Börne

Börne

70 Jahre nach seinem Tode.(12. Februar 1837)


Zwei Menschenalter (70 Jahre) bedeuten im Nachleben eines deutschen Schriftstellers außerordentlich viel. Wie wenige stehen dann wirklich noch aus der Lebenstafel der Nation oder auch nur der Gebildeten. Man darf nicht zur Entgegnung dieses Satzes auf Schiller hinweisen, der 100 Jahre nach seinem Tode mit lautesten Worten als ein Fortwirkender, ja als ein Lebenspendender begrüßt wurde, noch weniger auf Goethe, in dessen Wirken und Leben man um so mehr einzudringen lebhaft bemüht ist, je längere Zeit nach seinem Hingang geschwunden ist. Allerdings darf man auch zur Belästigung der vorgetragenen Meinung nicht aus die kleineren Geister exemplifizieren, selbst nicht aus die, die eines sehr starken Eintagserfolgs sich erfreuten. Denn sie, mögen sie nun zu Börnes Zeitgenossen gehören oder gar lange nach ihm das Zeitliche gesegnet haben, sind oft schon jetzt verschwunden, als wären sie nie gewesen. Wer liest heute noch Max Waldau (gest. 1855), der bei seinem ersten Auftreten und sein kurzes Leben hindurch als ein lichtspendender Stern von den Besten begrüßt wurde? Wohin ist die große Gemeinde von Berthold Auerbach geraten, über dessen sterbliche Überreste sich erst vor 25 Jahren (20. Februar 1882) der Grabhügel wölbte? Gibt es auch nur noch wenige Getreue aus der ungeheueren Gefolgschaft von Fanny Lewald, von der man vor noch nicht 20 Jahren (gest. August 1888) ewigen Abschied nahmt?

Beide erwähnten Klassen von Schriftstellern sind zu einem Vergleiche mit Börne nicht heranzuziehen. Denn bei den ersteren handelt es sich um Männer allerersten Grades, um Heroen, die für alle Zeit gelebt zu haben scheinen, bei letzteren um Schriftsteller dritten Ranges, einer immer noch ganz respektablen Sitzreihe, denn im literarischen Welttheater gibt es auch einen vielbeneideten vierten Rang, selbst eine von den ganz Kleinen mit Verlangen erstrebte Galerie. Mit Börne müssen Männer zweiten Ranges in Vergleich gesetzt werden, keine ganz unsterblichen hohen Meister, aber Schriftsteller, die nicht nur für ihre Zeit etwas vollkommen Renes brachten, sondern als Pfadfinder und Wegweiser allgemein anerkannt und gepriesen wurden. Dies kann von Börne keiner leugnen: er hat die politische Satire in Deutschland ins Leben gerufen und wurde von den Zeitgenossen bejubelt, nachgeahmt, zitiert, — eine ganze Generation stand unter seinem Bann, so daß Julian Schmidt, der ihn durchaus nicht kanonisierte, noch 1853 sagen konnte: „Börnes Einfluß auf unsere Jugend ist ungeheuer“.

Trotzdem ist sein Schicksal ein ganz anderes, als das der gleichzeitigen Männer desselben Ranges, z. B. Uhlands oder Heines. Wie dürftig ist die Beschädigung mit ihm, wenn man dagegen die den letzteren gewidmete ins Auge faßt. Den vielfachen Gesamtausgaben der Werke jener steht bei Börne kaum ein halbes Dutzend gegenüber; während einzelne Werke, selbst prosaische Schilderungen Heines noch in der neueren Zeit in Einzelauslagen ausgegeben wurden, ist es niemals vorgekommen, daß eine Einzelschrift Börnes nach seinem Tode in einer neuen Ausgabe veröffentlicht wurde. Vergleicht man z. B. in den Jahresberichten für neuere deutsche Literatur die Zahl der Börne gewidmeten Schriften und Aufsätze mit denen, die irgendeinen gleichwertigen und gleichzeitigen Schriftsteller zum Objekt haben, so findet man sie unglaublich gering; ja, die einem Laube zu seinem Säkulartage gewidmeten Publikationen in Buchform, Wochenschriften und Tageszeitungen dürften die Börne zu dem gleichen Tage geweihtem mindestens um das Zehnsache überschreiten.

Auch die Verbreitung seiner Schriften ist außerordentlich gering. Ich habe vor etwa zehn Jahren bei den Verlegern Börnescher Schriften eine Umfrage veranstaltet und dabei erfahren, daß die seit 1884 existierende billigste und infolgedessen gangbarste Leipziger Ausgabe jährlich in mindestens 280, höchstens 540 Exemplaren verkauft wurde, — eine geradezu lächerlich kleine Zahl, wenn man einen wirklich gelesenen Schriftsteller dagegen hält. Eine Anfrage bei Sortimentern ergab ein noch kläglicheres Resultat. Eine vielbeschäftigte Berliner Buchhandlung bekannte, seit Jahren kein Exemplar abgesetzt zu haben, und eine der meistbeschäftigten in Frankfurt, wo unser Schriftsteller immer noch das verhältnismäßig größte Publikum hat, gab die Zahl sieben als Durchschnittszahl der jährlich von ihr verkauften Exemplare an.

Nun ist im lieben Deutschland der Verkauf von Schriften nicht immer der ganz richtige Gradmesser für deren Lektüre. Wie es viele Modebücher gibt, die stark gekauft werden, ohne doch zur allgemeinen Kenntnis der Käufer zu gelangen, so gibt es auch solche, die von Hand zu Hand gehen, ohne daß sich übermäßig viel Liebhaber finden, die sie in ihre Bibliothek einstellen. Indessen auch diesen Trost muß man den Börne-Verehrern rauben. Man muß es leider bekennen, seine Schriften werden weder gekauft noch gelesen.

Und auch der letzte Trostgrund hält bei Börne nicht Stich. Während manchem vom Publikum Gemiedenen in den Literaturhistorikern ein Rächer erscheint, die den Vergessenen aus seiner Dunkelheit erheben und die, wenn auch vergebliche Anstrengung machen, ihn der Menge aufzudrängen, schweigen die Berufenen entweder ganz, oder geben die erste Stimme in dem Schimpfkonzert ab. Denn um Börne tobt nicht einmal ein Streit wie um Heine. Während über das Denkmal und den Rachruhm dieses ungezogenen Lieblings der Grazien Bewunderer und Gegner heftig streiten, jeder noch so ungebärdig austretenden Schmähschrift helltönende Verteidigungsreden auf dem Fuße folgen, vernimmt man bei Börne kein Wettkonzert der Verherrlicher und Verleumder, sondern nur den einmütigen Missklang der Tadler. Derselbe Julian Schmidt, der 1853 unseren Schriftsteller ausführlich behandelte, ohne ihn durchaus zu loben, ging in seinem umgearbeiteten Werke 1896 mit kurzer Übelrede über ihn hinweg; in den meisten Literaturgeschichten figuriert er als eine schnell abzutuende Nebenfigur. Man kann von einer grausamen Energie des Hasses sprechen, die sich ihm zugewendet hat und die besonders lebhaft nach dem großen nationalen Aufschwunge von 1870, seit dem starken Wiedererwachen des Deutschtums geworden ist. Nicht bloß unsere Literaturgeschichten mit wenigen Ausnahmen stimmen in diesen Weheruf ein, sondern auch unsere großen Werke über politische Geschichte haben dies wegwerfende Urteil allgemein gemacht. Schon Gervinus Behandlung unseres Schriftstellers las sich wie eine Anklageschrift; Treitschkes Urteil ist das flammende Plädoyer eines Staatsanwalts, das nicht einmal mildernde Umstände für den Angeklagten kennt. Ähnlich hat unter den Literarhistorikern Karl Goedeke in seinem weitverbreiteten und maßgebenden Grundriß Börne unter denjenigen genannt, die am meisten dazu beigetragen hätten, die deutsche Sprache zu verderben, und er will ihn nur als Humoristen gelten lassen. Unter den größeren allgemeinen Werken der neueren Zeit gewährt ihm R. M. Meyer nur eine bedingte Anerkennung, dagegen sprechen Rudolf Gottschall, Alfred Stern und Georg Brandes von ihm mit großer Wärme. Bei der Menge jedoch erscheint das Urteil der Genannten als getrübt, weil Gottschall als Liberaler verdächtigt wird, die drei anderen aber, weil sie von Juden stammen als befangen abgelehnt werden.

Wenn man also auch sagen muß, daß Börne der gegenwärtigen Generation unbekannt und von den wenigen, die ihn zu kennen vorgeben, verkannt ist, so soll doch der Versuch gewagt werden, ihn unbefangen zu würdigen, von einer schlecht unterrichteten Nachwelt an eine besser zu unterrichtende zu appellieren.

Börne hat kein Buch geschrieben. In dem Vorwort zu der ersten Ausgabe seiner Schriften (1828) macht er sich lustig darüber, daß der Verleger seine Arbeiten als Schriften oder Werke bezeichnet. „Ich habe keine Werke geschrieben, ich habe nur meine Feder versucht aus diesem, aus jenem Papiere“. In diesem Geständnis sieht er keinen Mangel, denn er fährt fort: „Was ist's? Ein Buch ist Wein im Fasse, ein Blatt Wein in der Flasche — wenn Wein ist hier und dort, wer trinken will, muß das Faß doch anzapfen, wer lesen will, muß das Kapitel teilen.“

So jedoch steht die Sache nicht. Börne schrieb kein Buch, weil ihm die Fähigkeit abging, ein Ganzes zu schaffen. Es fehlte ihm erstens die Gründlichkeit des Wissens. Er ist ziemlich unbekümmert seine Unwissenheit zu zeigen. Es kommt nicht selten vor, daß er in seinen zum Druck bestimmten Briefen sagt: „Das weiß ich nicht, muß darüber nachdenken“. Oder wenn er einmal sagt: „Fragen Sie mich doch einmal, was die Doktrinärs eigentlich bedeuten? Ich weiß es selbst nicht recht, möchte mich danach erkundigen und Ihnen davon schreiben.“ Diese Ungründlichkeit tritt auch darin hervor, daß er es für außerordentlich leicht hält, Kenntnisse, die er nicht besitzt, sich zu verschaffen. „Ich will auch suchen in die Kunst einzudringen, die mir bis jetzt fremd war“, schreibt er 1831. Und da er merkt, daß er von dem Technischen nichts verstehe, spaßt er: „Ich mache mich über mich selbst lustig, wie ich öffentlich über Kunst spreche ... ich werde diese Unwissenheit, wie manche andere, durch rote, grüne, gelbe Worte zu verdecken wissen.“ Oder als er einmal dem Gedanken näher tritt, ein Werk über die französische Revolution zu schreiben, denkt er an lebendige Quellen (die noch lebenden Revolutionäre) und die toten (die schriftlichen Dokumente), wird ordentlich gerührt in der Idee, sich als Historiker zu sehen, und macht sich darüber lustig; aber im Grunde ist es doch die Erkenntnis der Unfähigkeit und die Trauer darüber.

Zweitens: Es fehlt ihm an Stetigkeit und Fleiß. Lobreden auf seine Faulheit wechseln in seinen vertrauten Äußerungen mit deren Verteidigung, von seiner frühen Jugend an bis zu seinem Alter; die beiden brauen aber, welche den größten Einfluß auf ihn übten und die einzigen waren, die den Mut hatten, ihm seine Fehler vorzuwerfen; Henriette Herz und Jeanette Wohl, werden nicht rnüde diesen Fehler zu bekämpfen. Es war nicht etwa das Behagen des Genießens, die Freude am Müßiggehen, sondern die Unlust am Schreiben, und gewiß war diese Trägheit mit veranlaßt durch seine körperliche Schwäche und durch die Kränklichkeit, die ihm zeitlebens anhaftete.

Drittens: Ihm fehlte die strenge Kritik. „Ich bin ein geborener Naturphilosoph“, sagt er einmal; einen „Naturkritiker“ nennt er sich an anderer Stelle; beide Worte besagen wohl, daß er nicht imstande war, mit sorgfältiger, gewissenhafter Prüfung, die das Für und Wider abwog, an die Dinge heranzutreten und in sie hineinzugehen, sondern daß er es seinem scharfen Verstande zutraute, beim ersten Anblick die Sachen zu durchdringen. Das erkennt er wohl selbst in den Worten an: „Ich habe ein glückliches Ahndungsvermögen, das mich Blinden aus den rechten Weg führt.“

Viertens: Ihm fehlt die Gabe der Komposition. Dieser Mangel tritt am deutlichsten in seiner Hauptschrift: „Briefe aus Paris“ hervor. Man weiß jetzt, daß dieses Werk wirklich geschriebene Briefe enthält, die ursprünglich gar nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren. Ein Schriftsteller aber, der solche Briefe zu einem Korpus sammelt, hätte es sich zur Pflicht machen müssen, ohne die Entstehungsart der Abschnitte ganz zu verwischen, diese zu einem wirklichen Ganzen zu vereinigen: er hätte die zusammengehörigen Dinge vereinigen, das rein Persönliche vollkommen tilgen, die verschiedenartigen Bestandteile zu einer Einheit verbinden müssen. Nirgends vielleicht tritt der Mangel an Kompositionstalent so hervor, als gerade in den Pariser Briefen.

Unter Börnes Schriften kann man eine Anzahl Klassen unterscheiden, erstens die Novellen, zweitens die Reden, drittens Theaterkritiken, viertens Skizzen, fünftens ästhetische Abhandlungen, sechstens Humoristisch-Satirisches, siebentens Politisches.

Erstens: Börne ist kein Erzähler. Er vermag weder spannende Stoffe zu erfinden, noch das Erfundene wirkungsvoll zu gestalten. Daher sind seine Novellen, z. B. „der Roman“, der „Janustempel“ zwar anmutig und unterhaltend, aber doch eigentlich mehr Novelletten oder Ansätze zu Erzählungen als wirkliche Novellen. Der „Janustempel“ ist eine allerliebste Skizze ehelicher Verstimmung und Versöhnung: das offene Türchen des Ibsens bedeutet Krieg, das geschlossene Frieden. Aber es ist doch mehr die Andeutung einer lustigen humoristischen Idee, als deren Aufführung. Der Roman: ein Oberst wird seines Glaubens wegen (er ist Jude) von seiner Braut verschmäht, ist, ganz abgesehen davon, daß es eine Tendenzerzählung ist, unaufgeführt, unvorbereitet und läßt, so sehr er dadurch rührt, daß man die tiefe, innere Empfindung des Erzählers durchklingen hört, strenge Charakteristik der Handelnden vermissen. Von hervorragendem Werte sind besonders zwei Arbeiten, die in diesem Zusammenhang erwähnt werden können: „der Esskünstler; der Narr im weißen Schwan.“ Doch könnte man zweifeln, ob sie wirklich unter die rein erzählenden Stücke einzureihen sind, denn sie geben weniger Erfundenes wieder, als Beobachtetes, sie erzählen nicht eigentlich, sondern sie beschreibend vor allen Dingen mischen sie so viele politische Betrachtungen und satirische Bemerkungen in die eigentliche Erzählung, daß sie außer dieser Art noch einem anderen Genre angehören.

Zweitens: Von Reden ist hauptsächlich eine, die Denkrede auf Jean Paul, bekannt, die am 2. Dezember 1825 in der Frankfurter Loge von dem Pfarrer Kirchner verlesen wurde. Schon diese Tatsache, daß die von Börne verfasste Rede durch einen anderen verlesen wurde, — eine Tatsache, die wohl in dem schwachen Organ Börnes, vielleicht auch in seiner Schüchternheit eine Erklärung findet — macht stutzig. Aber denn Lesen erkennt man deutlich, daß es sich hier nicht eigentlich um eine Rede, eher urn ein oratorisches Prunkstück, um einen wohlausgearbeiteten Aufsatz handelt, der zufällig vorgetragen wurde. Man erkennt in jedem Satz den des Redens Ungewohnten und nur des Schreibens Kundigen. Störend sind gar manche Phrasen, auch schlechte Bilder, wie etwa das folgende: „die Stufen des Altars steigen auf und nieder“. Als literarisches Denkmal dagegen ist die Rede von höchster Bedeutung. Sie bezeugt die Dankbarkeit des Schülers für den Meister, wenn man auch sehr unrecht hat, Börne ausschließlich als Humoristen, als bloßen Nachtreter Jean Pauls zu bezeichnen. Sie gibt eine sinnige Würdigung des Dichters der Natur, seiner „Gewöhnlichkeit“ im besten Sinne, seiner Sittlichkeit, seiner Freiheit des Denkens und Fühlens und gipfelt in dem merkwürdigen Bekenntnis: der Dichter sei nicht allen gestorben, sondern nur wenigen, aber es werde eine Zeit kommen, da er allen geboren werden und von allen beweint werden würde.

Drittens: Die Theaterkritiken, die hauptsächlich in der „Wage“ veröffentlicht wurden, bilden die heute vielleicht bekannteste Abteilung der Schriften. Bei dramaturgischen Arbeiten liegt der Vergleich mit Lessing nahe. Bei diesem ist die Hauptsache der durchdringende Verstand, die Gelehrsamkeit, die die Stoffe der Dramen durch die Weltliteratur verfolgt, die Bühnenkenntnis, die das technische Geschick der Autoren prüft, der allgemeine dramatische Gesichtspunkt, nach dem die Gesetze dramatischer Entwicklung aufgestellt und die Dichter in dem Streite zwischen englischem und französischem Geschmack aus die rechte Partei hingeleitet werden.

Von solchen Tendenzen ist Börne frei. Auch auf seine Theaterkritiken läßt sich das von ihm gelegentlich angeführte Wort anwenden: „ich bin ein sehr schlechter Skribent, sobald ich nicht aus dem Herzen schreibe“. Auch stehen seine Theaterreferate im Dienste seiner politischen Überzeugung. sie sind Mittel in seinem Kampfe für politische Freiheit gegen tyrannische Bevormundung und Willkür. Die Leistungen der Schauspieler beurteilt er selten, da er üble Erfahrungen damit machte. Seine Stärke liegt in der witzigen Inhaltsangabe der Stücke, in der geistreichen Hervorhebung dramatischer Mängel, in der begeisterten Lobpreisung echter, dichterischer Schönheiten. Er hat von ungeheuer viel Unbedeutendheiten zu reden, und manchmal lobt er wohl nichtiges, wie Lustspiele von Steigentesch, über die die Nachwelt schnell hinweggegangen ist, doch hat er vieles damals Hochgepriesene in seinein Unwert erkannt. Er war einer der ersten, der sich mit der größten Entschiedenheit gegen die Schicksalsdichtung aussprach und in sehr bemerkenswerten Rezensionen Houwald von seinem Thron entsetzte und der über den damals noch viel gepriesenen Iffland das Vernichtungsurteil sprach: seine Dramen seien von der flachsten Flachheit, von fadestem Geschmack. Das wirklich Bedeutende weiß er trefflich herauszufinden und lebhaft zu preisen. Gewiß hat er Schiller nicht immer nach Verdienst anerkannt, namentlich, weil er in seiner großen Rezension über Wilhelm Tell den politischen Gesichtspunkt zu sehr hervordrängte, manche allzu Gestrenge haben ihm auch verdacht, daß er in vollem Ernste den Satz braucht: „Welch ein tiefer, tiefer Brunnen voll klarer, frischer, erquickender Laune ist Kotzebue, welch ein wohltätiges Geschenk des Himmels.“ Für die wirklich Großen findet er aber die schönsten Worte, z. B. über Mozart, Shakespeare, Heinrich v. Kleist. Er wird nicht müde, von der unerreichten Größe des britischen Dichters zu sprechen, ohne in diesen Lobreden oft Gesagtes einfach zu wiederholen.

Er braucht über Mozart den schönen Satz: „Gibt es ein übersinnliches Land, wo man in Tönen spricht — die Meister der Kunst führen euch hinaus, indem sie euch erheben: nur Mozart allein zeigt uns den Himmel, zu dem andere emportragen müssen, in unserer irdischen Brust.“ Heinrich v. Kleist aber würdigte er zu einer Zeit, in der nur sehr wenige ihn erkannten, denn schon 1819 tat er über „Käthchen von Heilbronn“ den Ausspruch: „Dieses Schauspiel ist ein Edelstein, nicht unwert an der Krone des britischen Dichterkönigs zu glänzen.“

Erscheint er durch letzteren Ausspruch fast wie ein Moderner, so verficht er sonst Grundsätze, die unseren Modernen keineswegs genehm sind. Mit Hinblick aus die Schicksalstragödie führte er z. B. den Satz aus, daß eine Krankheit (Wahnsinn) nicht Quelle des tragischen Geschicks sein dürfe. Mit eben solcher Entschiedenheit wehrt er sich dagegen, daß das Hässliche Gegenstand dramatischer Behandlung sein dürfe. Es dürfe, so sagt er einmal, die hässliche Natur nicht so getreu auf die Bühne gebracht werden, und ein anderes Mal: „Das ist gegen alle Erfahrung, wenigstens gegen alle schöne Erfahrung, und diese allein darf der Künstler nachbilden.“

Und endlich verteidigt er gegen den rohen Naturalismus, der damals erst in den Anfängen war, doch aber schon das Leben in seiner nackten Wirklichkeit darstellen wollte, den Satz: „Auf der Bühne soll der Mensch eine Stufe höher stehen als im Leben.“

Die vierte, fünfte und sechste Abteilung: Skizzen, ästhetische Abhandlungen, Humoristisch-Satirisches müssen zusammen behandelt werden, denn sie gehen zu sehr ineinander über, als daß jede Abteilung besonders betrachtet werden könnte. Ja, man möchte zweifeln, ob ihnen nicht die siebente Abteilung: Politisches angeschlossen werden müsste, da sich in noch höherem Grade wie in den dramaturgischen Arbeiten politische Anspielungen überall finden, ja manche der kleinen Studien durchaus politisch genannt werden müssen. Die Skizzen sind teils deutschen, teils französischen Ursprungs. Die letzteren kann man als unbedingte Meisterstücke bezeichnen. Aus seinen Wanderungen in der Stadt und in der Umgebung erblickt der Schriftsteller Seltsames, Geisterfrischendes, Herzerfreuendes, er beschreibt es, wie er es sieht, er plaudert in anmutigster Weise, er unterrichtet, ohne belehren zu wollen und ohne je in den Ton eines Schulmeisters zu verfallen; anschaulich und anmutig sind diese Beschreibungen einer neuen Welt, ohne jemals in überflüssiges Pathos zu verfallen oder durch Künstelei den liebenswürdigen Eindruck zu verderben. Diese Pariser Skizzen der ersten Zeit gewähren vielleicht unter allen Schriften Börnes den reinsten Genuß, weil sie noch entfernt von der Bitterkeit der späteren Jahre jene echt französische Grazie verraten, die in deutschen Schriften nur so selten anzutreten ist. In ihnen spielt die Literatur, die zeitgenössische und die ältere, eine verhältnismäßig geringe Rolle; aber man muß in unmittelbarem Anschluß an sie die literarischen Stellen erwähnen, die sich überaus zahlreich in den späteren Pariser Briefen finden. Sie sind von dem allerhöchsten Wert und verraten eine so innige und trefflich ausgedrückte Verehrung der Großen vergangener Zeiten, z. B. Molieres, eine so seine Kenntnis des 18. Jahrhunderts, vor allem Voltaires, und eine so große Vertrautheit mit der Literatur des neunzehnten (Balzac, V. Hugo, George Sand), daß man schwer der Versuchung widerstehen kann, ganze Stellen auszuschreiben. Nur ein Wort über Rousseau sei hier angeführt: „Rousseau hatte ein deutsches Herz und einen britischen Geist, französisch war nichts an ihm als die Sprache“, und ein anderes merkwürdiges Wort: „Die Geschichte zählt große Menschen, sie sind Register der Vergangenheit: so Goethe und Schiller; sie zählt wieder andere, die sind Inhaltsverzeichnisse der Zukunft: so Lessing und Voltaire.“ Derartige literarische Bewerbungen finden sich neben Sprüchen allgemeiner Art, besonders auch in den Aphorismen und in dem Tagebuche, das man geradezu eine Abrechnung mit Goethe nennen kann. Diese Feindschaft gegen Goethe, die vielleicht durch die Nichtbeantwortung der sehr vornehm gehaltenen Aufforderung zur Mitarbeit an der „Wage“ (10. Mai 1818) seitens des Olympiers bestärkt wurde, ist gewiß nicht, wie man in törichter Weise versucht hat, durch Neid zu erklären, sondern sie ist zunächst wohl eine Folge des Gegensatzes der Jungen gegen die Alten, der sich in den verschiedensten Perioden der Literatur kundgibt, den Stürmern und Drängern war die in sich gefestete Weise des Patriarchen von Weimar unangenehm, ja geradezu hassenswert. Vor allen Dingen richtete sich gegen Goethe Börnes politischer Eifer: dem Aristokraten und Monarchisten trat der Demokrat und Fürstenhasser, dem Unpolitischen der gegenüber, der die Politik von keiner Betrachtung entfernen konnte. Zu den besonderen Anklagen, die der Polemiker gegen den Altmeister erhob, gehören die Vorwürfe gegen die Kleinlichkeiten und Alltäglichkeiten im Schiller-Goetheschen Briefwechsel, die Klage über Goethes Mangel an Witz, die gewiß Unberechtigte Behauptung, Goethe habe kein Gemüt und der jedenfalls nicht allgemein richtige Satz: ihm habe der Sinn für Freiheit gefehlt. Der eigentliche Grund des Gegensatzes ist aber weder ein religiöser, noch ausschließlich ein politischer, sondern ein ästhetischer: der Autor, der sich von dem Augenblicke leiten ließ, in dessen ganzer Schriftstellerei das fragmentarische, sprunghafte ein Hauptcharakteristikum bildet, empfindet unangenehm die „aufgenötigte Ruhe, die tyrannische Ordnung, die holländische Reinlichkeit des Stils“. Man kann diese Unverständnisse sehr beklagen, und die Schärfe, mit der Börne austrat, aufs äußerste missbilligen, man hat aber kein Recht, wegen dieser Goethefeindschaft Börne niedrige und entehrende Motive unterzuschieben.

Die Skizzen deutschen Inhalts, namentlich die der zwanziger Jahre, halten sich mehr als die französischen von literarischen Anspielungen fern, sie geben treffliche Kulturschilderungen und humoristische Bilder aus dem deutschen klein-staatlichen Leben. Das beste Beispiel dafür ist wohl die „Monographie der deutschen Postschnecke; Beitrag zur Naturgeschichte der Mollusken und Testaceen“ 1821. Eine trockene Inhaltsangabe kann der Anmut und Liebenswürdigkeit der Skizze nicht gerecht werden. Es ist die Beschreibung einer Postfahrt von Frankfurt nach Stuttgart, mit Spöttereien über das ewige Halten der Kutsche, mit mancherlei Witzen, Selbstpersiflagen und lustiger Darstellung verschiedener Typen: der Hochzeitsreisenden, der Turner, der Franzosen. Das Ganze ist durchtränkt von politischer Tendenz: Auftreten gegen Beamtenwillkür, gegen die Zerrissenheit Deutschlands, gegen die Unarten und Unmanieren der sogenannten Teutonen.

Gar manchmal versuchte Börne sich über den Humor auszusprechen, zwei solche Stellen, die eine aus der Denkrede auf Jean Paul, die andere aus dem Aufsatz „Humoral-Pathologie“ sind vielleicht am besten geeignet, das Wesen dieses Humors darzulegen. Die eine lautet. „Der Humor ist keine Gabe des Geistes, er ist eine Gabe des Herzens. Er ist die Tugend selbst, wie ein reichbegabtes Herz sie lehrend übt, weil es sie nicht übend lehren darf. Der Humorist ist der Hofnarr des Königs der Tiere, in einer schlechten Zeit, wo die Wahrheit nicht tönen darf wie eine heilige Glocke, wo man ihr nur ihr Schellengeläute vergibt, weil man es verachtet, weil man es belächelt. Der Humorist löst die Bande von den Füßen des Saturns, setzt dem Sklaven den Hut des Herrn auf und verkündigt das saturnalische Fest, wo der Geist das Herz bedient und das Herz den Geist verspottet.“ Die andere hat folgenden Wortlaut: „Der gesunde und lebensfrische Humor atmet frei und stöhnt nicht mit enger Brust. Er kennt die Trauer, aber nur über fremde Schmerzen, nicht über eigene. Er berührt die Wunde nicht, die er nicht heilen kann, und reizt sie nie vergebens. Er sieht von der Höhe auf alle Menschen herab, nicht aus Hochmut, sondern, um alle seine Kinder mit einem Blicke zu übersehen. Was sich liebt, trennt er, um die Neigung zu verstärken. Was sich haßt, vereinigt er, nicht um den Hader, um die Versöhnung herbeizuführen ... Er zieht den Himmel erdwärts, nicht um ihn zu beschmutzen, sondern um die Erde zu verklären. Er kennt nichts Hässliches, doch verschönt er es, um es gefälliger zu machen ... Er erhebt das Niedrige und erniedrigt das Hohe, nicht aus Trotz oder um zu demütigen, sondern um beides gleichzusetzen, weil nur Liebe ist, wo Gleichheit . . . Stets rettend, lindernd, heilend, verletzt er sich selbst mit scharfem Dolche, nur den Verwundeten lächelnd zu zeigen, daß solche Verletzungen nicht tödlich seien . . . Der Geist der Liebe haucht fort und fort aus ihm, alles befördernd; er treibt das Schiff, wenn es die Gefahren des Meeres, und führt es zurück, wenn es den Hafen sucht.“

Während die kleinen humoristischen Bilder fast sämtlich großen Beifall verdienen, kann man die großen satirischen Feldzüge nicht unbedingt loben. Als Muster der Polemik, der grausamen, aber kunstvoll geführten Satire erscheinen die Kämpfe gegen die Gegner der Pariser Briefe und vor allen Dingen das groß ausgeführte: Menzel, der Franzosenfresser, obgleich auch hier manche witzlose Bemerkung sich findet; sobald jedoch das sittliche Pathos durchbricht, wird diese Satire zu einer der markigsten und gewichtigsten Äußerungen. Dagegen kann ich dem vielgerühmten Heringssalat, der Satire gegen Willibald Alexis und speziell dem eigentlichen Schimpfwörterlexikon keinen sonderlichen Geschmack abgewinnen; wirklichen Witz verraten nur die stark karikierten Stellen, in denen der begeisterte Empfang geschildert wird, den Hering und andere Journalisten dem kühnen Polemiker in Berlin zuteil werden ließen.

Am wichtigsten und bestrittensten ist Börne als Politiker. Die dieses Gebiet betreffenden Aufsätze seiner ersten Zeitschrift „Die Wage“ machten in Deutschland das ungeheuerste Aufsehen: eine derartige kühne Aussprache freisinniger Forderungen, einen solchen Hohn gegen die Zensur, eine so starke Auflehnung gegen Despotismus und Freiheitsunterdrückung hatte man bisher niemals vernommen. Freilich fehlte es an den üblichen Quälereien nicht: Zensurhemmnissen, Bestrafung, selbst Freiheitsberaubung; aber gerade diese Hemmnisse vermehrten den Ruhm des Schriftstellers und beförderten die Siegeslaufbahn seiner Zeitschrift und seiner Ideen statt sie aufzuhalten oder gar zu vernichten. Seitdem ist Börne ununterbrochen als politischer Schriftsteller tätig, denn kaum eine der vorhin erwähnten Schriften ist ohne politische Bemerkungen; selbst die Theaterkritiken werden oft genug zu politischen Leitartikeln oder geben mindestens Raum zu politischen Entrefilets. Indessen nicht die zwanziger Jahre, sondern der Anfang der dreißiger bezeichnet seinen Höhepunkt als politischen Schriftsteller. Wohl hört er in dem dritten Jahrzehnt nie auf, die Reaktion zu verurteilen, die traurige Zerrissenheit Deutschlands zu beklagen, auf die Unbill zu schelten, die fast allerwärts den Juden zuteil wurde, die Unterdrückung jeder freiheitlichen Regung innerhalb Deutschlands mit kühnem Freimut zu rügen und aus die auswärtigen Freiheitsregungen triumphierend hinzuweisen. Die nachhaltige Wirkung aber, die er auf die ganze junge Generation ausübte, begann mit der französischen Julirevolution, während ihn der griechische Freiheitskampf in geringerem Maße interessiert und die polnische Revolution zu einer kühleren Anteilnahme als die meisten anderen Deutschen veranlaßt. Gewiß ist Börne kein nüchterner Politiker; es fehlt ihm vieles, um ein unbedingter Lehrmeister zu sein. Seine Hauptstärke liegt im Regieren, während es dem bestimmenden Politiker besser angestanden hätte, direkte und praktische positive Vorschläge zu machen. Ein ernstes Studium der politischen Sachlage geht ihm ab, er läßt häufig die gründliche Untersuchung der Quellen vermissen, aus denen er schöpft; er glaubt jedem Gerüchte, das ihm oft von wenig kenntnisreichen Seiten zugetragen wird; statt sich den ruhigen Erwägungen hinzugeben: der Berücksichtigung der vorhandenen Zustände und dem Hinweise aus ein schnell und sicher erreichbares Ziel, ergeht er sich in utopistischen Ausmalungen und fordert häufig ein, für den ernsten Politiker unmögliches, kindisch-trotziges Entweder-Oder. Aber er ist von einer so reinen, und man braucht das Wort nicht zu scheuen, keuschen Freiheitsliebe erfüllt, seine Äußerungen atmen einen so hohen Idealismus, daß man alle die erwähnten Mängel gern in den Kauf nimmt und in ihm den Herold einer neuen Zeit und einer großen politischen Bewegung erkennt. Man hat es ihm vielfach übel genommen, daß er beständig über die deutschen Hofräte spöttelt, die Duodezfürsten mit ätzender Lauge übergießt und die Deutschen ein Bedientenvolk schilt. Aber mit Unrecht. Denn diese Spöttereien und Schimpfreden gehen weder hervor aus hochmütiger Selbstbespiegelung und frechem Besserwissenwollen, sondern sie haben ihre Quelle in edler Scham über die erbärmlichen Zustände seines Vaterlandes, gegenüber der Erhebung anderer Völker, und in der Entrüstung über den zurückgebliebenen Zustand der beiden führenden deutschen Staaten: Preußen und Österreich, im Vergleiche zu der gesunden Regung kleinerer Staaten und der schönen Entwicklung einzelner ausländischen Reiche. Nichts falscher als der Vorwurf, er sei ein Deutschenhasser gewesen und „sein naiver, fanatischer Optimismus“ habe alles Ausländische für herrlich und den Deutschen unerreichbar angesehen. Gerade seine innige Liebe zu Deutschland, seine schon früh, weit früher als bei anderen, hervortretende Erkenntnis von der Preußen gebührenden Führerschaft in Deutschland erpresst ihm die bittersten Klagen über die augenblicklichen preußischen Zustände und über den kläglichen Despotismus, der von Österreich auf Preußen und auf ganz Deutschland ausgeübt wird. Der Mann, der schon früh die Franzosen ein Weibervolk nannte und hinzufügte, „die Franzosen haben einige Tugenden und alle Fehler des weiblichen Geschlechtes“, der, wenn er einen recht loben wollte, von ihm sagte „er hat einen deutschen Kopf und ein französisches Herz“, der schon 1818 den Ausspruch wagte „Deutschland ist nur in Preußen“, darf nicht zu einem blinden Bewunderer alles französischen und noch viel weniger zu einem absoluten Deutschenhasser gestempelt werden. Als er einmal in einer französischen Schrift las: „Nicht übel für einen Deutschen“, da wurde er von echt teutonischem Zorn ergriffen — denn es ist ungerecht, die folgende Äußerung etwa nur als Hohn aufzufassen — und rief aus: „Wartet nur! Wenn wir einmal das Elsaß wieder haben, Lothringen, Burgund und euren König zum Grafen von Paris gemacht — da werden wir euch zeigen, daß wir witziger sind, als ihr!“ Er ist wie ein Vater, der sein Kind bestraft mit blutendem Herzen, der aber an der Zukunft seines Kindes nicht nur nicht verzweifelt, sondern sicher aus sie hofft, weil er in dem Kinde die Keime für den kräftigen Mann erblickt.

Ludwig Börne (eigentlich Löb Baruch) war als Jude geboren. Von seinem Vater „Jacob Baruch Baumeister“ (das war nicht sein Gewerbe, sondern bezeichnet die Stellung, die er in der Gemeinde seiner Vaterstadt einnahm) sagte ein kenntnisreicher Beurteiler: „Ist ein Hofmann, bald altgläubig, bald Neolog, wie eine Wetterfahne“. Diese Charakteristik passt in keiner Weise auf den Sohn. Vielmehr war dieser der volle Gegensatz zu seinem Vater: eigensinnig, starrköpfig, bei der Meinung verbleibend, die er einmal gefaßt hatte. Und doch verharrte der Vater beim väterlichen Glauben, der Sohn verließ ihn. Er gab den Glauben seiner Kindheit auf, nicht eben aus Überzeugung von der Wahrheit des Christentums, obgleich er dessen weltgeschichtliche Mission erkannte und mit schönen Worten zu würdigen wußte, sondern aus praktischen Rücksichten.

Bald, nachdem er seinen Namen geändert (was übrigens nicht ohne Schwierigkeiten gelang), weil ihm die „alttestamentarische Bezeichnung“ seiner Meinung nach in seiner schriftstellerischen Laufbahn hinderlich geworden wäre, ging er zum Christentum über, um dadurch freier und ungehemmter wirken zu können. Aber ungleich vielen Renegaten verachtete er niemals den Glauben, aus dem er hervorgegangen war. Zwar war er seiner religiösen Überzeugung nach niemals ein Jude gewesen, sondern ein freidenkender Mensch, aber er hütete sich nun, da er äußerlich dem Christentum allgehörte, harte Worte gegen die Anschauungen seiner ehemaligen Genossen zu brauchen, nur in einem Jugendaufsatz über die Judengasse seiner Vaterstadt zog er gegen die übertriebene Beobachtung der Ritualvorschriften zu Felde.

Persönlich jedoch war er den Juden abgeneigt, speziell denen seiner Vaterstadt. Gewisse Fehler und Eigenheiten, die er besonders seinen Landsleuten schuld gab, bekämpfte er sein Leben lang: ihren Schachergeist, ihre Bildungssucht, die er für äußerlich hielt, ihre Aufdringlichkeit und ihre Unmanieren. Solchen Spott sprach er weniger in seinen Schriften aus, als in seinen vertrauten Briefen an seine Freundin Jeanette Wohl, die zeitlebens Jüdin und zwar eine fromme Jüdin blieb und die zum Teil deswegen, weil sie ihren Glauben nicht wechseln wollte, dem geliebten Freunde nicht die Hand zum Ehebündnis reichte.

Aber diese Verspottung der einzelnen oder der Kampf gegen die widrigen Eigenschaften mancher verführte ihn niemals dazu, die Juden als solche anzugreifen oder sich ihrer schlimmen Lage zu freuen. Vielmehr wünschte er von Herzen, daß die Juden sich als Deutsche fühlten, ersehnte er mit aller Glut seiner Seele, daß die Schranken fielen, die sie von den übrigen Deutschen trennen. Er hatte selbst unter dem Vorurteil gelitten, denn er, der Frankfurter Polizeiaktuar unter Dahlbergischer Herrschaft, verlor seine Stelle, sobald Frankfurt wieder eine „freie“ Stadt geworden war. Schon 1806 wollte er eine Rede an die Juden drucken lassen, in der er sie zu patriotischen Opfern aufforderte. 1808 verfasste er auf Anregung seines Vaters, im Auftrage der Frankfurter Gemeinde, eine lebhaft und warm geschriebene Denkschrift, in der er mit Entschiedenheit, zum Teil mit unbarmherzigem Spotte, die ungerechten Lasten bekämpfte, die man den Juden auferlegen wollte, das geringe Maß von Rechten, das man ihnen zu gewähren gedachte.

Was ihn empörte, war die Ungerechtigkeit und Lieblosigkeit, mit der man die Juden behandelte. Als er, so erzählt er selbst, 1807 in einem Passe, dessen er zu seiner Übersiedelung nach Heidelberg bedurfte, sah, daß in an ihn als Juden bezeichnet hatte, da schwur er sich: „Wartet nur, ich schreibe Euch auch einmal einen Pass, Euch und allen“. Er hat seinen Schwur gehalten. Es ist gewiß kein zufälliges Zusammentreffen, daß er in dem Jahr, da er zum christlichen Glauben übertrat, seinen Aufsatz „Für die Juden“ schrieb, der mit den schönen Worten beginnt: „Für Recht und Freiheit sollte ich sagen; aber verstünden das die Menschen, so wäre keine Not und es bedürfte der Rede nicht“. In dem Aufsatze kommen die Worte vor, die zu dem stärksten gehören, was von den Verteidigern der Juden je gesagt worden ist, z. B.: „Es wird mit der schamlosesten Heuchelei gegen die Juden zu Werke gegangen, es werden lügnerische Behauptungen mit solcher Keckheit geführt, daß selbst Gutgesinnte dadurch getäuscht werden, weil sie nicht glauben können, daß man sie so plump betrügen wolle. Darum will ich die Toren entlarven und den Bösewichtern ins Angesicht leuchten. Sie werden lärmen und schwirren wie die aufgeschreckten Nachteulen. Die hochweisen regierenden Knechte werden sagen: man solle die Gemüter nicht ausreizen durch Reden. Sie meinen, wenn alles hübsch dunkel bliebe, dann sähen sich die Feinde nicht und sie müßten Ruhe halten. Aber besser ist's, daß die Fackel der Wahrheit als die der Mordbrennerei die Nacht erhelle. Die Wahrheit reizt ja, denn sie ist reizend; aber sie erbittert nicht. Das Gefühl der Beschämung schmerzt, aber es führt die Schuldigen zur Reue, nicht zur Wiederholung des Verbrechens. Das aufgeklärte Volk wird einsehen lernen, daß es das Schlechte nicht einmal zu seinem eigenen Vorteile beging, sondern daß es das unredlich Erworbene einigen unersättlichen Aristokraten überlassen muß. Es wird begreifen lernen, daß man es zum Missbrauche der Freiheit verleiten will, um sagen zu können, daß es keiner Freiheit würdig sei, und daß man es zum Gefängniswärter der Juden bestellt, weil die Gefängniswärter wie die Gefangenen den Kerker nicht verlassen dürfen.“

Auch in einer kleinen Dichtung hat Börne den „großen Judenschmerz“, wie Heine das tiefe Weh nannte, das die Juden erfüllte, dargestellt. Die Skizze „Der Roman“ (1823) erzählt, wie ein jüdischer Oberst, der die Hand eines schönen adligen Mädchens gewonnen, von ihr verstoßen wird, da er sich als Jude zu erkennen gibt. Es ist des Schriftstellers eigene Empfindung, wenn er den abgewiesenen Oberst folgendermaßen toben läßt: „Ihr habt mir die Spiele meiner Kindheit gestohlen, ihr schlechten Schelme! Ihr habt mir Salz geworfen in den süßen Becher der Jugend; ihr habt die tückische Verleumdung und den albernen Spott hingestellt auf den Weg des Mannes — abhalten konntet Ihr mich nicht, aber müde, verdrossen und ohne Freudigkeit erreichte ich das Ziel. Empfindung nach Empfindung habt ihr mir getötet und einen Kirchhof geschaffen aus dieser lebensvollen Brust. Daß mir die Rache nicht einmal geblieben, daß ich nicht Kraft habe zu vergeben und nicht Ohnmacht genug sie zu züchtigen! Ich kann sie nicht erreichen in ihrer Grufthöhle, ich kann mich nicht bücken, ich kann nicht kriechen; und Recht behalten wie immer wird das schlaue Vieh!“

Der redliche Eifer die Seinen zu schützen, die Treue, die er seinen ehemaligen Genossen wahrte, blieb allezeit dieselbe. Es ist daher unfassbar, daß es noch immer: Juden gibt, die in Börne nur einen Überläufer sehen, statt in ihm einen warmen Verteidiger zu achten und zu ehren.

Liebe zu predigen, wird er nicht müde: „Ehrfurcht ist die Leibwache der Könige gewesen, Furcht war es, Gewohnheit ist es, Liebe wird es sein!“ Er sehnte sich nach Liebe und genoss sie doch so wenig, er schien den Haß zu predigen und versteckte unter diesem Toben doch nur seine Liebessehnsucht: „Jede Stunde dem Hasse vergeudet, ist eine Ewigkeit der Liebe entzogen.“

Er strebt nach Wahrhaftigkeit. Er freut sich mit der Freundin, die zeitlebens sein guter Genius war, über den Erfolg seiner Pariser Briefe, nicht etwa weil damit sein Ehrgeiz befriedigt, seine Bedeutung anerkannt und sein Ruhm verbreitet wird, sondern, wie er sagt: „Ich sehe daraus wieder, wie wenig Grund das Herz bedarf, um zu gefallen; daß die Aufrichtigkeit immer bewegt und daß man der Wahrhaftigkeit selber den Mangel der Wahrheit verzeiht. Denn weiß ich es nicht, wie oft ich mich geirrt haben kann? Weiß ich es nicht, daß tausend Leser anderer Meinung sind, als ich? Aber sie sehen, sie fühlen, daß ich meine Gesinnung treu ausgesprochen, und darum sind sie zufrieden mit mir und glauben mir, wenn sie auch meinen Reden nicht glauben.“

Gewiß war er ein Parteimann, aber höher als die Zugehörigkeit zu einer Partei stand ihm die Duldsamkeit. „Die Philosophie ist die wahre, die, daß sie die wahre bleibe, nicht nötig hat, eine andere Lügen zu strafen. Der Glaube ist der rechte, der, daß er der rechte bleibe, nicht gezwungen ist, einen anderen irrgläubig zu finden.“

Wahrhaftigkeit, Liebe und Duldsamkeit können recht wohl auch die Eigenschaften des Leidens genannt werden; der tätige Mann verlangt und bedarf mehr. Aber auch den Tätigen ermahnt Börne und zwar zur Freiheit und Selbstbefreiung. Denn die Freiheit ist ihm keine Himmelstochter, die von selbst aus ihrer Höhe zum Menschen herabsteigt, sondern eine Braut oder eine Siegesbeute, die errungen werden muß. Daher wehrt er sich gegen den Spruch: „Der Mensch denkt, Gott lenkt!" Wenn Gott allein lenke, so lasse er den Menschen den Kopf verlieren; aus eigener Kraft müsse sich der Mensch erheben: „Hilf dir selbst, dann wird dir der Himmel helfen; dem Trägen und Feigen aber leiht Gott nicht seine Kraft, sondern er verlässt ihn.“ So wenig aber Gott den Menschen retten kann, so wenig einer den anderen, sondern jeder nur sich selbst. „Ein verrostet Schild flehte zur Sonne: ,Sonne erleuchte mich‘. Da sprach die Sonne zum Schilde: ,Schild reinige dich‘.“




Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Deutsche Literatur und die Juden
Carl Ludwig Börne

Carl Ludwig Börne

Alexander von Humboldt (1769-1859), zählte zu den Freunden Börnes

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Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), deutscher Dichter

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Im Jahre 1807 siedelte Börne nach Heidelberg um

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Heinrich von Kleist (1777-1811), deutscher Dramatiker und Publizist

Heinrich von Kleist (1777-1811), deutscher Dramatiker und Publizist

August Wilhelm Jffland (1759-1814), Schauspieler, besonders bedeutend in Rollen Shakespeares

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Jean Paul (1763-1825), deutscher Schriftsteller der Klassik und Romantik

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Uhland Ludwig (1787-1862), deutscher Dichter und Literaturwissenschaftler

Uhland Ludwig (1787-1862), deutscher Dichter und Literaturwissenschaftler

Wolgang Amadeus Mozart (1756-1791), österreichischer Komponist zur Zeit Börnes

Wolgang Amadeus Mozart (1756-1791), österreichischer Komponist zur Zeit Börnes

Friedrich Schiller (1759-1805), deutscher Dichter, Philosoph und Historiker

Friedrich Schiller (1759-1805), deutscher Dichter, Philosoph und Historiker

Victor Hugo (1802-1885), französischer Schriftsteller

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Francois Voltaire (1694-1778), französischer Schriftsteller

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George Sand (1804-1876), Börne verehrte diese französische Schriftstellerin

George Sand (1804-1876), Börne verehrte diese französische Schriftstellerin

Börne schrieb in seiner Jugend einen Aufsatz über die Judengasse in Frankfurt

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