Zweite Fortsetzung

Die Grenzen des ärztlichen Handelns vereinigen sich in den Grundsätzen: „Weder zu viel noch zu wenig" und "weder verwegen noch furchtsam."

Bei allen Kuren hat der Arzt drei einander untergeordnete jedoch selten zu vereinbarende Rücksichten, nämlich: „Sicher, geschwind und angenehm zu heilen."


Nach den dreifachen Quellen, woraus der Arzt seine Hilfe entnimmt, (der diätetischen durch Regulierung der Lebensordnung, der kurativen durch eigentliche Arzneimittel und der operativen oder kunstgemäßen Handanlegung) hat der Arzt zur Durchführung eines entworfenen Heilplanes auch eine dreifache Assistenz nötig: die der Krankenpflege, teils von den Angehörigen, teils von hierzu gedungenen Wärtern ausgeübt; die der Arzneibereitung, welche in einem wohlgeordneten Medizinalwesen einzig dem Apotheker zusteht, und die des chirurgischen Wirkens, welche als Kunstfertigkeit eigener Art häufig auch von eigenen medizinischen Technikern (Chirurgen) geübt wird, wiewohl der Arzt sich ein um so größeres Verdienst erwirbt, wenn er in gegebenen Fällen auch chirurgische Verrichtungen geschickt zu vollführen vermag.

Eine der wichtigsten Quellen, woraus der Arzt seine Hilf« entnimmt, ist und bleibt die diätetische, nämlich die Regulierung der Lebensordnung; an jedem Krankenbette empfiehlt er zuvörderst Diät, und wird dieselbe von dem Patienten nicht beobachtet, so wird selbst durch das pünktlichste Einnehmen der Arzneimittel selten das gewünschte Resultat — eine grünbliche Heilung — erzielt.

Bei dem gewöhnlich stürmischen Auftreten der herrschenden Seuche ist nun, wie schon früher erwähnt, der Zeiträum für die Regulierung der Lebensordnung ein allzu beschränktet und bei gar vielen Fällen ein von den verderblichsten Äußerungen geradezu abgeschnittener. Von dieser Anschauung ausgehend, veröffentlichten die Ärzte rechtzeitig ein diätetisches Verhalten, damit die Gesunden vernunftgemäß alle Gelegenheits-Ursachen vermeiden möchten, welche das Umsichgreifen der Epidemie fördern. Schon dieser aus der Wissenschaft geschöpfte und auf die Praxis gestützte gemeinnützige Rat ist bei einer vernünftigen folgsamen Darnachachtung von unschätzbarem Werte; leider wird nun aber dieser Rat nicht so gewürdigt, wie es der Ernst unserer Tage erfordert. „Ei was, der Ansteckungsstoff liegt in der Luft und wer dafür empfänglich ist, wird eben von der Cholera befallen, während der Nichtempfängliche verschont bleibt. Da kommt's nicht darauf an, was man isst und trinkt, sondern lediglich auf die Konstitution. Das alte Sprichwort: Was dem Schmid zusagt, bringt oft den Schneider um, findet hier volle Geltung." So hörte man häufig die Leute raisonnieren, und Jene, welche so taten, glaubten etwas ungemein Vernünftiges gesagt zu haben.

Diese Anschauungsweise ist jedoch eine durchaus irrtümliche, denn Viele, welche vermöge ihrer Konstitution eine erhöhte Empfänglichkeit für die herrschende Seuche in sich bergen, können häufig bei einem vernünftigen diätetischen Verhalten sich vor dem Ausbruche derselben schützen, während wieder andere für das in dem Dunstkreis verbreitete Miasma weniger Empfängliche das Ausbrechen der Krankheit durch unverzeihliche Diätfehler geradezu herauf beschwören.

Da nun nach einem feststehenden Grundsätze Arzneimittel nur dann heilsam wirken können, wenn von dem Kranken das vorgeschriebene diätetische Verhalten mit eiserner Festigkeit befolgt wird, so kann man andererseits gewiss nicht in Abrede stellen, dass man sich nur eine höchst zweifelhafte Wirkung von Arzneimitteln versprechen kann, wenn durch eine Epidemie, welche plötzlich auftritt, sozusagen der Zeitraum, den die Regulierung einer gestörten Lebensordnung fordert, gleichsam von vornherein abgeschnitten wird. Es sollten sich daher während einer so kritischen Periode auch alle Gesunden einem vernünftigen diätetischen Verhalten unterziehen und nicht selbst leichtsinnig oder frevelhaft die Lebensordnung in einer Epoche stören, wo oft der geringste Exzess hinreicht, einen von Natur Kräftigen während einigen Tagen, ja selbst binnen einigen Stunden hinwegzuraffen.

Solche, welche nun, taub gegen jeden vernünftigen Rat, mit der Gefahr gleichsam spielen, dürfen sich dann im kritischen Falle auch nicht, wundern, wenn bei ihnen die angestrebte Rettung nicht gelingt, denn der leichtsinnig oder frevelhaft gestörten Lebensordnung ist, wie bereits mehrfach erwähnt , bei dem urplötzlichen Auftreten der Seuche die Regulierung in den meisten Fällen gänzlich abgeschnitten, weshalb dann auch der Arzt am Krankenbette durch die Medikamente, die er verordnet, kein Wunder zu wirken im Stande ist.

Undank ist der Welt Lohn! Mehr oder minder hat wohl jeder Rechtschaffene das schon erfahren, am häufigsten aber überzeugt sich hiervon der rechtliche Arzt und zwar nicht bloß während dieser Epidemie, sondern schon von Alters her.

Wie häufig hört man Diesen oder Jenen sprechen, indem er über einen Bekannten redet, derselbe müsse notwendig vor der Zeit ins Grab kommen, denn es vergehe selten ein Monat, wo er nicht einen Arzt rufen lasse, und er sehe nicht ein, dass das ewige Einnehmen ihn zu Grunde richte. Stirbt nun ein Solcher wirklich, so wird in gewissenlosester Weise gefolgert, die Ärzte haben ihn umgebracht, denn er habe ja fast eine ganze Apotheke ausgegessen.

An dieser Stelle frage ich, kamen zu einem Solchen, dessen Heimgang seine Bekannten betrauern, während sie die Ärzte, welche ihn behandelten, schmähen, die Letzteren ungerufen? — überredeten sie ihn, dass er krank sei und dass er Medikamente nehmen müsse? —

Hierauf antworte ich, dass kein Arzt ungerufen erscheint und dass der Gebetene nur dann ein Rezept schreibt, wenn er die Notwendigkeit so zu tun einsieht. Wenn nun ein Mensch durch eine fortgesetzte unordentliche Lebensweise gar häufig der ärztlichen Hilfe bedarf und ein fortwährendes Mediziniren ihm gleichsam zum Bedürfnis wird, so frage ich, haben einen Solchen die Ärzte und die Medikamente, die ihm verschrieben wurden, unter die Erde gebracht, oder arbeitete er selbst dem frühen Tod, der ihn ereilte, in die Hände?

Unzweifelhaft ist das Letztere der Fall, denn wo ein Mensch nicht durch ein vernunftgemäßes moralisches Handeln zuvörderst seine eigener Arzt ist, wird das gesamte Medizinal-Kollegium mit all' den ihm zu Gebote stehenden Mitteln nicht im Stande sein, eine Garantie für die Erhaltung eines Lebens zu geben, dessen Ordnung in brutalster Weise, gegen alle vernünftigen Vorstellungen taub, fortwährend gestört und endlich zerstört wird. Wenn z. B. ein verwegener Reiter, der sich anmaßt die wildesten Pferde zu bändigen, heute einen Fuß, morgen einen Arm bricht und ein anderes Mal durch einen schweren Fall eine innerliche Verletzung erhält, welche die Initiative zu seinem Tode gibt, stirbt ein solcher dann in Folge der Behandlung der Ärzte oder in Folge jenes wilden Ungestüms, das er sich nicht wehren ließ? — Gewiss in Folge des letzteren und ebenso verhält es sich auch mit einem Menschen, der fortwährend auf seine Gesundheit losstürmt und so zu sagen sein böses Schicksal sich selbst macht. Einen Solchen vermag der Arzt nur temporär zu sticken, wie man sich im Leben ausdrückt, denn die gründliche Herstellung scheitert ja an dem bösen Willen des Patienten selbst. Ein derartiger Kranker ist für den rechtlichen moralischen Arzt eine unerquickliche Last, und indem Letzterer alle seine Nachschlage unbeachtet und unbefolgt sieht, muss es ihn am Ende zu einer Erklärung drängen, in Folge deren ihm der von einem falschen Ehrgefühl befangene Patient, sich beleidigt anstellend, die Rechnung abfordert und ihn — aufgibt.

Die Meisten, welche die eigene Gesundheit zerstören, wollen es durchaus nicht leiden, wenn ein rechtschaffener Arzt ihnen mit Ernst und Würde den Spiegel der Erkenntnis; vors Auge hält und ihnen geradezu sagt: „Herr, ich kann nicht heilen, wo Sie fortwährend zerstören; bringen Sie Ordnung in die Unordnung Ihres Handelns, mit einem Worte, bessern Sie sich, es ist das für Sie das einzige Medikament, welches im Stande ist Sie zu retten."

„Ei seht doch, was sich der Doktor einbildet, er erdreistet sich mir eine moralische Vorlesung zu halten; so etwas verbitt' ich mir; ich bin krank und will gesund werden. Mich zu kurieren, das ist sein Geschäft und meine Pflicht ihn dafür zu zahlen; das Sittenprediger! aber mager bei armen Teufeln anwenden, die ihn statt mit klingender Münze mit einem: „Vergeltsgott" zahlen und ihn aus Dankbarkeit in ihr Gebet einzuschließen versprechen. Ich verlange Hilfe keine Worte; ich weiß schon selbst, was ich zu tun habe." So hört man häufig solche Dünkelhafte sprechen, die ein rechtliches Wort gar nicht zu schätzen wissen und eben deshalb es auch gar nicht wert sind. Die einer moralischen gemeinnützigen Lehre gegenüber gestellte Behauptung: „Ich weiß schon selbst, was ich zu tun habe," straft sich durch das immer und immer Wiedererkranken Lüge, und ein Organismus, welchen fortwährende Störungen belästigen und hemmen, muss, wenn die Gelegenheitsursachen nicht entfernt werden, wenn auch langsam aber sicher zu Grunde gehen. Die moralische Rüge eines Arztes zielt nun zuvörderst auf die Entfernung der Gelegenheitsursachen hin, denn wo diese mit störrischem Willen beibehalten werden, erschöpft sich machtlos die Kunst zu heilen. Das sollte, bei Gott, jedem nur halben Weges vernünftigen Menschen einleuchten und dennoch — es ist unbegreiflich — wünscht man größtenteils von einem Arzt nur eine momentane Befreiung von der Krankheit, an der man eben leidet, und verübelt es ihm, wenn er einen moralischen Grundsatz zur strengen Darnachachtung in dem edlen uneigennützigen Bestreben aufstellt, künftige Erkrankungen zu vermeiden. Diese edle von der Gewissenhaftigkeit gebotene und auf moralische Grundsätze sich stützende Freimütigkeit verübelt man ihm, weil — ich möchte fast sagen — die Mehrzahl der Menschen gar keine richtige Ansicht von dem Stande und der Würde eines wissenschaftlich gründlich gebildeten, rechtlichen Arztes hat. Wie einen Schneider, damit er eine wünschenswerte Reparatur an einem Kleidungsstücke vornehme, lassen sie einen Arzt kommen, damit er dieses oder jenes ihnen Unangenehme beseitige und Viele, welche dem Schneider willig das Ohr leihen, wenn er ihnen begreiflich macht, Dies oder Jenes stehe nicht gut und so oder so sehe das Kleidungsstück vollkommener und solider aus, verübeln es dem Arzte, wenn er ihnen, was doch nur ihr eigener Vorteil ist, — Solidität empfiehlt; ja sogar eine ernste Miene an dem Arzt ist vielen nicht genehm; er soll nach ihrem Dafürhalten ein sogenannt feiner sich um die Moralität nichts kümmernder freundlicher Herr sein, der gegen gute Bezahlung stets zu Diensten steht und nach Wunsch auch keinen Anstand nimmt mit seinem Patienten einige Flaschen Wein zu leeren, wenn er gleich weiß, dass der Genuss desselben diesem nichts weniger als zuträglich ist. Das ist nun freilich ein gar bedauerliches höchst untergeordnetes Bild, was sich solche von einem Arzte entwerfen, und da der Arzt, mit dem sie gerne plaudern und dem sie mit Vorliebe ihr Vertrauen schenken, nach diesem Schnitte sein muss, so fallen solche aufgeklärt sein Wollende häufig in die Hände modisch aufgeputzter Charlatane, welche viel wohlriechendes Öl in den Haaren, wenig praktische Weisheit im Kopfe, viel Windklopferei auf der Zunge, wenig redliche Absicht aber im Herzen haben und sonach Alles eher vermögen, als das, was man von ihnen zu erlangen wünscht — Heilung.