Die Deutsche Literatur. Teil 1

Autor: Menzel, Wolfgang (1798-1873) deutscher Literaturkritiker, Erscheinungsjahr: 1836
Themenbereiche
Inhaltsverzeichnis
  1. Die Masse der Literatur.
  2. Nationalität.
  3. Einfluss der Schulgelehrsamkeit.
  4. Enfluss der fremden Literatur.
  5. Der literarische Verkehr.
  6. Religion.
  7. Philosophie.
  8. Philosophie.
Die Masse der Literatur. (Auszug)

Die Deutschen tun nicht viel, aber sie schreiben desto mehr. Wenn dereinst ein Bürger der kommenden Jahrhunderte auf den gegenwärtigen Zeitpunkt der deutschen Geschichte zurückblickt, so werden ihm mehr Bücher als Menschen vorkommen. Er wird durch die Jahre, wie durch Repositorien schreiten können. Er wird sagen, wir haben geschlafen und in Büchern geträumt. Wir sind ein Schreibervolk geworden und können statt des Doppeladlers eine Gans in unser Wappen setzen. Die Feder regiert und dient, arbeitet und lohnt, kämpft und ernährt, beglückt und straft bei uns. Wir lassen den Italienern ihren Himmel, den Spaniern ihre Heiligen, den Franzosen ihre Taten, den Engländern ihre Geldsäcke und sitzen bei unsern Büchern. Das sinnige deutsche Volk liebt es zu denken und zu dichten, und zum Schreiben hat es immer Zeit. Es hat sich die Buchdruckerkunst selbst erfunden, und nun arbeitet es unermüdlich an der großen Maschine. Die Schulgelehrsamkeit, die Lust am Fremden, die Mode, zuletzt der Wucher des Buchhandels haben das Übrige getan, und so baut sich um uns die unermessliche Büchermasse, die mit jedem Tage wächst, und wir erstaunen über das Ungeheure dieser Erscheinung, über das neue Wunder der Welt, die zyklopischen Mauern, die der Geist sich gründet.

Nach einem mäßigen Überschlage werden jährlich in Deutschland zehn Millionen Bände neu gedruckt. Da jeder halbjährige Messkatalog über tausend deutsche Schriftsteller namhaft macht, so dürfen wir annehmen, daß im gegenwärtigen Augenblick gegen fünfzigtausend Menschen in Deutschland leben, die ein Buch oder mehr geschrieben haben. Steigt ihre Zahl in der bisherigen Progression, so wird man einst ein Verzeichnis aller altern und neuern deutschen Autoren verfertigen können, das mehr Namen enthalten wird, als ein Verzeichnis aller lebenden Leser.

Die Wirkung dieser literarischen Tätigkeit schlägt uns gleichsam in die Augen. Wohin wir uns wenden, erblicken wir Bücher und Leser. Auch die kleinste Stadt hat ihre Leseanstalt, der ärmste Honoratior seine Handbibliothek. Was wir auch in der einen Hand haben mögen, in der andern haben wir gewiss immer ein Buch. Alles, vom Regieren bis zum Kinderwiegen ist eine Wissenschaft geworden, und will studiert sein. Die Literatur ist die allgemeine Reichsapotheke geworden, und da das ganze Reich immer kränker wird, je mehr es Arzneien einnimmt, so nehmen doch eben darum die Arzneien nicht ab, sondern zu. Bücher helfen für Alles. Was man nicht weiß, steht doch im Buche. Der Arzt schreibt sein Rezept, der Richter sein Urteil, der Geistliche seine Predigt, der Lehrer wie der Schüler sein Pensum aus Büchern ab. Man regiert, kuriert, handelt und wandelt, kocht und bratet nach Büchern. Die liebe Jugend aber wäre wohl verloren ohne Bücher. Ein Kind und ein Buch sind Dinge, die uns immer zugleich einfallen.

Die Vielschreiberei ist eine allgemeine Krankheit der Deutschen, die auch jenseits der Literatur herrscht, und in der Bureaukratie einen namhaften Teil der Bevölkerung an den Schreibtisch fesselt. Schreiber, wohin man blickt! Und eben diese Schreiber tragen durch das, was sie kosten, zur Verarmung des Landes nur bei, damit der Papiermüller an Lumpen keinen Mangel leide. Betrachten wir aber die sitzendende Lebensart, der so viele Tausende, geopfert werden. Ist sie nicht längst ein Gegenstand des öffentlichen Witzes gewesen, ehe Tissot ihr sein menschenfreundliches Bedauern und seinen ärztlichen Rath widmete? Ist der edle, aber durch die Feder aufgezehrte Gellert auf dem Rost, das ihm Friedrichs Ironie geschenkt, nicht das ewige Urbild jener armen an das Pult gefesselten Gallioten, ein Bild, das freilich ungleich unerfreulicher ist, als das eines griechischen Philosophen, der unter Palmen und Lorbeeren mehr denkt und spricht, als schreibt.

Es gibt nichts von irgend einigem, Interesse, worüber in Deutschland nicht geschrieben würde. Geschieht etwas, so ist die hauptsächlichste Folge davon, daß man darüber schreibt; ja viele Dinge scheinen nur darum zu geschehen, damit man darüber schreibe. Das Meiste wird aber in Deutschland nur geschrieben, und gar nicht getan. Unsere Tätigkeit ist eben vorzugsweise Schreiben. Dies wäre kein Unglück, da der Weise, der ein Buch schreibt, nicht weniger, und oft mehr tut, als der Feldherr, der einen Sieg erstreitet. Wenn aber zehntausend Toren auch Bücher schreiben wollen, so, ist das eben so schlimm, als wenn alle gemeine Soldaten Feldherren sein wollten.

Wir nehmen alle frühere Bildung nur in uns aus, um sie sogleich wieder ins Papier einzusargen. Wir bezahlen die Bücher, die wir lesen, mit denen, die wir schreiben. Es gibt Hunderttausende, die nur lernen, um wieder zu lehren, deren ganzes Dasein an ein Paar Bücher geschmiedet ist, die von der Schulbank aufs Katheder kommen, ohne je in die grüne Welt hinauszublicken. Womit sie gemartert worden, damit martern sie wieder, Priester der Verwesung unter Mumien verdorrt, pflanzen sie das alte Gift, wie Vestalinnen das heilige Feuer fort.

Jeder neue Genius scheint nur geboren zu werden, um sogleich in das Papier zu fahren. Wir haben kaum größere Landsleute, als schreibende. Die Bahn des Rums, die dem Helden und dem Staatsmann in Deutschland etwas langweilig gemacht und dem Künstler ganz mit Dornen besäet wird, steht nur dem Schriftsteller lockend offen. Ein geistreicher Mann wird in Deutschland eben so oft ein Schriftsteller, als in England oder Frankreich ein Staatsmann. Wo er nicht handeln kann, schreibt er wenigstens.

So wetteifern eigentlich die Guten und die Schlechten, die Berufenen und die Unberufenen, die literarische Sündflut anzuschwellen. Als diese Flut zuerst in wirken begann, sagte schon ein älteres Volkslied:

Papiers Natur ist Rauschen,
Und rauschen kann es viel,
Leicht kann man es belauschen,
Denn es stets rauschen will.

Es rauscht an allen Orten,
Wo sein Bißlein ist,
Also auch die Gelehrten
Rauschen ohn alle List.

Aus Lumpen tut man machen,
Des edlen Schreibers Zeug,
Es möcht’ wohl jemand lachen,
Fürwahr ich Dir nicht leug.

Alt Hadern, rein gewaschen,
Dazu man brauchen tut,
Hebt manchen aus der Aschen,
Der sonst litt groß Armut.

Die Feder hintern Ohren,
Zum Schreiben zugespitzt,
Tut manchen heimlich zoren
Woran der Schreiber sitzt.

Vor andern Knaben allen,
Weil man ihn Schreiber heißt,
Tut Fürsten wohlgefallen,
Die lieben ihn allmeist.

Den Schreiber man wohl nennet,
Ein’ edlen teuren Schatz,
Wiewohl man's ihm nicht gönnet,
Dennoch hält er den Platz.

Vorm Schreiber muss sich biegen
Oft mancher stolze Held,
Und in den Winkel schmiegen,
Ob's ihm gleich nicht gefällt.


Fortsetzung in Kapitel 1