantismus), soll Racine in einigen seiner Personen satirische Schilderungen einzelner Hofleute gegeben haben. Danach wäre Esther die Auftraggeberin des Dichters, Frau von Maintenon, die verstoßene Vasti Madame du Montespan, die früher die Hauptgunst des Königs besaß, Haman Louvois gewesen, der durch seilt stolzes Wort: „Der König weiß, daß er mir alles schuldet“, charakterisiert sein soll, und wenn auch wohl schwerlich Mordechai ein Abbild Colberts ist, so mochte die Verfolgung der Juden als eine Anspielung auf die durch die Aufhebung des Ediktes von Nantes wieder eingeführten Protestantenverfolgungen erscheinen.

Der Inhalt der Racineschen Tragödie ist folgender:

1. Akt: Esther mit ihrer Freundin Elise im Gespräch über die Wendung ihres Schicksals. Mordechai unterrichtet Esther von dem Bluterlass, fordert und erlangt ihre Teilnahme. Esther stärkt sich für die von ihr zu unternehmenden Schritte durch Gebet.

2. Akt: Hydaspe meldet Haman von der Schlaflosigkeit des Königs in der vergangenen Nacht und von der infolge davon eingetretenen Vorlesung der Chronik. Haman äußert seinen Zorn über Mordechai. Ahasverus und Haman, Frage über die Ehrung des Mannes, Antwort Hamans in der Voraussicht, daß er gemeint sei, Bestimmung des Ahasverus, Audienz der Esther, Bitte, daß er mit Haman bei ihr erscheine, sie habe ihm ein großes Geheimnis anzuvertrauen.

3. Akt: Unterredung zwischen Haman und seiner Frau. Haman wird zur Königin geladen. Alle drei, außerdem Elise, kommen vom Mahl. Esthers Erklärung, Entfernung des Königs, Hamans Bitte, Unverständnis des Ahasverus, Vernichtung Hamans, Einsetzung Mordechais.


Racines Tragödie entnimmt natürlich ihren Stoff fast ausschließlich dem Buche Esther, wodurch sich viele Anspielungen und wörtliche Anlehnungen an dieses Buch erklären. Missverständnisse sind verhältnismäßig selten. Doch läßt Racine den Mordechai vor der Tür des Palastes sitzen, nicht als Beamten, sondern wie einen Bettler, der die noch nicht erfolgte Belohnung für die ihm geglückte Entdeckung der Verschwörung erwartet. Außer Reminiszenzen an das Buch Esther sind auch sonst viele biblischen Ausdrücke in dem Drama enthalten (Jesaias, Psalmen). Nur einige wenige mögen hervorgehoben werden, zu denen die Kundigen leicht die hebräische Fassung ergänzen können, wobei freilich zu bemerken ist, daß Racine gewiß eine lateinische Übersetzung vor Augen oder im Sinne hatte. Einige dieser biblischen Sprüche lauten: „Sein (Israels) Name wird nicht zugrunde gehen.“ „Gott spricht, und die Menschen kehren zum Staube zurück.“ „Durch den Ton seiner (Gottes) Stimme wird die Erde erregt.“ „Alle Menschen sind vor seinen Augen, als wenn sie nichts wären.“ „Ich hebe meine Augen zur Höhe, von wannen mir Hilfe kommen soll.“ „Damit die Heiden nicht sprechen: Wo ist ihr Gott?“ „Mit Licht umhüllt wie mit einem Kleide.“ „Der Du über den Schwingen der Winde wandelst.“

Die Racinesche Tragödie zerfällt in drei Akte. Einheit des Ortes und der Zeit ist in dem Drama nicht so streng gewahrt wie in den übrigen Racineschen Stücken. Im ersten Akt ist ein Zimmer Esthers, im zweiten ein Saal des Ahasverus, im dritten Esthers Garten der Schauplatz. Diese halbe Wahrung der Ortseinheit führt freilich zu manchen Ungehörigkeiten, denn es ist nicht eben leicht anzunehmen, daß in dem Privatgarten der Königin ein geheimes Gespräch zwischen Haman und seiner Frau und eine Ladung Hamans durch seinen Getreuen stattfindet, während die übrigen Szenen, teils Chorgesänge, teils das entscheidende Gespräch zwischen Ahasverus und Esther, die Anklage und Verurteilung Hamans ganz wohl an diesem Platz sich vollziehen können.

Jedoch wird Racine durch die Beschränkung auf wenige Schauplätze genötigt, sich die wichtigsten Szenen entgehen zu lassen. Man denke, wie ein feiner Psychologe jene Nachtszene hätte schildern können, in der der schlaflose Ahasverus sich die Kunde des wider ihn geplanten Verbrechens nochmals verschafft und sich wegen der Nichtbelohnung des Retters abquält! Oder man denke, mit welchen Mitteln in jener prachtliebenden Zeit der Zug des vom König Begnadeten hätte dargestellt werden können, zu welch aufregenden Szenen die versammelte Volksmenge Anlaß gegeben hätte, in der Haß gegen den Günstling des Königs, die Abneigung gegen den zu hoher Macht erhobenen Juden gleich stark vorhanden waren und in Ausrufen und in kleinen Aufstandsversuchen sich hätten zeigen können.

Auch die Einheit der Zeit nötigt zu Seltsamkeiten, besonders zum Zusammenziehen der Handlung. Daher ist bereits am Anfang des Stückes der durch Haman bewirkte Befehl zur Tötung der Juden ergangen, und man mag das Ganze als eine in 24 Stunden sich abrollende Handlung annehmen. Da die Handlung für drei Akte infolgedessen sehr dürftig wird, sind viele Chorgesänge eingefügt. Diese Gesänge werden von den Begleiterinnen der Esther, von jungen Jüdinnen, vorgetragen. Gerade diese lyrischen Partien sind gewiß die schönsten des ganzen Stückes.

Von den Personen des Stückes sind die genannten vier nicht bloß die hauptsächlichen, sondern man kann sagen die einzigen. Alle sonst Vorkommenden nehmen nur die Stelle von Vertrauten ein, die ja in der französischen Tragödie des 17. Jahrhunderts eine so große Rolle spielen und hauptsächlich dazu dienen, die lästigen Monologe zu vermeiden und das dem Publikum zu wissen nötige in Dialogen vorzuführen. Die neu erfundenen Personen dienen also, wie man wohl sagen kann, eigentlich nur als Sprachrohr, Elise für Esther, Assaf für Ahasverus, Hydaspe und Zares, letzteres die Gattin, für Haman.

Während Racine im allgemeinen treu der biblischen Handlung folgt, hat er zur Charakteristik der Hauptpersonen manches Neue hinzugefügt. Um Hamans mordlustige Gesinnung, sein Austreten gegen die reichen und mächtigen Juden zu erklären, erzählt er, daß er ursprünglich Sklave gewesen sei und sich erst allmählich zu hohem Ansehen erhoben habe. Er ist ein Ehrgeiziger, dessen Pläne allen verborgen sind, außer seiner Frau. Diese sucht ihm ins Gewissen zu reden, daß seine Sorge für das Reich und den König nur eine angebliche, und daß sein Auftreten gegen die Juden nur die Wirkung seiner zügellosen Herrschsucht und seines übereifrigen Strebens nach Selbstbereicherung sei. Auch Ahasverus wird nicht als der bloße Lüstling, Schwelger und als der Tyrann dargestellt, der reuelos augenblicklicher Eingebung folgt und ohne Bedenken Bluturteile unterschreibt, er ist vielmehr, man möchte sagen, ein modern denkender Antisemit. Es tut ihm leid, nach dem Vorschlag Hamans den Mordechai zu großen Ehren befördern zu müssen, und er tröstet sich über diese Ehrung nur dadurch, daß er meint, durch solche Gnade würden die übrigen Juden in ihrer Königstreue noch bestärkt werden.

Zu dieser Handlung, an der Ahasverus beteiligt ist, kommt das Reue hinzu, daß er von dunklen Träumen gepeinigt, die Chaldäer, Astrologen, versammelt, um das ihm drohende Schicksal zu erfahren; das Orakel, das diese verkünden, ist durchaus im Sinne alter Orakelsprüche sehr dunkel: „die Hand eines treulosen Flüchtlings sei bereit, in das Blut der Königin zu tauchen“. Dies konnte von den Judenfeinden auf die Juden bezogen werden, da ihnen bis zuletzt die jüdische Abkunft Esthers unbekannt blieb. Zum Schlusse wird sie als aus Haman gemünzt betrachtet, weil ja seine flehende Stellung vor Esther als ein Attentat auf sie aufgefasst wird.

Auch der Charakter der Esther erleidet einige Veränderungen. Sie ist die eifernde Jüdin, die Tag und Nacht über das Schicksal ihrer Glaubensgenossen nachdenkt. Sie weiß von dem König durch Bitten zu erlangen, daß sie eine Anzahl junger Jüdinnen in ihren Dienst ziehen darf, die den schon erwähnten Chor ausmachen. Um die Sorge für ihre Glaubensgenossen gerechtfertigter erscheinen zu lassen, stellt Racine das Schicksal der Juden im persischen Reiche noch schlimmer und bedrückter dar, als es in Wirklichkeit war.

Wichtiger indessen als Handlung und Charaktere sind die lyrischen Partien, teils die Chorgesänge, teils einzelne Gebete Esthers. Aus beiden gebe ich hier Proben nach eigener metrischer Übersetzung.

Zunächst das Gebet der Esther, da sie sich rüstet, zu dem König zu gehen.

Mund, Herz und alles, was ich bin,
Gott gönn’ ich Preis und Ruhm,
In Furcht und Leid geb' ich ihm hin
Mich ganz zum Eigentum.
Ruft er mich, schnell bin ich bereit
Zu seines Namens Herrlichkeit.

Der Fromm’ empfängt der Tugend Lohn,
Behagen, Reichtum, Ruhm.
Allnächtlich süßer Engelton
Schließt ihm die Augen zu,
Umringt von trauter Kinderzahl,
Der Zukunft blinkt des Namens Strahl.



Sodann einen Chor der Israelitinnen:

Zion, das wir beweinen, was ward aus deinem Glanz,
Dein Ruhm, einst so bewundert, umstrahlt von Schönheit Glanz.
Zum Staub bist du geworden, die Größe ist dahin,
Und trauriges Gedenken bleibt einher Gewinn.
Zum Himmel stiegst du einstens, zur Höll’ sankst du herab,
Doch dem ich dem mit Schmerzen und Liebe bis zum Grab.
Ihr Jordansufer, Felder, geliebt von Himmelshöh’n,
Ihr Berge und ihr Täler, die Wunder viel geseh'n,
Du süßes Land der Ahnen, soll'n wir dich nimmer schau'n,
Soll’n nie der Völker Scharen ein neues Zion bau’n?


Und endlich ein Wechselgesang:

Die eine spricht:

Ich bin so jung, hab ich den Tod verdient?
Kaum aufgeschlossen ist des Lebens Keim
Und soll schon welken, wie die Blume sinkt,
Die nur ein einzig Morgenrot gesehen?


Die andere spricht:

Nicht unsere Sünde führt in frühes Grab,
Wir büßen, selber schuldlos, fremden Fehl.
Die sünd’gen Väter zehrten Sündenfrucht,
Wir leiden Straf’ für das, was sie Verbrochen.


Der ganze Chor:

Doch Gott, der siegreich ist, der eifervolle,
Er bleibt der Herr, vor dem die Volker zittern,
Der einzig Eine, der im Himmel herrscht,
Nach dessen Wink sich Blitz und Donner richten,
Nicht eure Götter.


Auf Racine folgt Goethe. Vielleicht sind manche unter den Lesern, die ihren Goethe zu kennen glauben, verwundert, wenn sie seinen Namen an dieser Stelle finden, denn ein Drama unter dem Titel „Esther“ hat Goethe nicht geschrieben. Doch findet sich ein kleines Estherdrama als Einlage in Goethes „neu eröffnetem, moralisch-politischem Puppenspiel“. Diese Sammlung erschien 1774 und enthielt wie einige fast gleichzeitige Dramen satirische Darstellungen, gegen die Kunst- und Literaturrichtung jener Zeit gerichtet. Die empfindsamen Männlein und Fräulein werden darin ebenso gehöhnt, wie die Großen im Reiche des Geistes, Wieland, vielleicht auch Herder, die Handwerker, die sich Künstler nennen, die aber den wahrhaft goldenen Boden der Kunst zu einem bloß goldenen Ertrag gebenden entweihen, Dichter und Prosaschriftsteller, Kritiker und Zeitungsschreiber. In einer dieser Satiren, dem „Jahrmarktsfest von Plundersweilern“, in dem die literarischen Bewegungen jener Zeit unter der Hülle eines bunten Markttreibens vorgeführt werden, kommt auch eine zu dem Jahrmarktstreiben gehörige dramatische Bearbeitung vor. Es werden an verschiedenen Stellen zwei Akte eines unvollendeten Trauerspiels „Esther“ gegeben. Davon liegen nun zwei Fassungen vor, von denen die zweite erst 1789 erschien und vermutlich im Laufe der zehn ersten Weimarer Jahre, man weiß nicht genau wann, entstanden ist. Die beiden Fassungen unterscheiden sich äußerlich dadurch, daß die erste in Knittelversen, vierfüßigen gereimten Jamben, die zweite in Alexandrinern geschrieben ist; innerlich weichen sie dadurch voneinander ab, daß die letztere, wie es schon die Versform andeutet, einen Widerspruch gegen Racines hohlen Prunk darstellt, die erstere eine Satire aus manche Richtungen der Zeit und den Gegensatz gegen den flachen Rationalismus und die gemachte Empfindsamkeit geben soll. Man geht daher nicht irre, wenn man in Mordechai den empfindsamen Leuchsenring, in Haman den geschworenen Pfaffenfeind La Roche sieht, in Ahasverus Merck erkennt, dessen mephistophelisches zynisches Wesen ebenso gut wiedergegeben ist, wie seine wohltuend menschlichen Charakterzüge, die Abneigung gegen jeden Zwang, besonders in Gewissensfragen. Für Esther selbst ist ein bestimmtes Vorbild nicht gefunden worden, doch wird man nicht fehlgehen, wenn man in einer der Frauen des Darstellerkreises ihr Vorbild sucht. Der Inhalt der ersten sehr kurzen — nur 79 Zeilen enthaltenden — Fassung ist etwa folgender.

Haman will die Juden vertilgen, Ahasverus will Ruhe haben und zieht den Schlaf dem Fassen wichtiger Beschlüsse vor. Auch Esther ist ruhebedürftig. Mordechai redet lange vergeblich in sie hinein. Endlich entschließt sich Esther, so ungern sie es tut, zu Ahasverus zu gehen.

Die zweite etwa dreimal so große Fassung ist eine witzige Karikatur. Hier ist Ahasverus der Schlemmer, der sich in seinem leiblichen Wohlbehagen nicht stören lassen will und recht böse wird, wenn es ihm an den Bauch geht. Haman, der Schmeichler, wagt, ihn an diesem wunden Punkt zu packen. Die Schreckbilder Hamans wehrt Ahasverus zuerst ab:

„Mein Freund, ich lobe dich; du sprichst nach deiner Pflicht;
Doch wie’s ihr andre seht, so sieht’s der König nicht.
Mir ist es einerlei, wem sie die Psalmen singen,
Wenn sie nur ruhig sind und mir die Steuern bringen.“


wird aber selbst erregt, als Haman ausgesprochen, daß sie noch anderes im Sinne haben.

Haman:
Ach, Herr, sie wagen sich vielleicht an deinen Leib.

Ahasverus (zusammenfahrend):
Wie? Was?

Haman:
Es ist gesagt. So fließet denn, ihr Klagen!
Wer ist wohl Manns genug, um hier nicht zu versagen?
Tief in der Hölle ward die schwarze Tat erdacht,
Und noch verbirgt ein’ Teil der Schuldigen die Nacht.
Vergebens, daß dich Thron und Kron’ und Zepter schützen;
Du sollst nicht Babylon, nicht mehr dein Reich besitzen!
In fürchterlicher Nacht trennt die Verräterei
Mit Vatermörderhand dein Lebensband entzwei;
Dein Blut, wofür das Blut von Tausenden hingegossen.
Weh heulet im Palast, Weh heult durch Reich und Stadt,
Und Weh, wer deinem Dienst sich aufgeopfert hat!
Dein hoher Leichnam wird wie schlechtes Aas geachtet,
Und deine Treuen sind in Reihen hingeschlachtet!
Zuletzt, vom Morden satt, tilgt die Verräterhand
Ihr eigen schändlich Werk durch allgemeinen Brand.


Ahasverus:
Oh weh! Was will mir der? Mir wird ganz grün und blau!
Ich glaub’, ich sterbe gleich. — Geh’, sag es meiner Frau!
Die Zähne schlafen mir, die Kniee mir zusammen,
Mir läuft ein kalter Schweiß! Schon seh’ ich Blut und Flammen.


Haman:
Ermahne dich!

Ahasverus:
Ach! Ach!

Nun kennt der König in seiner Erregung keine Grenzen. Er möchte gleich zehntausend Galgen bauen lassen, eine Verschwendung, die Haman mit den Versen zu bekämpfen sucht:

Unüberwindlichster! Hier lieg’ ich, bitte Gnad’!
Es wär’ ums viele Volk — und um die Waldung schad’.


Nach seinem Vorschlag sollen nur die Reichsten getötet werden, auf das Drängen des Königs wird Mordechai genannt, für den der weise Minister schon einen Galgen fürsorglich aufgebaut hat, worauf Ahasverus den Akt mit den Worten schließt:

Und fragt mich jetzt nicht mehr! Ich hab’ genug getan;
Beschlossen hab’ ich es, nun geht’s mich nicht mehr an.


Der zweite Akt beginnt mit dem schrecklichen Gestöhne des Mordechai. Trotzdem weigert sich Esther, das Geringste zu tun, weil durch ihr Eingreifen außer den Juden auch sie selbst sterben, also durchaus nichts nützen würde. Ja, selbst als ihr Mordechai eine bewegliche Schilderung macht, wie er an dem Galgen baumeln soll, da hat sie nur die wenig tröstliche Antwort in Bereitschaft:

Gewiß groß Herzeleid! Doch kann ich es erlangen,
So sollst du mir nicht lang’ am leid’gen Galgen hangen;
Und mit sorgfält’gem Schmerz, vortrefflich balsamiert,
Begrab’ ich dein Gebein, recht wie es sich gebührt.


Ja, sie treibt den Zynismus so weit, daß sie ihm die Bitte vorträgt:

Ei, weißt du was, mein Freund, bedenke mich am Ende
Mit einem Kapital in deinem Testamente.


Sogar als er ihr auseinandersetzt, daß er gar nichts mehr zu vererben hat, ist sie noch nicht völlig überwunden, und das Ganze endet mit der zwar nicht durchaus hoffnungslosen, aber sicher nicht völlig siegesgewissen Rede Mordechais:

Bei Gott! hier soll mich nicht manch schönes Wort verdrießen!
Ich laß ihr keine Ruh’, sie muß sich doch entschließen.


Das Stück ist, wie man sieht, ein übermütiger Scherz. Es kam Goethe nicht darauf an, ein biblisches Stück poetisch zu bearbeiten, sondern nur daraus, die schon oben genannten Typen der Zeit zu schildern. In dieser Beziehung, als kleines Kunstwerk betrachtet, ist Goethes Drama geradezu klassisch.

Wenn in Goethes Drama die Verzerrung oder Verspottung von Aufklärungsideen hervortritt, so zeigt sich in einem Puppenspiel, das gleichfalls nach Weimar, aber in eine spätere Zeit, etwa 1830, also in die letzte Lebensperiode Goethes, führt, die echte Aufklärungsstimmung. Freilich, das Puppenspiel selbst ist ziemlich bedeutungslos wie die meisten seiner Art, so daß es nicht nötig ist, aus die einzelnen Vorgänge einzugehen. Charakteristisch ist aber auch für dies Puppenspiel, daß Kasperle die Hauptrolle spielt und daß sein Nichtverstehen einzelner jüdisch-deutscher Ausdrücke Mordechais — Esther spricht natürlich Hochdeutsch —- manche nicht unwitzige Bemerkungen hervorruft. Als einzige Stelle des Stückes, die wirkliche Aufklärungstendenz verrät, und von der es uns freuen mag, daß sie gerade aus Weimar stammt, mag die folgende hervorgehoben werden. Als Haman den König davon abzubringen sucht, dem Mordechai die ihm zugedachte Ehre zu erweisen, mit der Begründung, daß der zu Ehrende nur ein Jude sei, entgegnet ihm der König:

„Was ist das für ein Ausdruck, nur ein Jude? Ist ein Jude nicht ein Mensch wie ich und du? Sind die Juden nicht auch meine Untertanen?“

Das sind die Gesinnungen der neuen Zeit, in die wir nun treten. Der wirkliche Dichter sah sich einem anderen Geschlechte, einer anderen Entwicklung gegenüber. Die Juden hatten in der Revolutionszeit und in den Befreiungskriegen Bürgerrechte erworben. Sie waren gleichberechtigte Mitglieder des Volkes, in dessen Mitte sie wohnten. Sie hatten begonnen, durch ihre Geldmacht eine Weltstellung einzunehmen, eine wesentlich andere als die Hofjuden früherer Epochen. Sie versuchten, in Wissenschaft, Kunst und Literatur ihre Kräfte zu üben. Der wirkliche Dichter, der nun von ihnen sprach, der selbst in einem geschichtlichen Drama nicht von der Gegenwart abstrahierte, sondern in den Persönlichkeiten seiner Bühnenwerke manche literarische Vorbilder oder Personen seiner Bekanntschaft als Modelle benutzte, mußte ganz anders von den Juden und ihren Feinden reden, als die früheren Dichter. Also tat Grillparzer. Aber auch in anderer Beziehung wandelte er seine eigenen Wege.

Alle bisher behandelten Dramen lehnen sich unmittelbar und möglichst genau an das biblische Buch an. Erst Grillparzer trägt aus Eigenem hinzu. Sein Drama ist nicht vollständig erhalten. Nur der erste Akt ist vollendet; auch die erste Szene des zweiten Aktes ist vorhanden. Die wenigen Fragmente aus den folgenden Szenen vermögen uns ebensowenig ein Bild des Ganzen zu geben wie einige aphoristische Prosabemerkungen, welche in der neuen Ausgabe der Grillparzerschen Werke den poetischen Fragmenten folgen. Eins aber erkennt man deutlich: Es ist ein durch und durch modernes Stück, sowohl in der Erfindung des Stoffes als in den Charakteren der Personen.

Das Moderne besteht hauptsächlich in folgendem: Haman ist kein übermütiger Polterer, sondern ein schlauer Intrigant, der sich äußerlich schwächlich bezeigt, nin schließlich alles durchzusetzen, jedem nach dem Munde redet und besonders auch seiner Frau gegenüber keinen energischen Widerspruch wagt.

Diese Gattin scheint zu einer Hauptrolle bestimmt gewesen zu sein. Sie ist die Seele der Vastipartei, da sie die erste Hofdame der gestürzten Königin war. Dieser Partei gehören die vornehmen Hofbeamten überhaupt an, der ganze Hof ist infolge der Entfernung der Königin in Trauer, ebenso Ahasverus, der die Regierungsgeschäfte unerledigt liegen läßt und an einen Ersatz der Vasti nicht denkt. Dieser Gedanke einer Wiedervermählung, hauptsächlich durch Haman erregt, wird von der ganzen Rotte der Höflinge bekämpft und die ganz unorientalische, durchaus moderne Frage ventiliert, auf Grund welchen Rechtes Vasti denn eigentlich verjagt worden sei. Ahasverus ist nicht der schwelgerisch-verweichlichte, üppige orientalische Monarch, sondern aus einem ursprünglich milden, das ganze Menschengeschlecht mit seiner Liebe umfassenden Herrscher zum finsteren Tyrannen geworden, der die Höflinge haßt.

Mordechai und Esther sind Typen, die mit dem Konventionellen der jahrhundertelangen Tradition brechen. Mordechai ist der Forscher, der, von dem Leben abgewendet, nur in seiner Religion lebt.

Es lebt mein Geist in Zeiten, die nicht sind
Und die die heil’gen Bücher rück mir führen.
Ja, unser Volk, es ward von Gott bestimmt,
Zu sein der Gipfel dieser weiten Erde,
Der Mittelpunkt der Völker nah und fern.
Und wie der Sonne Pracht, wie Mond und Sterne,
Ob herrlich gleich ihr Reigen sich gebärde,
Geschaffen doch zum Dienst nur dieser Erde:
So aller Völker Glanz und Herrlichkeit,
In ihrer Siege, ihrer macht Vereine,
Für unser Volk, wie dunkel es auch scheine.


Esther ist das naive, weltfrohe — aber kluge und gute Kind. Sie ist fern von jedem Ehrgeiz, gar nicht von der Neigung erfüllt, dem Könige zu gefallen. Ja, sie treibt die Entsagung so weit, daß sie den König geradezu ans Vasti hinweist.

Das Zusammentreffen Esthers und des Ahasverus, nicht von dem König erzwungen, der vielmehr zornig ist über die Pläne, ihn zu beweiben, ist in seiner Schilderung durchaus modern. Der Herrscher befiehlt nicht, sondern er wirbt. Das Mädchen hat nicht zu gehorchen, sondern sie darf oder sie will überlegen. Es treten sich also nicht sinnliches Begehren und stummes Unterwerfen gegenüber, sondern leidenschaftliches Verlangen und mädchenhafte Erregung. Versteht man den Schluß des Fragments recht, so ist es eigentlich Esther, die, bezwungen von der milde und Trauer des Königs, den erstell Schritt tut. Denn Esther war entlassen, verfehlt die Tür, kehrt zurück. Die Sklaven, wähnend, daß die Entscheidung des Herrschers getroffen ist, bringen den königlichen Schmuck. Der König redet ihr zu, zu versuchen, wie er ihr steht.

(Da sie abhaltende Bewegung macht, indem er den Kranz wieder abgibt.)

Ich wußt’ es ja, mir ist kein Glück beschert
Und einsam wall’ ich zu des Todes Pforten.


(Esther ergreift schnell den Kranz und setzt ihn sich aufs Haupt.)

König:
Hadassa!

(Da Sie den Kranz wieder abnehmen will.)

Halt! laß ab! Berühr’ ihn nicht.
Es soll noch nicht Entscheidung sein, noch nicht! .—.
Führt sie hinein, gönnt Ruh zur Überlegung,
Ich selbst entferne mich nach jener Seite.
Und wenn nach einer kurzen Stunde Frist
Ich wiederkomme und von neuem frage:
Hadassa!


Esther:
(an der Tür stehen bleibend):

Herr!

König:
Es ist! Der Ton entschied.
Nun fort von hier! Ich selber will sie führen.


(Er hat sie umfasst.)

Und was du rneinst, vertrau’ es meinem Ohr.

(Sie gehen, die andern folgen.)

Nach gelegentlichen Ausführungen des Dichters sollte Religion und nicht die Liebe den Ausgang des Dramas bilden, das zu Ehren der Vermählung des Erzherzogs Karl mit der protestantischen Prinzessin Henriette bestimmt gewesen war. Esther verschwieg aus Mordechais Geheiß dem König den Umstand, daß sie eine Jüdin sei. Dieser, durch Haman gereizt, bestimmte nicht, wie nach der Bibel, die Tötung der Juden, sondern die Auslieferung ihrer heiligen Bücher und die Unterdrückung ihres Kultus. Dieser Beschluss jedoch sollte nicht zur Ausführung gelangen, denn dazwischen lag die schlaflose Nacht des Königs, in der er von Mordechais Verdiensten las, seine Ehrung, der das Bekenntnis Esthers von ihrem Judentum folgte oder voranging und die Bestrasung Hamans.

Trotz alledem jedoch sollte das Drama nicht mit einer Verklärung des Judentums, ja, nicht einmal mit einem völligen Siege der Esther enden. Vielmehr sollte auch sie sterben, nachdem sie, wie der Dichter sich etwas zynisch ausdrückt, „eine Kanaille geworden ist“ .... Sie stirbt oder führt ein qualvolles Leben neben dem krankhaft erregten König, nachdem ihr selbst die Rolle Hamans zugefallen ist, den Launen des Gebieters zu frönen und sie Mordechai, entweder weil er zu alt, oder weil er auch schon gestorben, nicht mehr zur Seite hat, um sich gegen die nun sie allein bedrohenden Stimmungen des unsteten Despoten aufrecht zu erhalten.

Alle bisher betrachteten dichterischen Leistungen der neueren Zeit rühren von Christen her. Es wäre nun überaus seltsam, wenn ein so eminent jüdischer Stoff nicht auch jüdische Dichter gelockt hätte. Gewiß ist bei der Feier des Purimfestes auch manche poetische Verherrlichung versucht worden; außer zahllosen Purimspielen, in denen aber das rein Karnevalistisch-Parodistische ohne besondere Beziehung auf den Tag und seine Geschichte überwiegt, gibt es sogenannte poetische Bearbeitungen genug. Sie sind indessen, soweit ich sie kenne, nicht ernst, sondern humoristisch und haben ausnahmslos keinen poetischen Wert. Man wird es gewiß jüdischen Dichtern nicht übelnehmen, wenn sie die Gegner mit aller Kraft der Verspottung, die Anhänger mit aller Lust der Liebe schildern. Aber Haß und Liebe haben es hier zu poetischen Gebilden nirgends gebracht. Vielmehr erscheinen die Judenfeinde als groteske Zerrbilder, die Juden zwar als bessere Menschen, doch ohne jede wirklich ideale Verklärung.

Keiner dieser Versuche kommt daher in Betracht, wenn man von einer wirklichen Estherdichtung redet.

Es kann natürlich nicht Ausgabe dieser Darstellung sein, Fingerzeige zu geben, wie eine solche Dichtung zu gestalten sei. Der Ästhetiker und Kritiker ist kein Dichter. Er will und kann nur vor einzelnem warnen und das Ziel andeuten. Die Warnung bei diesem Stoffe, wie bei jüdischen überhaupt, muß die vor Selbstüberschätzung und Selbstbespiegelung, andererseits vor übertriebener Verachtung und ungerechter Herabsetzung der Gegner sein. Doch läßt es sich nicht leugnen, daß ein poetischer Kern in dem Stoffe liegt: die Unterdrückung der Gewalt und List durch die Macht der Wahrheit, der Güte und der Schönheit.

Eins nämlich muß der moderne Dichter sich klar machen: er kann mit dem Stoffe nichts anfangen, wenn er sich sklavisch an die Überlieferung hält. So sehr er auch das Hinterlistige und Gewaltsame in der Partei Hamans darstellen mag, er wird nicht weiterkommen, wenn er in dem König den asiatischen Gewaltherrscher und den gemeinen Lüstling schildert. Vielmehr muß er, in Grillparzers Wegen wandelnd, in ihm den Monarchen darstellen, der seine Herrscherrolle von höherem Standpunkte ansieht, nicht ausgehört hat, Mensch zu sein, und das schönste Herrscherrecht, nämlich Milde, walten läßt. Wie man in dem König das Prinzip des Guten, so darf man in Mordechai das des Wahren schildern. Entsagend, auf die Erfüllung großer Ziele bedacht, erscheint er schon in der Bibel. Es ist ein seiner Zug des modernen Dichters, daß er diesem aus die Erfüllung der Wahrheit Hoffenden zugleich auch das forschen nach Wahrheit zuschreibt. Von der Schönheit der Esther weiß gleichfalls die Bibel zu berichten. Aber es ist nur jene passive orientalische Schönheit, deren Trägerinnen nichts von Widerstand, Selbstbestimmung, geistiger und Charaktergröße kennen. Es wäre der Triumph einer neuen Dichtung, wenn sie in Esther die sieghafte Macht der Schönheit zugleich wie es Maria Janitschek in ihrer Novelle „Königin Judith“ versucht hat, mit dem Triumph der Reinheit und der Unschuld darstellen könnte. Und so würde ein wirkliches Estherdrama nur eine Verklärung der drei Mächte sein, die den Inhalt aller Poesie von jeher gebildet haben und hoffentlich nicht aushören werden, ihn ferner zu bilden: der Güte, Wahrheit, und Schönheit.











Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Deutsche Literatur und die Juden
Jean Baptiste Racine (1639-1699), bedeutender Autor und französischer Klassiker

Jean Baptiste Racine (1639-1699), bedeutender Autor und französischer Klassiker

William Skakespeare (1564-1616), englischer Schriftsteller und Dramatiker

William Skakespeare (1564-1616), englischer Schriftsteller und Dramatiker

Zug zur Hinrichtung des Juden Süß in Stuttgart

Zug zur Hinrichtung des Juden Süß in Stuttgart

Abbilung des Schweins als jüdische Nährmutter

Abbilung des Schweins als jüdische Nährmutter

Erzherzog Karl von Österreich

Erzherzog Karl von Österreich

Alte und neue Schule zu Fürth im Jahre 1705

Alte und neue Schule zu Fürth im Jahre 1705

Judenmünzen

Judenmünzen

Shakespeare

Shakespeare "Der Sturm"

Jean Baptiste Colbert (1619-1682), französischer Staatsmann

Jean Baptiste Colbert (1619-1682), französischer Staatsmann

Szene aus Shakespeares

Szene aus Shakespeares "Der Kaufmann von Venedig"

Shakespaere

Shakespaere "Endegut, Alles gut"

alle Kapitel sehen