St. Petershof

Wie sehr sich auch im Wechsel der Zeiten die Machtverhältnisse im Nordosten Europas verschoben, Nowgorod wusste seine gebietende Stellung gegen die andrängenden Nachbarn bis zum Ausgang des fünfzehnten Jahrhunderts ungeschmälert zu behaupten. Glück und Klugheit hatten die Stadt vor der Eroberung durch die asiatischen Horden bewahrt, während ganz Russland dem Joche des Tartarenchans verfallen war. So blühte Handel und Wandel am Wolchow zu nie geahnter Größe empor; die deutschen Kauffahrer trafen in solchen Scharen dort ein, dass die Häuser und Warenlager um St. Peter die Gäste oft nicht fassen konnten und daher Viele außerhalb des schützenden Gehöftes ihren Stand nehmen mussten. Sie machten ihre Reisen in freien Genossenschaften, in denen sie das gemeinsame Band der Heimat, des Rechtes und der Geschäftsinteressen zusammenhielt, das den Einzelnen jedoch in der Freiheit der Bewegung nicht hemmte. Die Beschränkung, der jeder deutsche Kauffahrer unterworfen war, ging von den in seiner Heimatstadt geltenden Satzungen und von den Vereinbarungen aus, welche diese mit anderen Städten getroffen hatten.1)

Als die Zahl der Besucher der deutschen Faktorei am Wolchow mit jedem Jahre wuchst machte sich auch die Notwendigkeit eines Hausgesetzes geltend, dem jeder, der unter dem Schutze von St. Peter Kaufschlag treiben wollte, sich unweigerlich fügen musste.


Nach der Väter Art hielt der „gemeine deutsche Kaufmann" in der Fremde nicht minder als daheim auf strenges Recht, auf ehrbare Zucht und Sitte; diesem Geiste entsprechen denn auch die Bestimmungen, welche er zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung im Hofe zu St. Peter traf und denen er die altgermanische Bezeichnung „Skra“ gab.2) Die älteste bekannte ,,Skra von Naugarden“ stammt aus der ersten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts; den veränderten Bedürfnissen entsprechend folgten Abänderungen und Zusätze, deren man in der Zeit von 1315 bis 1371 nicht weniger als achtzehn zählt.

Die im Archiv (Weddelade) zu Lübeck aufbewahrte Sammlung von Bestimmungen für den Hof zu Nowgorod wird mit folgendem Denkspruch eingeführt:

Desse Skra scal men lesen
Also dicke it nutte dunket wesen*)
Un scal sich na dessen dichten
Do allen tiden richten
3)

*) So oft es nützlich erscheint.

Sobald die Kauffahrer in der Niederlage eingetroffen waren, wählten sie aus ihrer Mitte zwei Vorsteher, gleichviel aus welcher Stadt dieselben stammten; 4) der eine wurde Olderman des Hofes, der andere Olderman der Kirche von St. Peter. Die höchste Gewalt ward dem ersteren zuerkannte er erhielt später die Macht „to richten an Hals vnde an Hant.“ Er führte den Vorsitz im Rate, berief die Versammlungen und vertrat die Interessen des deutschen Kaufmanns vor den Russen. Zu seinem Beistand erwählte er vier „Meister“; bei Strafe durfte Niemand die Wahl ablehnen oder sich weigernd den Olderman zu den Verhandlungen mit den Vertretern Nowgorods zu begleiten.

Dem anderen Olderman war die Obhut über die Kirche anvertraut, deren Schlüssel in seiner Verwahrung sich befanden. Der heilige Petrus hatte die Geldkiste und die Urkundentruhe zu beschützen; vor seinem Altar wurden die wichtigsten Kaufgeschäfte abgeschlossen. Das ihm geweihte Gotteshaus musste aber auch als Warenlager dienen; rings an den Wänden standen Tonnen und Ballen, neben dem Altar, der bei einer Mark Silber Strafe frei bleiben musste, hatten die Weinfässer ihren Platz.

Die deutschen Kaufherren, welche Nowgorod besuchten, unterschieden sich in Wasser- und Landfahrer; die ersteren, je nachdem sie in der Schneezeit am Wolchow blieben oder im Herbst die Segel heimwärts stellten, in Sommer- und Winterfahrer. Die Wasserfahrer hatten als die ältesten Besucher der Freistadt vor den Landfahrern, welche vorwiegend aus Livland kamen, gewisse Rechte voraus. Sobald sie im Hofe eintrafen, musste der von den Landfahrern gewählte Olderman dem ihrigen Platz machen, auch der Priester jener vor dem Seelenhirten, der über See mitgekommen war, weichen.

Der im Schutze von St. Peter hausende Kaufmann erfreute sich einer größeren Freiheit, als seine Landsleute in den Kaufhöfen von London, Brügge oder Bergen. Die Besucher des St. Petershofes sonderten sich je nach ihrer heimatlichen oder geschäftlichen Zusammengehörigkeit in Genossenschaften oder Mascopeien, denen Meister, Knappen und Jungen angehörten; jede dieser Genossenschaften hatte einen gemeinschaftlichen Wohnraum, das Dornsen; sie bestritt auch die Kosten des Unterhalts für die Mitglieder aus den Beiträgen derselben. Eine Mascopei stand unter der Leitung eines selbstgewählten Vogtes, der zwei Beisitzer berief, den einen aus dem Kreise der Meister, den andern aus dem der Knappen oder Knechte, unter deren Obhut das Dornsen und die Trinkstube, Feuer und Licht u. a. m. standen. Der Vogt hatte über seine Genossenschaft eine gewisse Strafgewalt; jeden Sonnabend forderte er die Übertreter der Skrabestimmungen vor seinen Stuhl und je nach der Schwere ihres Vergehens verurteilte er sie in Strafen bis zu 15 Kunen.

Die Verteilung der Dornsen erfolgte durch das Los; die Wasserfahrer hatten jedoch das Rechte die ihnen genehmen Wohnräume von den Landfahrern zu beanspruchen und diese zum Verlassen derselben zu nötigen. Nur der Olderman durfte für sich und seine Mascopei unter den Dornsen frei wählen, auch in der Winterszeit in der Allen gemeinsamen großen Stube mit seinen Gefährten, wo es ihm beliebte, Platz nehmen. Der Priester hatte sein eigenes Gemach, in welchem aber gewisse Kaufgeschäfte, wie besonders das Zuwiegen des Silbers, abgeschlossen wurden.

Das Haus mit den Dornsen war von den Warenlagern und den Verkaufshallen getrennt, sein mächtigster Raum war das Potklet, das Speise- und Trinkzimmer der Meister; Knappen und Jungen hielten ihre Mahlzeiten in einem abgesonderten Raum, zu den großen Gelagen versammelten sie sich in der sogenannten „Kinderstube“.*) Die Schlafstätten befanden sich in vier von einander getrennten Gebäuden, Kleten genannt, davon drei je vierundzwanzig Meistermännern, das vierte, in welchem der Dolmetscher wohnte, jedoch nur sechs Unterstand gewährte. In dieser Klete waren auch die Verkaufshallen, welche indes nur zur Auslage der Proben dienten; die Warenballen durften hier nicht aufgestapelt werden. In dem oberen Stock hielten vorwiegend die Tuchhändler feil, das untere war Denjenigen angewiesen, ,,de gelt hebben“, d. h. den Kaufleuten, die ihre Einkäufe an Rohprodukten mit barem Gelde bezahlten. Zuweilen war der Zudrang der Kauffahrer zum St. Petershof so groß, dass die Räumlichkeiten zur Aufnahme Aller nicht ausreichten; in diesem Falle erhielten die Überzähligen die Erlaubnis sich außerhalb des Hofes eine schickliche Unterkunft zu suchen. Den Pelzhändlern ward in späterer Zeit ein besonderer Raum „die Griednisse“ angewiesene der ursprünglich wohl als eine Art Wachthaus gedient haben mag.

*) Kinderstouve.

Aus dem Hose befanden sich außer den genannten Gebäulichkeiten noch das Siechenhaus,*) die Mahlstube, der Baderaum und die Brauküche. Der letzteren ward bei der Vorliebe der Deutschen für einen guten Trunk große Sorgfalt gewidmet. Jede Mascopei braute aus gemeinsame Kosten das für die Dauer ihres Aufenthalts erforderliche Bier; jeder Genosse hatte auch dann seinen Beitrag zu steuern, wenn er abreiste noch bevor das Gebräu fertig war. Nach jedesmaliger Benutzung musste die Brauküche gesäubert werden, wie denn überhaupt im ganzen Hofe streng auf Ordnung und Reinlichkeit gesehen wurde. Wer Stroh, das zum Packen oder als Unterlage zum Bleichen von Garn oder Leinwand gebraucht wurde, verstreut liegen ließ, wurde gebüßt, ebenso der, welcher mehr als eine Leine zum Trocknen seiner Sachen aufspannte und dadurch den Verkehr hemmte. Eine Mark Silber musste zahlen, wer seine Warenballen und Fässer nicht mit seinem Zeichen versehen hatte.

*) seyk stowe.

Der unmittelbare Verkehr mit den Russen wurde sehr beschränkt, vor Allem galt es, der russischen Sprache mächtig zu sein. Zu jeder Zeit befanden sich einige Knaben, die jedoch das zwanzigste Jahr nicht überschritten haben durften, auf dem Hofe, welche unter Anleitung von Sprachlehrern russisch lernten. Im Umgang mit den Nowgoroder Geschäftsfreunden bedurfte es großer Klugheit und Umsicht; die Art, wie sie den Kaufschlag betrieben, rechtfertigte das regeste Misstrauen. Daher durfte kein zum deutschen Hofe gehöriger Kaufmann ohne Zeugen mit einem Russen ein Geschäft abschließen; es mussten zwei Deutsche dabei zugegen sein, die jedoch weder mit ihm blutsverwandt noch seine Geschäftsinhaber sein durften. Den Zeugen blieb es verboten, vor Ablauf von drei Tagen, nachdem sie Jenem beigestanden, ohne seine besondere Genehmigung die, selbe Ware zu kaufen, um die er gefeilscht hatte.

Das „Dobeln“ das Spiel um hohen Einsatz war dem „meynen copmann“ zu Naugard bei zehn Mark Strafe verboten; wer sich aber gar verleiten ließ, in einem russischen Hause zu spielen, musste fünfzig Mark zahlen und verlor die Rechte des Hofes.

Zur Aufrechthaltung der Sicherheit und der Ruhe waren umfassende Vorkehrungen getroffen; kein Russe durfte innerhalb der Umzäunung von St. Peter übernachten; nach Toresschluss mussten die Lichter ausgelöscht werden und außer den Wächtern mit ihren Hunden durfte sich Niemand im Hofe mehr zeigen. Tag und Nacht machten Gesellen die Runde um das Gehöft; namentlich ward die Kirche streng behütet, jede Nacht hatten dort zwei Mann, welche weder Brüder, noch Geschäftsteilhaber, noch Gesellen eines Meisters sein durften, die Wache; hinter ihnen ward jeden Abend die Kirchentür abgeschlossen, deren Schlüssel dem Olderman abgeliefert wurde. Vor dem Portal stand noch ein anderer Posten, der darauf zu achten hatte, dass kein Russe sich der Kirche näherte und war es aus Argwohn gegen die Nowgoroder selbst verboten, den Kirchenschlüssel so zu tragen, dass ihn Jedermann sehen konnte.

Zur Kirchenwacht war verpflichtet, wer sich zu St. Peter hielte mochte er auch außerhalb des Hofes seinen Aufenthalt nehmen. Die Wache traf der Reihe nach Jeden; den Anfang machte die oberste Klete und kamen in jeder Klete zuerst die unten Wohnenden, ,,de gelt hebben“ daran. Zur Essenszeit erhielt die Ablösung die Weisung, sich bereit zu machen. Jeder Besucher von St. Petershof hatte eine Abgabe zu entrichten, welche zur Erhaltung der Baulichkeiten, sowie zur Bestreitung anderweitiger Ausgaben diente. Die Winterfahrer steuerten von je hundert Mark einen „Verdhinc“*), ebensoviel jeder Meister für Hausmiete. Der Sommerfahrer zahlte dagegen nur einen halben Verdhinc und eine Mark Kunen 6) Miete. Jeder durch Nowgorod Reisende aus einem Landen „das sich zu deutschem Rechte hält“, musste St. Peter einen halben Schoß erlegen, dem Fürsten der Stadt war ein ,,coningesshot“, ein Königsschoß, bestimmt.

*) Eine Viertelmark.

Der Kassenüberschuss wurde „nach alter Sitte und der Willkür der gemeinen Deutschen aus allen Städten“ nach Gotland abgeführt, um in dem St. Peterskasten der Marienkirche zu Wisby aufbewahrt zu werden. Die vier zum Kasten gehörenden Schlüssel wurden der Obhut je eines Oldermans von Wisby, Lübeck, Soest und Dortmund anvertraut. 7)

Die Berufung in allen zweifelhaften Rechtsfragen hatte von Seiten des Hofes an den Rat der Deutschen auf Gotland zu erfolgen; waren es doch Mitglieder dieser Gemeinde gewesen, welche den Grundstein zu dem blühenden Handelsverkehr mit Nowgorod gelegt hatten. Aber nach wenigen Jahrzehnten empfanden es Lübeck und die nach seinem Recht lebenden Städte als eine Zurücksetzung, dass ihre Kauffahrer Wisbysches Recht suchen sollten. Im Oktober 1293 fassten daher die zu Rostock versammelten Sendboten von Lübeck, Stralsund, Greifswald und Wismar „um des Friedens willen und zum Nutzen der gemeinen Kaufleute, einen Beschluss, dem auch die sächsischen und wendischen Städte beitraten, laut welchem fortan die Berufung von St. Peter nicht mehr nach Gotland, sondern nach Lübeck zu erfolgen habe, und ward ohne weiteres die entsprechende Bestimmung in die „Skra van Naugarden“ ausgenommen. 8) Doch waren mit diesem Beschluss die älteren Städten welche eigenes Recht hatten, nicht einverstanden, wie Hamburg, Bremen, Osnabrück, Soest und Münster; sie erklärten sich zu Gunsten „von Vogt und Rat der Deutschen zu Wisby“ und ließen die neue Bestimmung in der Sara ausmerzen. Dagegen erkannten in Lübeck „gleichsam ihr Haupte wie es in dem Sendschreiben von Zwolle heißt, vierundzwanzig an dem russischen Handel beteiligte Städten welche nach und nach ihre Zustimmung zu der in Rostock beschlossenen Neuerung gaben, darunter befanden sich: Magdeburg, Halle, Braunschweig, Kiel, Danzig und Riga. Das letztere, welches einen besonders lebhaften Handel nach Russland betrieb und bestrebt war, sich der Bevormundung durch die Vormächte zu entziehend hatte anfänglich die Partei Wisbys genommene sich jedoch spätere weil es den Beistand Lübecks in dem Kampfe wider die Übergriffe der Ordensritter nicht entbehren konnte, anders entschieden; 1297 sprach der Rigische Rat den Lübeckern in einem Schreiben sein Bedauern aus wegen der Tilgung der neuen Bestimmung der Skra, und versichertem dem Wortlaute derselben folgen zu wollen. 10) Lübeck hatte sich den Dank vieler Städte vornämlich dadurch erworben, dass es alte in Vergessenheit geratene Satzungen, die eine Konkurrenz zwischen Ostsee- und Nordseefahrern verhüten sollten, wieder in Erinnerung brachte und auf deren Befolgung drang.

Gereichte es doch „allen seefahrenden Kaufleuten des römischen Reichs zum Nutzen, dass weder Friesen noch Flandern die Ostsee und Gotland, die Goten nicht die Westsee befahren durften.“11)

Wisby suchte sein Vorrecht mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln zu wahren. Die Berufung nach Lübeck, erklärt es in einem Schreiben an Osnabrück 12) widerspreche der alten Freiheit, welche von seinen Vorfahren in ältester Zeit nach Nowgorod verpflanzt und dort wie in Gotland bis auf die Gegenwart gewahrt worden sei. Es hofft mit Hilfe der Städte des Ostens die beabsichtigte Minderung der Freiheiten abzuwehren.

Lübeck konnte der Opposition gegenüber den Rostocker Beschluss in seinem vollen Umfange nicht durchsetzen; es lenkte ein und ließ durch seine Vertreter auf dem in seinen Mauern 1298 abgehaltenen Städtetage die Erklärung abgebend dass es nur wünsche, in zweifelhaften Fällen Belehrung zu geben und das Recht zu weisen. 13) Diesen Rückzug suchte die Vormacht an der Trave aber zu decken und wett zu machend indem sie Wisby von einer anderen Seite beizukommen wussten Der sich zeitweilig auf Gotland aufhaltende deutsche Kaufherr hatte das Siegel der deutschen Gemeinde, welches das zuerst von Soest übernommene Sinnbild der Tapferkeit und der Keuschheit, den Lilienbusch darstellte, häufig als Bundessiegel benutzt, obwohl die Hansa kein gemeinsames Siegel führte. Bis dahin war dies unbeanstandet geblieben, nunmehr ward aber auf Antrag Lübecks beschlossen, der Wisbyer Gemeinde zu untersagen, ein Siegel des gemeinen Kaufmanns zu führen, damit sie nicht den Städten Unliebsames untersiegele; jede Stadt habe sich fortan ihres eigenen Siegels zu bedienen. 14) Auch wirkte Lübeck darauf hin, dass der Kassenüberschuss von St. Peters der nach Verordnung der ältesten Skra in der Marienkirche zu Wisby aufbewahrt werden sollte, in Zukunft seiner Obhut anvertraut wurde.

Obwohl die Spannung zwischen den beiden Vororten fortdauerte, so einigte man sich doch, um dem Drängen der livländischen Städte, namentlich Rigas, nach Mitherrschaft über die Niederlage am Wolchow entgegentreten zu können, dahin, über den Hof zu St. Peter eine gemeinsame Kontrolle auszuüben, durch welche der Freiheit des gemeinen Kaufmanns immer engere Grenzen gezogen wurden. Waren anfangs die Olderleute des Hofes nur nach ihrer T?chtigkeit ohne Rücksicht auf ihre Herkunft gewählt worden, so hatte sich nach und nach der Brauch eingebürgerte diese Ämter abwechselnd mit einem Lübecker und einem Wisbyer zu besetzen. Diese Bevorzugung ihrer Bürger ward nun 1346 von beiden Städten als ihr unbestrittenes Recht in Anspruch genommen; auch sollte die Wahl nicht mehr durch die Meister des Hofes, sondern durch besondere Sendboten der Städte erfolgen. Der Olderman des Hofes, nur noch den beiden Vormächten Rechenschaft schuldig, ward unumschränkter Gebieter über die sich zu St. Peter haltenden Deutschen. Mit seinem Amtsantritt erloschen alle bisherigen Bestallungen: die Olderleute der Kirche, deren es jetzt zwei gab, überreichten ihm die Schlüssel und waren damit ihres Amtes ledig. Nach seinem Belieben gab er ihnen Nachfolger, jedoch nur Bürger von der Trave oder von Gotland; nur für den Fall, dass weder Lübecker noch Wisbyer anwesend waren, durfte er sich aus den Meistern anderer Städte seine Gehilfen wählen, die aber ohne Weiteres weichen mussten, sobald Kauffahrer aus einem der beiden führenden Orte eintrafen. Auch der Priester des Hofes musste ein Angehöriger Lübecks oder Wisbys sein.

Nicht ohne Widerstreben der Bundesglieder gelangten diese Neuerungen zur Annahme; aber nur Riga konnte seine Stellung neben den beiden Vormächten behaupten. Seine Beschwerde über die ihm widerfahrene Unbill, dass keine Rigischer Bürger mehr zum Olderman gewählt würden hatte den Erfolg, dass der 1363 zu Lübeck abgehaltene Städtetag beschloss, Riga zu einem Drittel an der Controle über St. Petershof teilnehmen zu lassen; auch sollte in Zukunft der erste Olderman, der jetzt für unabsetzbar erklärt wurde, wieder aus dem Kreise der Meister aller in der Hansa vertretenen Städte gewählt werden. 15) Dieser Erfolg Rigas war um so bedeutender, als die Stadt nach langen und schweren Kämpfen im ersten Viertel des vierzehnten Jahrhunderts ihre Unabhängigkeit an den Orden verloren und ihren Wohlstand eingebüßt hatte. Den Mut sich trotz aller Drangsale und Niederlagen den beiden Vororten als ebenbürtig an die Seite zu stellend schöpfte sie aus dem schnellen und unaufhaltsamen Niedergange Wisbys.

König Waldemar III. von Dänemark hatte 1361 die Mauern der gotländischen Hauptstadt, in der, wie er seinen Kriegern verkündete, „die Schweine aus silbernen Trögen fräßen,“ gebrochen und eine ungeheure Beute an Gold, Silber und köstlichen Waren mit sich fortgeschleppt. Von diesem Schlage konnte sich Wisby nicht wieder erholen. Bald ward es Standquartier der Seeräuber, die, seitdem sie von den mit Margarethe von Dänemark in Fehde liegenden Städten Rostock und Wismar den Auftrag erhalten hatten, die Länder der Königin zu pfänden und das von den Dänen bedrohte Stockholm mit Lebensmitteln (Victualien) zu versorgen, unter dem Namen der ,,Vitalienbrüder“16) ein Schrecken des gemeinen deutschen Kaufmanns wurden; sie beherrschten die baltische See und nur unter dem Schutze von Kriegsschiffen konnte der Kauffahrer sich auf das hohe Meer wagend wenn er seine Koggen nicht als gute Prise von diesen Brüdern ausgebracht sehen wollte. Swen Sturem das gefürchtete Haupt der Vitalienbrüderschaft, hatte Wisby zu einem gefährlichen Raubnest gemachte daher fein Hafen der Kauffahrtei verschlossen blieb. Wenn er auch, nachdem der deutsche Orden 1398 die Seeräuber vertrieben und Gotland in Pfandbesitz genommen hatte, dem deutschen Kaufmann wieder zugänglich geworden war, so konnte Wisby doch nie mehr derart zu Kräften kommen, um den Wettstreit mit Lübeck und Riga von Neuem aufzunehmen.

Die Vormacht an der Trave hatte unmittelbar nach der Eroberung Wisbys durch Waldemar den Versuch erneuerte die deutsche Gemeinde auf Gotland in den Hintergrund zu drängen, indem sie die anderen Städte wieder zur Mitwirkung an den Angelegenheiten des Hofes zu Nowgorod einlud. Wisby sprach ihr darob in herber Weise seine Verwunderung aus: nur ihnen beiden stehe das Regiment über den Hof 17) zu. Auch die Frage wegen der Berufung war durch die Lübecker Sendboten wieder zur Sprache gebracht worden, aber die Städte, namentlich Riga, Dorpat und Reval gingen darauf nicht ein und erklärten im Juni 1366 die Entscheidung in diesem zwischen Lübeck und Wisby schwebenden Streit auf eine spätere Zeit verschieben zu wollen. 18) Die anderen Beschlüsse 19) dieses Städtetages schärften den Kaufleuten ein: Niemand dürfe Nowgorod beziehen, der nicht dem Rechte der deutschen Hansa zugehöre; Olderleute und Meister von St. Peter hätten bei unnachsichtiger Ahndung sich zu hütend ohne Vorwissen Lübecks und Wisbyse sowie der anderen Städte, große, gewichtige und vielumfassende Einrichtungen zu treffen. 20)

Während Wisbys Einfluss aus die Niederlage am Wolchow immer mehr zurückginge gewann Riga stetig an Bedeutung. Der Handel dieser Stadt mit Russland hatte sich von Jahr zu Jahr erweitert: Die Russen, durch Deutsche, Schweden und Dänen vom Meere verdrängte suchten mit Vorliebe den rigischen Markt auf. Ihr Haupthandelsartikel und vornehmstes Tauschmittel war Wachs, das vorwiegend an der Geistlichkeit einen vermögenden Käufer fand; weiter brachten sie zum Verkauf: Getreide, Salz, Hanfe Holz, Felle und Fette aller Art. 21) Die Rigaer gewährten den russischen Gästen freundliche Aufnahme, daher sich viele von diesen dauernd in der Stadt niederließen. Um die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts finden wir in Riga bereits eine russische Straße, eine russische Kirche nebst Begräbnisplatz, eine russische Gildestube und russische Häuserbesitzer; vor einem seiner Tore lag ein russisches Dorf. So lebhaft hatte sich der Verkehr mit Russen und Litauern entwickelte dass in dem ältesten Schuldbuche der Stadt unter zweitausend von 1266 bis 1339 vor dem Rat eingetragenen Schuldverschreibungen bei einzelnen Buchstaben russische und litauische Namen den dritten Teil bilden. 22) In Folge dieser geschäftlichen Verbindungen konnte Riga bei allen Kämpfen mit den Rittern und dem Domkapitel auf den Beistand aus Russland und Litauen rechnen: eine Bundesgenossenschaft, die der Stadt von dem Orden wie von der Geistlichkeit oft zum schweren Vorwurf gemacht, jedoch häufig genug von beiden ebenfalls gesucht wurde. 23)
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Deutsche Hansa in Russland