Die Masse der Literatur.

Fortsetzung

Von jeher wechselten zweierlei Zeitalter mit einander ab. Entweder die Kunst und Wissenschaft litt unter dem Druck der Barbarei, oder das öffentliche Leben erschlaffte unter den weichlichen Ergötzungen der Muse. Das heroische Zeitalter und das literarische stehen in umgekehrten Verhältnissen. Nachdem die großen Stürme der Reformation vorüber waren, vertauschten wir das Schwert mit der Feder, und widmeten uns in langer Friedensruhe auch den Künsten des Friedens. Allein diese Ruhe war von Anfang an nur eine Ruhe der Erschlaffung, und jene Künste dienten zum Teil nur dazu, die Erschlaffung zu vermehren. Weit entfernt, daß ein glückliches Gleichgewicht zwischen der praktischen und kontemplativen Tätigkeit eingetreten wäre, herrschten im Gegenteil die sinnende Grübelei und Bücherträumerei, das Schwelgen in der Phantasie und das unreelle Idealisieren eben so einseitig vor, als sie früher durch die äußere Barbarei des Lebens zurückgedrängt worden waren. Sollte je einmal im kirchlichen, oder politischen, oder sittlichen Gebiet eine Idee ins praktische Leben übergehen, so würde sie schnell mit Spießen und Stangen in die Traumwelt der Schriftsteller zurückmanövriert, und die äußere wie innere Politik sorgte dafür, daß wir Träumer blieben. Wir hatten, wenn nicht immer panem, doch immer circenses, und vielleicht hätte die Wirklichkeit uns auch noch etwas stärker mahnen können, ohne daß wir aus unserer Bücherwelt erwacht wären. Denn wir liebten den Kerker, den wir uns so schön ausgemalt hatten.

Sei es nun, daß ein feindseliger Gott unser Augenlied hütet und mit dem eisernen Schlaf uns wie den Prometheus fesselt, um uns zu züchtigen, weil wir Menschen gebildet, und daß die prophetischen Träume der leiste Rest von Tätigkeit sind, die uns selbst ein Gott nicht rauben kann; oder wir selber weben aus eigner Neigung, aus einem Triebe, wie ihn die Natur in die Raupe gelegt, das dunkle Gespinst um uns, um in geheimnisvoller Schöpfungsnacht die schönen Psycheschwingen zu entfalten; seien wir gezwungen, uns über den Mangel an Wirklichkeit mit Traumen zu trösten, oder reißt uns ein inwohnender Genius über die Schranken auch der schönsten Wirklichkeit in noch höhere Regionen der Ideale fort, immerhin müssen wir jener wuchernden Literatur, jener abenteuerlichen Papierwelt eine hohe Bedeutung für den Charakter der Nation und dieser Zeit zuerkennen.


Da, wo nur Bücher statt der Taten glänzen, wo der Glaube geirrt, der Wille abgespannt, die Kraft entnervt, die Tatenlosigkeit beschönigt, die Zeit ertötet wird mit Buchstaben, wo die großen Erinnerungen und Hoffnungen des Volks statt lebendiger Herzen nur totes Papier finden, da werden wir die Schattenseite der Literatur erkennen müssen. Wo sie das frische Leben hemmt und an seine Stelle sich drängt, da ist sie negativ und feindselig in ihrem Wesen.

Doch Worte gibt es, die selber Taten sind. Alle Erinnerungen und Ideale des Lebens knüpfen sich an jene zweite Welt des Wissens und des Dichtens, die von des Geistes ewiger Tat erzeugt, geläutert und verklärt wird. Und in dieser Welt sind wir Deutsche vorzugsweise heimisch. Die Natur gab uns überwiegenden Tiefsinn, eine herrschende Neigung, uns in den eignen Geist zu versenken, und den unermesslichen Reichtum desselben auszuschließen. Indem wir diesem rationellen Hang uns überlassen, offenbaren wir die wahre Größe unserer Eigentümlichkeit und erfüllen das Gesetz der Natur, das Geschick, zu dem wir vor andern Völkern berufen sind. Die Literatur aber, der Abdruck jenes geistigen Lebens, wird eben darum hier ihre glänzende Lichtseite zeigen. Hier wirkt sie positiv, schöpferisch und segensreich. Das Sicht der Ideen, die von Deutschland ausgegangen, wird die Welt erleuchten.

Nur hüte man sich vor dem Irrtum, die Hülle, welche der Geist annehmen muss, um sich zu offenbaren, das Wort, das den Geist in sich aufnimmt, aber auch zugleich begräbt, für höher zu achten, als den ewigen, lebendigen Springquell des Geistes selbst. Das Wort, das tote, unveränderliche, ist nur die Hütte des Geistes, abgeworfen an einem sonnigen Tage, gleich der bunten Haut, welche die alte und doch ewig junge Weltschlange mit jeder Verwandlung hinter sich lässt. Aber man verwechselt nur zu oft das tote Wort mit dem lebendigen Geist. Nichts ist gewöhnlicher, als der Irrtum, ein Wort höher zu achten, besonders ein gedrucktes, als den freien Gedanken, und Bücher höher zu achten, als Menschen. Dann wird der lebendige Springbrunnen verstopft durch die Wassermasse selbst, die in ihn zurückstürzt. Der Geist erschlafft unter den Büchern, die doch selbst nur seiner Kraft ihr Dasein verdanken. Man lernt Worte auswendig und fühlt sich der Mühe überhoben, selbst zu denken. Nichts schadet so sehr der eignen Geistesanstrengung, als die Bequemlichkeit, von dem Gewinn einer fremden zu zehren, und durch nichts wird die Faulheit und her Dünkel der Menschen so sehr unterstützt, als durch die Bücher. Mit der Kraft aber geht die Freiheit des Geistes verloren. Man kann nicht leichter aus den freien Menschen dumme Schafherden machen, als indem man sie zu Lesern macht. Daher war es schon dem feinen Platon zweifelhaft, ob die Erfindung der Schrift die Menschen sonderlich gebessert hätte, und es wird nicht übel angebracht sein, die denkwürdigen Worte dieses liebenswürdigen Weisen hierher zu setzen:

„Ich habe gehört, zu Naukratis in Ägypten sei einer von den dortigen alten Göttern gewesen, dem auch der Vogel, welcher Ibis heißt, geheiligt war, er selbst aber, der Gott, habe Theuth geheißen.

Dieser habe zuerst Zahl und Rechnung erfunden, dann die Messkunst und die Sternkunde, ferner das Brett- und Würfelspiel, und so auch die Buchstaben. Als König von ganz Ägypten habe damals Thamus geherrscht in der großen Stadt des obern Landes, welche die Hellenen das ägyptische Thebe nennen, den Gott selbst aber Ammon. Zu dem sei Theuth gegangen; habe ihm seine Künste gewiesen, und begehrt, sie möchte den andern Ägyptern mitgeteilt werden. Jener fragte, was doch eine jede für Nutzen gewähre, und je nach dem ihm, was Theuth darüber vorbrachte, richtig oder unrichtig dankte, tadelte er oder lobte. Vieles nun soll Thamus dem Theuth über jede Kunst dafür und dawider gesagt haben, welches weitläufig wäre, alles anzuführen: Als er aber an die Buchstaben gekommen, habe Theuth gesagt: Diese Kunst, o König, wird die Ägypter weiser machen und gedächtnisreicher. Denn als ein Mittel für den Verstand und das Gedächtnis ist sie erfunden. Jener aber habe erwidert: O kunstreichster Theuth, Einer weiß, was zu den Künsten gehört, an's Licht zu gebären, ein Anderer zu beurteilen, wie viel Schaden und Vorteil sie denen bringen, die sie gebrauchen werden. So hast auch du jetzt, als Vater der Buchstaben, aus Liebe das Gegenteil dessen gesagt, was sie bewirken. Denn diese Erfindung wird den lernenden Seelen vielmehr

Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung des Gedächtnisses, weil sie im Vertrauen aus die Schrift sich nur von außen, vermittelst fremder Reichen, nicht aber innerlich, sich selbst und unmittelbar erinnern, werden. Nicht also für das Gedächtniß, sondern nur für die Erinnerung hast Du ein Mittel erfunden, und von der Weisheit bringst du deinen Lehrlingen nur den Schein bei, nicht die Sache selbst. Denn indem sie nur Vieles gehört haben ohne Unterricht, werden sie sich auch vielwissend zu sein dünken, da sie doch nur unwissend größtenteils sind, und schwer zu behandeln, nachdem sie dünkelweise geworden statt weise." (Platon's Phaidros, 274.)

Diese Worte mögen uns bei den nachfolgenden Betrachtungen eingedenk bleiben und uns als eine leise, warnende Stimme immer in den Ohren klingen, wenn wir, wie es zu geschehen pflegt, von den Herrlichkeiten der Literatur geblendet, das Leben darüber vergessen sollten. Mit Recht haben die praktischen Menschen die Bücher nie recht leiden können, weil sie den Sinn vom frischen, tätigen Leben hinweg in eine nichtige Welt des Scheins verlocken. Tiefer aber haben mit Platon die Herzenskundigen und die echten Denker jederzeit den Buchstaben vom lebendigen Gefühl und Gedanken unterschieden, und die Literatur, die Welt der Worte, nicht nur der Welt der Taten, sondern auch der innen, stillen Welt der Seele untergeordnet.

Aus unendliche Weise steht das Wort dem Leben entgegen, wenn es auch nur aus ihm hervorgeht. Es ist das erstarrte Leben, sein Leichnam oder Schatten. Es ist unveränderlich, unbeweglich; von einem Wort läßt sich kein Jota rauben, sagt der Dichter, es ist an die ewigen Sterne befestigt, und der Geist, aus dem es geboren ist, hat keinen Anteil mehr daran. Das Wort hat Dauer, das Leben Wechsel; das Wort ist fertig, das Leben bildet sich.

Darum hat ein Leben, das sich den Büchern hingibt, allerdings etwas Todtes, Mumienhaftes, Troglodytenmäßiges. Wehe dem Geiste, der sich an ein Buch verkauft, der auf ein Wort schwört; die Quelle des Lebens in ihm selber ist versiegt. In diesem Tode, mitten im Leben, aber liegt eine dämonische Gewalt verborgen, es ist das Gorgonenhaupt, das uns versteinert. Ihre Wirkungen sind unermesslich in der Weltgeschichte, oft hat ein Wort von Marmor Jahrhunderte versteinert, und spät erst kam ein neuer Prometheus und beseelte die erstarrten Generationen wieder mit lebendigem Feuer.

Im Leben aber, wenn es sich selbst begreift, liegt der Zauber, der des Wortes Meister wird. Wenn es sich nicht zu bewachen weiß, fällt es unter die Gewalt des Wortes; wenn es auf sich selbst vertraut, hat es auch den Talisman gewonnen, mit dem es das dämonische Wort bewältigt. Was nun für jeden Menschen gilt, sobald er ein Buch in die Hand nimmt, soll für uns gelten, indem wir die neue Literatur in ihrem ganzen Umfang betrachten wollen. Wir werden vom Leben ausgehen, um beständig darauf zurückzukommen; an diesem Ariadnefaden hoffen wir in dem Labyrinth der Literatur uns zurecht zu finden. Indem wir uns im frischen Gefühl des Lebens über die todte Welt der Literatur stellen, wird sie uns alle Geheimnisse aufschließen müssen, ohne uns in den Zauberschlaf zu wiegen. Nur der Lebendige kann wie Dante die Schattenwelt durchwandern. Wir werden manchen deutschen Professor darin finden, der in bleiernem Rock mit rückwärts gedrehtem Halse nach dem grünen Leben zurückblickt und nimmer aus der grauen Theorie herauskommt; wir werden den Sisyphus den Stein der Weisen bergan schleppen und den Tantalus nach den Äpfeln am Baum des Erkenntnisses hungern sehn, wir werden Alle finden, die in den Worten suchten, was allein das Leben gewährt. Von diesem freien Standpunkte aus wollen wir die Literatur zunächst in ihrer Wechselwirkung mit dem Leben, sodann als ein Kunstwerk betrachten. Sie ist ein Produkt des Lebens, das wieder auf dasselbe zurückwirkt. Vom Leben selbst geschliffen wird sie ein Spiegel desselben, von ihm als Arznei und als Gift gebraucht, heilt oder tödtet sie es. In dem unermesslichen Umfang ihrer todten Wörter aber ist sie ein einziges und zwar das reichste Kunstwerk nächst dem Leben selbst. Wenn es schwierig ist, in diesem Reichtum sich zurecht zu finden, so ist es doch noch schwieriger, sich von ihm nicht völlig verblenden zu lassen. Viele sehen in der Literatur zugleich den reinsten Spiegel des Lebens, wenn er gleich nur der umfassendste ist; viele betrachten sie als das höchste Produkt des Lebens, nur weil es die längste Dauer verspricht. Sie stellen die Ruinen, die von der Weisheit Aller übrig sind, über das wohnliche Haus unsrer eignen Weisheit, und das Bild aller Taten über die eigne Tat. Bald sind sie zu träg, und wollen nur die Früchte eines fremden Denkens und Handelns genießen, die aber der Trägheit beständig wie dem Tantalus entfliehen; bald fürchten sie, den Alten nicht mehr gleichen zu können und machen sich trag aus Resignation.
Allerdings spiegelt die Literatur das Leben nicht nur umfassender, sondern auch reiner, als irgend ein andres Denkmal, weil kein andres Darstellungsmittel den Umfang und die Tiefe der Sprache darbietet. Doch hat die Sprache Grenzen, und nur das Leben keine. Den Abgrund des Lebens hat noch kein Buch geschlossen. Es sind nur Saiten, die in euch angeschlagen werden, wenn ihr ein Buch leset, die unendliche Harmonie, die in eurem wie in aller Leben schlummert, hat noch kein Buch ganz erfaßt. Darum hoffet nimmer in jenen Notenbüchern den Schlüssel zu allen Tönen des Lebens zu finden, und begrabt euch nicht zu sehr in den Schulstuben, laßt euch vielmehr gerne und oft vom frischen Lebenswinde die innere Aeolsharfe frei und natürlich, sanft und stürmisch bewegen.

Die Literatur seh immer nur ein Mittel unsres Lebens, nie der Zweck, dem wir es zum Opfer brächten. Wohl ist es herrlich, an der Erinnerung des vergangenen Lebens das gegenwärtige zu spiegeln und zu bilden, auf die Mitwelt durch das Wort zu wirken und der Nachwelt ein Gedächtniß unsres Lebens zu überliefern, wenn es des Gedächtnisses wert gewesen; doch keiner gebe seinen Geist dem Buchstaben gefangen.

Die frühern Geschlechter erkannten die große Bedeutung der Literatur noch nicht, da sie, zu sehr dem Genuß oder der Tat des Augenblicks hingegeben, sich mehr in der Wirklichkeit der Welt verloren, als sich im Spiegel derselben suchten. Die neuere Zeit ist beinah ins Extrem des Gegenteils geraten, und der Mensch stiehlt sich gleichsam aus seiner Gegenwart heraus, um sich in eine fremde Welt zu versetzen, und übertäubt sich mit den Wundern, die seine Neugier um ihn versammelt. Damals lebte man mehr, jetzt will man mehr das Leben erkennen. Die Literatur hat ein Interesse auf sich gezogen und eine Wirksamkeit erlangt, die den frühern Zeiten unbekannt war.. Die Erfindung der Buchdruckerkunst hat ihr eine materielle Basis gegeben,, von welcher aus sie ihre großen Operationen entwickeln konnte. Seitdem ist sie eine europäische Macht geworden, teils herrschend über Alle, teils dienend Allen. Sie hat der Geister sich bemächtigt durch das Wort, das Leben beherrscht durch das Bild des Lebens, aber zugleich jedem Streben des Zeitalters ein gefälliges Werkzeug dargeboten. In ihr goldnes Buch hat jeder sein Votum eingetragen. Sie ist ein Schild der Gerechtigkeit und Tugend, ein Tempel der Weisheit, ein Paradies der Unschuld, ein Wonnebecher her Liebe, eine Himmelsleiter dem Dichter, aber auch eine grimmige Waffe dem Parteigeist, ein Spielzeug der Tändelei, ein Reizmittel der Üppigkeit, ein Sorgenstuhl der Trägheit, ein Triebrad der Plauderei, eine Mode der Eitelkeit und eine Ware dem Wucher gewesen, und hat allen großen und kleinen, schädlichen und nützlichen, edlen und gemeinen Interessen der als Magd gedient.

Dadurch hat sie aber an Mannigfaltigkeit und Masse ins Ungeheure zugenommen, daß der Einzelne, der zum erstenmal in die Bücherwelt gerät, sich in ein Chaos versetzt findet. Stets beschäftigt, alles andre zu begreifen, hat sie sich selbst noch nicht begriffen. Sie ist ein Kopf mit vielen tausend Zungen, die alle wider einander reden. Ein unermesslicher Baum beschattet sie das lebende Geschlecht, doch aller Blüten Auge sieht nach außen und die weitverbreiteten Äste stehen von einander ab. Überall erblicken wir Wissenschaften und Künste, die einander ausschließen, wiewohl ein Boden sie nährt, eine Sonne sie reist und ihre Früchte gemeinsam uns bereichern. Überall sehn wir Parteien, die einander durch denselben Gegensatz zu vernichten trachten, wodurch sie sich wechselseitig erzeugen und ausrecht halten. Der Geist, der als ein Fremdling in diese Literatur eintritt, weiß sich nicht zurecht zu finden in der Fülle, und nicht zu sondern, was in untergeordnete Sphären zerfällt. Er begnügt sich mit dem Kleinen, weil er das Große nicht kennt, mit der Einseitigkeit, weil er die andre Seite nicht sieht; und mehr noch als die Mannigfaltigkeit von Büchern die Übersicht erschwert, verwirren die herrschenden Parteien das Urteil selbst und erzeugen neben der Unkenntnis jene leichtsinnige Verachtung des Unbekannten oder Halbbegriffenen, die in der neuesten Zeit namentlich so verderblich um sich gegriffen. Endlich behauptet der Augenblick sein Recht, das Neue, die Mode; der Strom der Literatur erscheint in seinen Windungen jeden Augenblick nur als ein beengter See, und die weite Bücherwelt drängt sich dem gewöhnlichen Leser in einen kleinen Horizont zusammen. Allen gilt zwar alles, doch immer nur das Eine für die Einen und Vieles nur für den Augenblick. So bietet unsre Literatur das bunteste Chaos von Geistern, Meinungen und Sprachen dar. Sie steigt von den Sonnengipfeln des Genies zum tiefsten Schlamm der Gemeinheit hinunter. Bald ist sie weise bis zum mystischen Tiefsinn, bald stumpfsinnig, oder geckenhaft töricht. Bald ist sie sein bis zur Unverständlichkeit, bald roh wie Felsen. Ein Gleichmaß der Ansichten, der Gesinnung, des Verstandes und der Sprache ist nirgends wahrzunehmen. Jede Ansicht, jede Natur, jedes Talent macht sich geltend, unbekümmert um den Richter, denn es ist kein Gesetz vorhanden und die Geister leben in wilder Anarchie. Aus allen Instrumenten und Tönen wird das wunderbare Konzert der Literatur unaufhörlich fortgespielt, und es ist nicht möglich Harmonie darin zu finden, wenn man mitten in dem Lärmen steht. Schwingt man sich jedoch auf den höhern Standpunkt über der Zeit, so hört man, wie in halben Jahrhunderten die Fugen wechseln, die Dissonanzen ihre Lösung finden. Es gibt irgendwo eine Stelle, wo man die labyrinthischen Gänge zum schönen Ganzen verschlungen sieht. In dieser Mannigfaltigkeit verbirgt sich die geheime Harmonie eines unendlichen Kunstwerks, das zu ermessen ein ästhetischer Trieb uns nicht ruhen läßt. Aus einem Leben hervorgegangen, ist diese Literatur selbst ein einiges Ganze.

Der üppigen Vegetation des Südens gegenüber erzeugt der Norden eine unermessliche Bücherwelt. Dort gefällt sich die Natur, hier der Geist in einem ewig wechselnden Spiel der wunderbarsten Schöpfungen. Wie nun der Botaniker jene Pflanzenwelt zu überblicken, anzuordnen und ihr geheimes Gesetz sich zu enträtseln trachtet, so mag der Literator ein Gleiches an der Bücherwelt versuchen. Das Bedürfnis nach einem Überblick ist immer dringender geworden, je mehr uns die Bücher von allen Seiten über den Kopf zu wachsen drohen. Man hat deshalb schon längst jene periodische Literatur zugerüstet, die als administrative Behörde die anarchischen Elemente der schreibenden Welt bemeistern soll; diese numerirenden, klassifizierenden, konskribirenden, judizierenden Bureaux sind aber selbst von der Anarchie ergriffen und in das allgemeine Chaos unaufhaltsam fortgerissen worden. Sie möchten gern wie der Hundsstern frei über dem blühenden Sommer schweben, weil sie aber selbst aus der Tiefe stammen, sind sie noch von dem wilden Triebe der Vegetation beherrscht, und kleben sich nur als Schmarotzerpflanzen an die verschiednen Zweige der Literatur. Dennoch läßt das tiefe Bedürfnis, in jener unermesslichen Mannigfaltigkeit eine sichere innere Harmonie zu erkennen, sich niemals abweisen. Manche haben die Oberfläche der Literatur ziemlich umfassend erblickt, aber in den Inhalt, in die innere Tiefe, aus welcher eine so reiche Welt an die Oberfläche herausblühen konnte, haben nur wenige hineingeblickt. Jedes Auge sieht die Welt rund, es kommt aber darauf an, wie tief es hineinsieht.

Es ist eine der größten Übelstände unsrer Literatur, daß sich die Parteien so wenig konzentrieren. Wenn in Paris oder London zehn ausgezeichnete Schriftsteller in Übereinstimmung und mit geschickter Verteilung der Stoffe für eine bestimmte Sache kämpfen, so tun es in Deutschland einige hundert Schriftsteller mit verhältnismäßig weniger Talent und ohne Übereinstimmung, ohne von einander Notiz zu nehmen. Ist es nun in Paris oder London sehr leicht, das Schlachtfeld zu überblicken, so ist es in Deutschland fast unmöglich. Es erscheinen jährlich tausend theologische Schriften. Wer mag sie alle lesen? Ihre Verfasser selbst sind nicht im Stande, alle ihre Gegner oder Mitkämpfer zu kennen. Sie fechten gewissermaßen im Dunkeln. Der arme Dorfpfarrer hat ein Dutzend Bücher und ein halb Dutzend Kollegienschriften vor sich, und so schreibt er ein neues Buch, unbekümmert, ob fünfzig seiner Kollegen zu gleicher Zeit ein eben so armseliges Buch schreiben. So sind bei Gelegenheit der Cholera mehrere hundert Schriften in Deutschland erschienen, von denen nur sehr wenige an einen höhern, überschauenden Standpunkt des Verfassers mahnten. So wurden seit der jüngsten politischen Aufregung eine ungeheure Menge Schriften über Konstitution und Administration geschrieben, deren größte Menge sich nur auf bestimmte Lokalitäten und Momente bezog, und die zu Überblicken, aus denen heilsame Resultate für das Ganze zu ziehen, höchst schwierig ist. Wir Deutsche haben angefangen, auch in allen Zweigen der Politik sehr gesunde Begriffe zu bekommen; aber die Summe unsrer politischen Weisheit ist gleichsam in den kleinsten Münzsorten zerstreut, und wir vermögen sie nicht in ein großes Kapital zusammenzuschmelzen. Selbst die Belletristik macht davon keine Ausnahme, denn auch der eifrigste Romanleser wird nicht fertig mit dem, was ihm jede Messe an neuer Lektüre bietet.

Die Vielschreiberei in Deutschland ist so zur Manie geworden, daß die guten Leute, gerade je weniger ein neues Buch durch die ungeheure Masse der vorhandenen durchdringen kann, um so mehr ein jedes, auch das unbedeutendste, gedruckt sehn wollen. Daher in neuester Zeit die Auskehricht-Literatur, die Briefsammlungen und Nachlässe jedes nur entfernt berühmten Mannes. Kaum daß ein Visiten- und Waschzettel des seligen Matthison ungedruckt bleiben darf. Von Jean Paul wissen wir, an welchem Datum er den ersten Hosenträger gewirkt erhalten, von Voß, was er in jedem Wirtshaus auf seiner kleinen Reise verzehrt hat, von Schiller, in welcher Equipage er bei Goethe vorgefahren, und womit sonst die vielen hundert Biographien und Briefbände dieser Gattung vollgepfropft sind. Und gerade die Protestanten und Nationalisten sind am eifrigsten in diesem modernen Reliquiendienst, dessen weit edleres Vorbild sie bei den Katholiken verhöhnen.

Eine gewisse Vielschreiberei kann notwendig und unvermeidlich werden. Zwar wird die Nachwelt sich immer nur mit einer Auswahl des Besten und Wichtigsten aus der frühern Literatur begnügen, aber für die Mitwelt hat die Literatur noch einen besonderen Wert der Mitteilung und Diskussion. Es müssen viele Versuche und Vorarbeiten zu Grunde gehen, ehe der Nachwelt das Resultat in wenig Worten überliefert wird, und die Mitwelt hat eigentümliche Interessen, die sie befriedigen muss, ohne daß die Nachwelt überhaupt davon Notiz zu nehmen braucht. Allein die Deutschen wissen, wie ich schon oben bemerkt, die Diskussion nicht zu konzentrieren, sondern vervielfältigen sie ins Ungeheure und reden durcheinander, ohne einander zugleich hören zu können, und außerdem verwechseln sie das praktische Bedürfnis des Augenblicks beständig mit der Sorge für die Nachwelt. Sie sind nicht allein darauf bedacht, daß sie etwas zur rechter Zeit sagen, sie adressieren ihre Rede auch gleich an die Fachwelt, und die Nachwelt und das Publikum sind ihnen identische Begriffe auch da, wo sie sie notwendig scheiden sollten. Mit einer wahrhaft chinesischen Ängstlichkeit sorgen sie, daß der armen Nachwelt doch ja nichts vorenthalten werde, und so schreiben sie auf jeden Grabstein unsterbliche Worte, die schon der nächste Regen verwischt.

Schon öfters bin ich von gelehrten Franzosen angegangen worden, ihnen eine Art von Leitfaden in das Labyrinth der deutschen Literatur zu geben. Ich stelle mir vor, der Brahmine, der kürzlich nach England gekommen ist, träte in die unendliche deutsche Bücherwelt und früge mich: gibt es nicht ein Buch der Bücher, worin man all diese Weisheit in nuce beisammen findet? Nein, muß ich antworten, seit die Tiere in der Arche Noa beisammen wohnten, haben sie sich so zahllos vermehrt, daß jetzt die Linnex's und Buffons und Blumenbachs und Euviers nicht mehr fertig werden, unter den Individuen nur die Gattungen wieder aufzufinden. Sich dort, ehrwürdiger Gymnosophist, das niederländische Viehstück unserer Erbauungsliteratur. Ganze Wände, ganze Säle voll pfäffische Krämerwaren, süßlicher Seelenmarzipan, Konfirmationswerke, Andachtsbücher für gebildete Töchter, Weihen der Jungfrau, Christinnen im Hause, Selithas, Theonas, Witschelsche Morgen- und Abendopfer, Stunden der Andacht, Glockentöne u.u. Würde der bekehrte, aus Enthusiasmus für das Luthertum nach Europa gekommene Indianer nicht sagen, daß es hier sehr Not täte um einen Christus, der mit der Geißel käme und die theologischen Damenschneider und Galanteriehändler aus dem Tempel hinauspeitschte. Ich kenne einen Kinderverderber in Deutschland, der einer entehrenden Strafe mit Mühe entging, wie deren mir zu viele durch herkömmliche Vertuschung der gerechten Rache der beleidigten Menschheit entgehen. Zu diesem Nichtewürdigen sprach in meiner Gegenwart ein junger Buchhändler, der zu der Gattung derer gehörte, die um jeden Preis schnell reich werden wollen: schreiben Sie mir ein Andachtsbuch für Damen. Topp, erwiderte jener, und sie schlossen den Kontrakt über ein Buch, das wirklich vor ein paar Jahren im Meßkatalog stand. O hätten doch alle die edlen Mutter und reinen Jungfrauen diese Gaunergesichter gesehen, sie würden das heilige Buch ins Feuer werfen. Und haben andre Bücher dieser Art etwa einen reineren Ursprung? Wahrlich nicht, der Heuchler schreibt das Buch, lacht heimlich und steckt das Geld ein. Von einem ächten Priester des Herrn rührt niemals ein solches frommes Modebuch her: denn wahre Gottesfurcht schmeichelt den Menschen nicht, und dringt sich den schwachen Weiblein nicht so zutätig auf. An diesen Wust von theologischer Literatur, von dem kaum der zehnte Teil nicht gottlos ist, wurde ich mit Vergnügen, Feuer legen.

Unsere politische Literatur hat sich verbessert, aber wenn man auch zugäbe, daß Alles, was an allen Orten in Deutschland über Politik geschrieben wird, Weisheit enthielte, selbst dann würden wir zu beklagen sein, daß wir für so vielzüngige Weisheit nicht Ohren genug haben. Seit geraumer Zeit leiden unsre politischen Schriftsteller an der Kurz- und Fernsichtigkeit, und das was nicht ist, sehen sie in der Regel zu nahe, und das was ist, zu ferne. Die ungeheure Brille, wodurch sie sehn, ist überdies acht- und dreißigfach brillantiert, und die H. Alexander Müller und Dr. Zöpfl können nicht fertig werden, nur die Bausteine zu dem Labyrinth der deutschen Staatsrechte zu sammeln, aus dem, wenn es je ein Schriftsteller vollständig zusammenstellte, wenigstens kein Leser sich wieder herausfände. Es ist selbst für den, der sonst gar nichts zu tun hat, eine Aufgabe, über die sächsischen und hannoverschen, oder über die kurhessischen und badischen Angelegenheiten zugleich au fait zu bleiben. Man hat so oft geklagt, der Deutsche bekümmere sich um die Angelegenheiten des Staats zu wenig; wenn er aber einen breiten Tisch voll Zeitungen und vier lange Wände voll Bücher vor sich sieht, die er alle durchlesen muß, um sich nur fürs Erste zu orientieren, so kann man ihm nicht verdenken, daß er dies für äußerst mühselig hält.

Gewiß ist der Eifer, den man neuerdings für die Verbesserung der Erziehung anwendet, sehr wünschenswert; aber ich möchte wohl den Pädagogen kennen, der Alles gelesen hätte, was über diesen Punkt in Deutschland schon geschrieben worden ist, und jährlich noch in etlichen hundert neuen Büchern geschrieben wird. Wo wäre ein neuer Lehrer, der nicht vielmehr, anstatt, die alten Bücher zu lesen, lieber ein neues schriebe. Es ist beinahe schon zur Gewohnheit gewordene, daß jeder eine neue Methode ausbringt, oder wenigstens ein neues Lehrbuch für seinen nächsten Wirkungskreis schreibt. Daher die entsetzliche Menge von Lehrbüchern, die man nicht mehr übersehn kann, und aus denen man keineswegs eine Auswahl trifft. Man zähle die ,,Naturgeschichten" und „Geographien" für die Schuljugend, die „deutschen Geschichten“ und vollends gar die Unterhaltungsbücher für Kinder, die durchgängig bloße Spekulation auf den Geldbeutel der Eltern sind. So haben wir denn eine Kinderliteratur erhalten, die der Literatur für die Alten nicht viel nachgibt. Mein Sohn könnte eine Bibliothek von 15.000 Werken haben, die für Leser von nicht 16 Jahren in Deutschland geschrieben und gedruckt worden sind. Nun, guter Vater, setze dich hin, lies diese 15.000 Werke vorher und wähle für deinen Sohn das beste ans!

Oder wenden wir uns zur Poesie. Seit 1814 sind nicht weniger als 5-6000 neue Romane fabriziert worden. Wären sie alle gut, so wären es zu viele, weil man sie doch nicht alle lesen konnte; und sind sie schlecht, so hätten sie gar nicht geschrieben werden sollen. Sie sind wirklich dem größten Teile nach schlecht, vielleicht nicht einhundert davon kann ein vernünftiger Mann aus der Hand legen, ohne sich des Volkes zu schämen, das solche Romane hervorbringt. Nun blieben also noch mehr als 5000 Romane übrig, die binnen so kurzer Zeit nicht nur ein großes Kapital von Geld und Zeit des Autors, Verlegers, Druckers, Lesers u. unnütz vergeudet, sondern auch durch ihre, wenn nicht demoralisierende, doch erschlaffende Wirkung der Nation wesentlich geschadet haben. Diese ungeheure Masse von Romanen würden in ältern weiteren Zeitaltern ein Gegenstand der politischen Aufmerksamkeit gewesen sein. Ein griechischer Gesetzgeber würde sie so gewiß verdammt haben, als die neuere Nationalökonomie sie verdammen muß. Aber eine Bemerkung dieser Art hat in unserm Zeitalter keine andere Folge, als daß unsre romantischen Leser darüber lächeln.

Ich erschrecke, wenn ich die zahlreichen Namen neuer Buchhändler lese. Sie werden das ohnehin künstliche Bücherbedürfnis noch mehr steigern, denn sie wollen nicht nur leben, sondern leben im weitesten Sinne des Wortes. Ihrer modernen Stallfütterung kann es aber nie an literarischem Vieh fehlen, denn unsre Staatsweisheit hat es noch nicht dahin gebracht, den Andrang zu den Universitätsstudien wirksam zu hindern, obgleich sie ihn schon oft auf dem Papier verboten hat. Es werden mithin der verdorbenen Studenten, der überzähligen Auskultanten, der „desperaten Kandidaten der Theologie" so viele, daß sie scharenweise die literarischen Ställe füllen können.

Wer einer solchen Literatur sich freuen kann, er müsste verrückt sein; wahrhaftig, denn nur ein Verrückter mag sich eine Bibliothek anlegen, deren Bücher zum größten Teil nach hinter dem Titel hohl oder mit Sägespänen, und Spinneweben angefüllt sind. Ein Vernünftiger setzt den Geist der Nation erstens überhaupt nicht in die Bücher, zweitens aber auch den Wert der Bücher nicht in deren Zahl. Anstatt uns des Reichtums zu rühmen, sollten wir nur darauf bedacht sein, die Resultate unsrer Bücherweisheit kurz zusammenzudrängen, damit wir doch auch etwas davon haben: denn ohne dieses Verfahren werden wir noch lange Zeit mitten in unserm büchervollen Deutschland leere Köpfe herumlaufen sehn.
Die jüngste Zeit ist am wenigsten zu überblicken, weil sie nicht nur eine weit größere Zahl von Büchern produziert, als die früheren Zeiten, sondern auch, weil diese sich so schnell auf einander drängenden Werke nicht so schnell in die literarischen Handbücher einregistriert werden können. Eine Vergleichung der Leipziger Messkataloge seit der Restauration gibt folgendes Resultat: Im Jahr 1816 erschienen im deutschen Verlag zum erstenmal über 3000 Bücher, im Jahr 1822 zum erstenmal über 4000, im Jahr 1827 zum erstenmal über 5000 und im Jahr 1832 zum erstenmal über 6000: also ist ihre Zahl alle fünf Jahre um 1000 gestiegen. Seit dem Frieden von 1814 sind bis zum Schluß des Jahres 1835 nicht viel weniger als 100.000 Werke in Deutschland gedruckt worden.

Nun nehme man dazu die Ausbeute von früheren Jahrzehnten und Jahrhunderten, und man hat Ursache, ein wenig vor der deutschen Büchermasse zu erschrecken.

An Werken, worin diese Masse nur einigermaßen zur Übersicht gebracht wird, an deutschen Bücherkatalogen und Literargeschichten hat es uns zwar seit dem Anfang des vorigen Jahrhunderts nicht gefehlt; doch sind nur die Spezialgeschichten einzelner Literaturfächer wertvoll, z.B. die Geschichten der ältern deutschen Literatur von Büsching und von der Hagen, die Geschichte des Wiederaufblühens der Wissenschaften vor Luther von Erhard, die Geschichte des Dramas von Gotsched und August Wilhelm Schlegel, die Geschichte der komischen Literatur von Flögel, die Kirchengeschichte von Schröckh, Engelhardt, Gieseler, die Geschichte des Mystizismus von Arnold und Schmid, der Philosophie von Tennemann, Rixner, Ast, Reinhold, der Medizin von Kurt Sprengel, der Chemie von Gmelin, der Rechtskunde von Eichhorn, Savigny, Mittermeier, der Staatswissenschaft von Pölitz, Raumer u. Dagegen lassen die allgemeinen deutschen Literargeschichten noch gar viel zu wünschen übrig. Die Werke des edlen Greises Wachler verdienen gewiß die größte Auszeichnung. Doch hat er in seiner allgemeinen Literaturgeschichte den eigentümlichen Geist deutscher Wissenschaftlichkeit nicht genug von den Bestrebungen anderer Völker unterschieden, und in seinem der deutschen Nationalliteratur ausschließlich gewidmeten Buche, nur die deutsch geschriebenen und die populären Werke behandelt, mit Weglassung aller von Deutschen lateinisch geschriebenen Bücher und der strengen Fakultätsliteratur. So hat er sich hier wie dort unmöglich gemacht, die deutsche Literatur in ihrer Gesamtheit und als ein geschlossenes Ganzes darzustellen. Außerdem sind seine Beziehungen der Literatur auf das Leben und die geschichtliche Entwicklung des deutschen Volks, wo er sie anbringt, zu karg; er sagt zu wenig über die jedesmal eine eigentümliche Richtung der Literatur veranlassenden Zeitumstände. Endlich aber ist er zu sehr bloß Sammler, zu wenig Kritiker. Sein Geist ist des ungehenern Stoffs nicht mächtig, er weist das Einzelne nicht aus dem Ganzen zu erklären; und wenn er, eines objektiven Urteils sich bescheidend, nur ein subjektives und überall isoliertes Unheil geltend macht, so hat er zwar das Verdienst, sich dabei von Moral und Patriotismus leiten zu lassen, doch führt ihn der Mangel an tieferer Einsicht nicht selten zu Missgriffen. So vergöttert er mit moralischem und patriotischem Feuer den unmoralischen und unpatriotischen Goethe. Wachler ist indes immerhin der erste gewesen, der eine Brücke aus der kalten Schulweisheit ins warme Leben hinüberzuschlagen versuchte. Eichhorns Literargeschichte ist noch ganz so kalt und trocken, vornehm herablassend und wissenschaftlich aristokratisch, wie Alles, was von Göttingen kommt. Gudens Tabellen sind lückenhaft und er hätte sich nicht damit plagen sollen, systematisch über alle deutsche Autoren Urteile zu fällen, da er sicher nicht den zwanzigsten Teil gelesen hat. Das neue große Bücherlexikon von Heinsius, das nach Fächern geordnete Bücherverzeichnis von Ersch, das Schriftstellerverzeichnis von Meusel, die älteren Büchernachrichten.von Baumgärtner, die guten Untersuchungen über mittelalterliche Literatur von Hamberger und das schwülstige aber notizenreiche Lexikon der altern Literatur von Jöcher haben wenigstens das Verdienst, uns über Namen, Titel und Jahreszahl zu orientieren.

So ist denn noch nicht viel geschehen, um die Masse der Literatur historisch und kritisch zu bewältigen, um das Bedeutende vom Unbedeutenden auszuscheiden, um das unbillig Vergessene, das ungerecht Verdammte wieder zu Ehren, und umgekehrt die sich aufdringende Leerheit und Gemeinheit in Vergessenheit zu bringen, um der Nation zu zeigen, was sie denn eigentlich an ihrer Literatur hat, um ihr den Reichtum ihres eigenen Geistes zu vollem Bewußtsein zu dringen. Man blickt kaum in jene obengenannten Literargeschichten hinein, oder wendet sich erschrocken vor den vielen unübersehlichen Namen und Titeln zurück. So kommt man zu keinem Überblick, kennt mitten unter den Büchern, die Literatur nicht, sieht den Wald vor den Bäumen nicht.

In der Naturwissenschaft hat man den Werth der Vergleichungen erkannt; man fängt an, nicht die Astronomie, oder Chemie, oder Geologie, oder Mineralogie u. allein zu treiben, sondern sie auch auf einander zu beziehen, ihre Resultate auszugleichen und darin höhere und allgemeine Naturgesetze zu erkennen. Diese Methode hätte man längst auch auf die Literargeschichte überhaupt anwenden können. Die Vergleichung gibt Aufschlüsse, zu denen die einseitige Verfolgung einer Wissenschaft oder poetischen Schule nie gelangt. Eines erklärt, ergänzt das Andre. Nur aus der Vergleichung entspringt ein richtiges, ein umfassendem zugleich und unparteiisches Urteil. Man kann schwerlich die Geister in allen ihren so mannigfach verschiedenen Richtungen beobachten, ohne in dem Gegensatz, aus welchem sie entsprungen sind, die Pole alles Lebens zu erkennen. Man kann aber auch nicht unparteiisch über den Parteien stehen, ohne den Kampf unter einem epischen Gesichtspunkt aufzufassen und sein großes Gemälde zu überschauen. Im Gewühl des Lebens selbst, gegenüber so mannigfachen und dringenden Interessen und unwillkürlich davon ergriffen, mögen wir zu einer Partei stehen; auf der Höhe der Literatur aber kann nur ein freier unparteiischer Blick in alle Parteiansichten befriedigen. Das Leben ergreift uns als sein Geschöpf, die Masse als ihr Glied, wir können uns von der Gemeinschaft mit der Gesellschaft, mit der Örtlichkeit und Zeit nicht lossagen und müssen, eine Welle des lebendigen Strom, ihn tragend und von ihm getragen, das Los aller Sterblichen teilen; doch im Innern des Geistes gibt es eine freie Stelle, wo aller Kampf befriedigt, aller Gegensatz versöhnt werden mag, und die Literatur vergönnt es, diesen festen Stern der Menschenbrust in einem geistigen Universum zu verewigen.

Indem wir die Literatur ihrem ganzen Umfang nach in Wechselwirkung mit dem Leben begriffen sehn, unterscheiden wir aus dreifache Weise die Einwirkungen, welche Natur, Geschichte und geistige Bildung auf die Literatur äußern. Die Natur bedingt ihr eine örtliche, nationale und individuelle Eigentümlichkeit, sie wirkt auf die Charaktere, wie auf die Sprache, und ruft die mannigfaltigen Töne hervor, in welchen das Volk den Urlaut des Geschlechts, das Individuum den Urlaut des Volks modifiziert. Wie aber die Natur auf die Schöpfer der Literatur einen tiefen Einfluß behauptet, so die Geschichte auf die Gegenstände und den äußern Verkehr derselben. Die Interessen des handelnden Lebens kommen in der Literatur zur Sprache. Jeder neue Geist wird von dem Strome der Parteien ergriffen und muß Partei halten oder machen. Endlich dürfen wir, so innig auch, Natur, Geschichte, Geist in einer Gesamtwirkung sich durchdringen, doch die eigentümlichen Entwicklungen jeder bestimmten Wissenschaft oder Kunst und ihren Einfluß auf die Literatur von den Einflüssen sowohl nationaler und individueller Charaktere, als des herrschenden Zeitgeistes unterscheiden. Von eigentümlichen Naturen oder vom Geist der Zeit ergriffen, erleidet jede Wissenschaft und Kunst mannigfache Modifikationen, doch schreitet sie konsequent durch die Menschen und Jahrhunderte fort und wird nie einem Manne oder einer Nation oder einem Zeitalter allein untertan, von keinem ganz ergründet und vollendet. Wir betrachten demnach zuerst die allgemeinen natürlichen und historischen Bedingungen unserer Literatur, sodann insbesondre jedes ihrer Fächer.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Deutsche Literatur. Teil 1