Vierte Fortsetzung

Wer einigermaßen die Geschichte der modernen Hygiene kennt, weiß, dass deren Leistungen in erster Linie aus autonomen Bestrebungen hervorgegangen sind, so sehr, dass einige philosophierende Verwaltungsbeamte und Hygieniker nur bei vorhandener Autonomie überhaupt von öffentlicher Gesundheitspflege gesprochen wissen wollen. Wo in diesem großen Sinne, der das gesamte Leben im Auge behält, Hygiene getrieben wurde, hat man überall vorbauend „assaniert“ und konnte deshalb die kleinlichen Nörgeleien der älteren Sanitätspolizei entbehren. Dies war in England so weit gegangen, dass man auch der Cholera gegenüber die alten Scherereien der Quarantänen ganz aufgegeben hat und den Handel und Verkehr nicht mehr belästigt, und doch hatte England 1892 keine Choleraepidemie.

Auf dem Kontinent hatte man sich seit einigen Jahren unter dem Einfluss der Bakteriologie gewöhnt, diese Haltung Englands wesentlich auf seine Krämerpolitik zu beziehen, während das derzeit schutzzollfrohe Amerika sich als echter „Sperrung“ die Maximen des europäischen Kontinents gegenüber der Cholerainvasion angeeignet hat. Als nun plötzlich im August in Hamburg und nur dort in Deutschland die Cholera ausbrach, wurde mit einmal in Deutschland unter Vergessen aller Lehren der Geschichte der Cholera gegen Hamburg eine Absperrung ins Leben gerufen, die entschieden noch etwas anderes als nur einen Protest gegen einige sanitäre Missstände ausdrückte. Diese an sich abscheuliche, unsere deutsche Kultur tief beschämende Absperrung gegen das große Unglück unserer ersten Seestadt, die nur noch von Amerika überboten wurde, enthielt auch Momente des Kampfes der Bureaukratie gegen die Autonomie, bei der letztere zunächst sehr schlecht abschnitt. Im Bewusstsein, dass im Binnenlande überall die viel geschäftige Sanitätspolizei auch gegen die Cholera wohl und sicher gewaffnet sei, war man sofort außerhalb Hamburgs überzeugt, dass dort nur die lässige Krämerpolitik mit ihrem Manchestertum die Schuld an dem, ganz Deutschland bedrohenden Unheil trage, weil der Handel durch strenge Polizeimaßregeln geschädigt, durch Gehenlassen begünstigt würde. Der durch die Cholera heraufbeschworene Gegensatz gegen Hamburg zeigt von Neuem und deutlicher als viele andere Momente, dass Jahrhunderte alte historische Widersprüche nicht so schnell zu beseitigen sind.


Als man noch keine preußische, keine deutsche Flotte hatte, war Hamburgs Flagge auf allen Meeren bekannt und geachtet. Bei der deutschen Kleinstaaterei auf sich angewiesen, hatte sich Hamburg zu einem gewaltigen Welthafen entwickelt. Die Hansen lernten nur das Meer als ihre wahre Heimat achten; das übrige Deutschland war für sie Hinterland. Wie der an harte Entbehrungen und andersgeartete Beschränkungen gewöhnte Seemann, wenn er nach langer Fahrt wieder Land betritt, sich durch die Verkehrsverhältnisse des Landes beengt fühlt und sich gern übermütig über dieselben hinwegsetzt, weil er sie für kleinlich hält und ihre Bedeutung verkennt, so hatte man auch in Hamburg sich wirklich nur mit den großen Seetraditionen vertraut gemacht und das Verständnis für die Verwaltungseigentümlichkeiten des Hinterlandes noch nicht ausreichend gewonnen und sich vielfach darüber hinweggesetzt. Dieses Hinterland ist aber jetzt ganz Deutschland im neuen Sinne und Hamburg ist nur noch dessen erster Hafen. Diese ganze Verschiebung der Verhältnisse ist bis jetzt aber noch nicht vollständig gewürdigt und vor allem hat die Organisation und Verwaltung noch recht wenig damit gerechnet.

Die Organisation des Bundesstaates Hamburg ist inhaltlich wesentlich auf die Seeverhältnisse und formell auf meist überlebte Traditionen einer einst berechtigten Oligarchie gegründet. Das Ministerium dieses „Staates“ ist zahlreicher als das Ministerium irgendeines Großstaates. Dazu kommt eine Zusammensetzung des Senates nur aus Juristen und Kaufleuten, die in keiner Weise modernen Verhältnissen entspricht. Unter solchen Verhältnissen hat sich historisch die trostloseste Verwaltungspraxis entwickelt, die man kennt, und die sich für Jeden, der von Verwaltung eine Ahnung hat, kurz als Deputations- und Kommissionswirtschaft bezeichnen lässt. Lauter Deputationen und Kommissionen und keine Fachbeamte mit Initiative und Verantwortlichkeit! Seit der Choleraepidemie sprechen die österreichischen Polen, um das, was man in Deutschland bisher polnische Wirtschaft nannte, zu bezeichnen, von Hamburger-Wirtschaft und verweisen stolz auf die sanitären Leistungen in Galizien! Wenn man damit die einfache, sachliche, billige staatliche und autonome Verwaltung eines preußischen Regierungsbezirkes vergleicht, so muss wohl Jeder erkennen, dass eine derartig vielköpfige Verwaltung weder nach Form noch Inhalt den modernen Verhältnissen eines Staates und einer Weltstadt entspricht. Was so jetzt an Mängeln der Organisation der Hamburger Oligarchie oder Republik durch die Cholera beleuchtet wurde, kann früher oder später auch durch andere Ereignisse bloßgestellt werden, so dass gründliche Abhilfe unabweislich ist. Man gebraucht kein Verehrer der Herdengleichheit des allgemeinen und gleichen Wahlrechts zu sein, um die Notwendigkeit einer Reform des Senates und der Zulassung einer größeren Beteiligung der Bürgerschaft und Arbeiter einzusehen. Sofort nötig sind geschulte Beamte und wirkliche Fachleute mit Verantwortlichkeit und Initiative, damit diese elende Deputations- und Kommissionswirtschaft mit ihren Verschleppungen beseitigt wird. Statt in Bürgerversammlungen und Zeitungen „richtig zu stellen“, sollte man lieber „richtig handeln“! Das geschieht aber bei der bisher beliebten Praxis nicht, wenn man damit die Promptheit vergleicht, mit der in dem benachbarten Preußen die Geschäfte besorgt werden, und das Selbstlob in Bürgerversammlungen kann doch Niemanden jetzt noch täuschen.

Außerhalb Hamburgs hat man sich nur darüber getäuscht, dass man annahm, das Verschleppen geschähe absichtlich, und absichtlich sei der Ausbruch der Cholera gegen besseres Wissen verheimlicht worden. Das halte ich für nicht ganz richtig. Es lag in dem 20 Jahre dauernden Verschleppen der Wasserfrage und der Baugesetzgebung, in dem überaus langsamen Erklären des Choleraausbruches, in den Beratungen zum Feiern von Festen zur Zeit einer die Bevölkerung in tiefe Trauer versetzenden Epidemie wohl kaum etwas Absichtliches. Es war wohl kaum etwas anderes als die Gewöhnung des an sich schon langsam arbeitenden Niedersachsen an die Deputationswirtschaft, bei der nie und nirgends prompt gehandelt wird, bei der sich Jeder auf den Andern verlässt und deshalb Niemand den Ernst einer Lage sofort ganz übersieht, bei der Niemand die volle Verantwortlichkeit trägt und sich deshalb auch Niemand mit seiner Person voll einsetzt.

Diesen Mängeln stehen aber auch große Vorzüge zur Seite. Während man auf dem ganzen Kontinent sich allmählich gewöhnt hat, alles Heil nur vom Staate zu erwarten und die Selbstständigkeit als überflüssig immer mehr bei Seite wirft, haben sich die Hamburger entschieden und in sehr erfreulicher Weise den echt germanischen Sinn für Selbstständigkeit gewahrt. Nicht von oben herab, sondern aus der Bürgerschaft heraus wurde zuerst gegen die Kopflosigkeit und Lethargie angekämpft. Wer das so miterlebt hat, wie ich, muss unbedingt die größte Hochachtung vor einem Gemeinwesen bekommen, dessen Bürger die Kraft haben, so vorzugehen. Wer die lieblose Absperrung Deutschlands gegen Hamburg dort miterlebt hat, versteht es eher, wenn im Ärger hierüber und im Stolze auf das wenn auch verspätete, so doch eigene Handeln viele Hamburger jede spätere Hilfe von außerhalb ablehnen wollten. Dieses stolze, in unserer Zeit der allein seligmachenden Staatsweisheit doppelt wohltuende Gefühl für eigene Kraft und Selbstständigkeit, sollte bei den notwendigen Reformen ängstlich gewahrt werden. Die Schablone vom grünen Tisch und die Routine der Verwaltung würden viel schlimmer sein, als der jetzige Zustand, wenn nicht dieser gesunde Geist des echten Hansentums voll in Geltung bliebe.

Wie in England, wie in vielen kontinentalen Städten, so hat auch in Hamburg die Autonomie die großen Fragen der Assanierung längst in Angriff genommen und Hamburg hat als eine der ersten deutschen Großstädte sich mit einer Zentral-Wasseranlage versehen. Wenn man sieht, welche großen Summen gerade in Hamburg für Assanierungsarbeiten und andere öffentliche Einrichtungen im Gesundheitsdienste ausgegeben worden sind, so wird man wohl den Vorwurf fallen lassen müssen, dass man dort nichts habe tun wollen. Der unverantwortliche Fehler lag nur in der Art der Vorbereitung und Ausführung und dieser steckt im ganzen Verwaltungssystem, kann also der jetzt lebenden Generation nicht allein in die Schuhe geschoben werden. Die geringste Schuld trifft aber die am meisten Beschuldigten, die Medizinalbeamten und Techniker, von denen ich erwiesen habe, dass sie seit fast 20 Jahren auf die Abstellung der bei der Choleraepidemie am schroffsten hervorgetretenen Mängel hingewiesen und um deren Abstellung gekämpft haben.

Berücksichtigt man diesen Umstand mit, so begreift man einigermaßen, dass der vorher geschilderte trostlose Zustand der Wasserentnahme für die Wasserleitung sich so lange halten konnte. Man versteht aber auch sofort, dass in Hamburg und außerhalb der Grund für das explosionsartige Auftreten der Cholera in einer Infektion einer solchen Wasserleitung gesucht wurde. Sprechen nun auch noch bestimmte andere Beobachtungen für diese Annahme? Wie bei der Typhusepidemie 1885, so waren auch diesmal Altona und Wandsbek relativ von der Cholera verschont. Die in diesen beiden Nachbarstädten vorgekommenen Fälle wiesen anfangs fast ausschließlich und später vorwiegend auf Beschäftigung in Hamburg, speziell im Hafen, so dass die Fälle unbekannter Herkunft oder spätere Herdbildungen in diesen Städten für den Anfang und das explosionsartige Auftreten gar nicht in Betracht kommen. Beide Städte sind in Bezug auf den Boden und die von diesen abhängigen Lokalisationen mit den benachbarten und unmittelbar zusammenhängenden Teilen von Hamburg gleichgestellt — und doch ist die Epidemie sofort ganz anders, fast wie abgeschnitten, besonders wenn man jene Fälle mit berücksichtigt, deren Bezug aus Hamburg sicher war.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Cholera-Epidemie in Hamburg 1892