Dritte Fortsetzung

Die Choleraepidemie brach nun diesmal, soweit ich mich bis jetzt orientieren konnte, ohne Rücksicht auf Marsch und Geest an den verschiedensten Teilen der Stadt aus und zeigte auch im Verlaufe keine derartige Lokalisation. Überall waren es anfangs vorwiegend Schiffer und Arbeiter, deren Beschäftigung auf den Hafen wies, und deren Angehörige. Dass ein sehr großer Teil dieser Arbeiter in möglichster Nähe des Hafens und in dem berüchtigten Gängeviertel wohnt, ist deshalb keine Lokalisation im Sinne der Bodentheorie, weil auch die auf dem Geest wohnenden Arbeiter, welche Abends in die Vororte zurückkehren, auch dort die anfangs vorwiegend von der Cholera Befallenen waren. Das lokale Moment auf dem Marschboden, welches sich allein nachweisen lässt, liegt nur in der lokalen Beschäftigung am Hafen oder in dessen Nähe. Bei der Bedeutung, die der Hafen im Leben Hamburgs und seiner Nachbarorte spielt, ist dieses Moment aber so wichtig, dass es weit über das Marschland hinübergreifen muss, wenn es unmittelbar zur Wirkung kommt. Da nun nicht alle Leute, die von der Seuche befallen wurden und in den verschiedensten Teilen der Stadt wohnten, Hafenwasser getrunken haben, so wird man gezwungen, noch nach einem andern unmittelbar auf das Elbwasser hinweisenden lokalen Momente zu suchen, welches über die ganze Stadt sich ausbreitet, und das kann nur das an diesem Orte aus der Elbe entnommene Leitungswasser sein.

Dieses Leitungswasser wird nicht nur als Gebrauchswasser in den Haushaltungen und auf den Straßen überall verwertet, es kommt nicht nur durch den Gebrauch beim Reinigen der Trink- und Essgeschirre und in der Küche auch indirekt zur Aufnahme, sondern es wird auch getrunken. In den besser situierten Kreisen geschieht das letztere allerdings wohl nicht, aber in den Arbeiterkreisen zweifellos, da der wirkliche Durst doch nur mit Wasser gestillt werden kann — und die Temperatur war von Mitte bis Ende August weit über dem Mittel der Sommertemperatur, der Durst also sicher sehr groß. Musste sich der Verdacht auf das Hafen- und Leitungswasser lenken, so konnte das nicht ganz allgemein auf den Gebrauch dieses Wassers zurückgeführt werden, da dieser Gebrauch in den guten Wohnungen sicher viel stärker war als in den Quartieren der Arbeiter, sondern das Wasser musste als Trinkwasser in Betracht kommen. Nur so wurde bei allgemeiner Verbreitung über die ganze Stadt das relative Verschontbleiben der viel Wasser verbrauchenden, aber kein Leitungswasser trinkenden besser situierten Kreise und das relativ starke Befallenwerden der wenig Wasser gebrauchenden, aber das Hafen- und Leitungswasser trinkenden Schiffer- und Arbeiterkreise erklärlich.


Wenn sich der Verdacht wegen des sofortigen Vorkommens von Fällen an den verschiedensten Teilen der Stadt, wegen der ersten Häufung bei Rothenburgsort und wegen der sicheren Provenienz vieler früherer Fälle vom Hafen her, sofort auf das Wasser des Hafens und der Leitung lenkte, so ist dies begreiflich, wenn man den Zustand der Hamburger Staats-Wasserkunst kennt.

Der Hamburger Hauptsammelkanal für die Abwässer und Fäkalien, das Hauptstammsiel, mündet an der Grenze von Hamburg-Altona in die Elbe. Von hier aus wird dieser Schmutz aber nicht einfach flussabwärts weitergeführt, sondern dies geschieht nur zu der Zeit der Ebbe. Der Schmutz wird vielmehr zur Zeit der Flut, wie ich selbst bei einem derartigen Schwimmversuch 1887 gesehen habe, flussaufwärts zurückgestaut und gelangt so jeden Tag sicher, jahraus, jahrein bis zu jener Stelle bei Rothenburgsort, an der die Hamburger Staats-Wasserkunst ihr Wasser der Elbe entnimmt. Das Schmutzwasser vieler kleiner Siele gelangt sogar noch viel weiter stromaufwärts. Dieses Wasser kann nur zur Zeit der Flut, muss also stets sicher mit Fäkalstoffen der Stadt beladen in die Ablagerungsbecken des Wasserwerkes gelangen. Der Bedarf an Wasser ist aber so groß, dass in diesen Becken selbst für die geringe Vorreinigung durch Sedimentierung keine ausreichende Zeit ist. In Folge dessen gelangt das Wasser, stets gemischt mit Hamburger Fäkalstoffen, direkt in die Leitung, da keinerlei Filtration vorhanden ist. Das Wasser passiert nun nicht etwa schnell die Leitung, sondern in jedem Hause befindet sich ein kleines Wasserreservoir, in dem erst sich der Schlamm aus dem Wasser niederschlägt, so dass hier die verdächtigsten Stoffe aus den Häusern, die durch Aborte und Kanäle entfernt wurden, zum Teil wieder in die Häuser gelangen und aufgespeichert und konserviert werden. Das Wasser wird durch diese Sedimentierung in den Hausreservoirs für das Auge in der Regel so ungenügend gereinigt, dass noch außerdem Hausfilter vielfach in Gebrauch sind. Der einzige Filter, welcher bei einer Leitung aber etwas helfen kann, ist ein Zentralfilter und dieser fehlt von Anfang an. Dass solche Zustände schon aus ästhetischen Gründen geduldet werden konnten, erscheint jedem reinlichen Menschen unbegreiflich und in der Tat ist der Widerstand nicht von heute. Der jetzt so viel geschmähte und verdächtigte Medizinalrat von Hamburg, Dr. Kraus, hatte 1876 auf der Naturforscherversammlung in Hamburg öffentlich die Zentralfiltration gefordert, später hat sich der jetzige Oberingenieur Andreas Meyer wiederholt dafür verwendet und am 7. September 1886 hatte sich der Senat dafür entschieden. Der Grund, weshalb trotzdem alles beim Alten blieb, lag wohl darin, dass man sich unter vollständigem Verkennen der Auffassung Pettenkofers über die Notwendigkeit, einer Stadt zum Gebrauche und zum Reinigen reines Wasser zuzuführen, aus dessen lokalistischen Auffassungen den Umstand zu Nutzen machte, dass man in Hamburg stets und selbst bei der Typhusepidemie 1885/86 neben dem Wasser noch andere lokale, dem Wasser angeblich übergeordnete Momente hatte nachweisen können. Inzwischen hatte der einzige fachmännische technische Verein Deutschlands, der der Gas- und Wasserfachmänner, die Notwendigkeit erkannt, sich mit der neuen Wissenschaft der Bakteriologie auseinanderzusetzen und er hatte mich 1886 mit dem Referat beauftragt. Erst 1887 konnte ich dieser Aufforderung entsprechen und hielt bei der Jahresversammlung in Hamburg am 16. Juni einen Vortrag „über die Beurteilung zentraler Wasserversorgungsanlagen vom hygienischen und bakteriologischen Standpunkte“.

Da die bis dahin üblichen Kriterien ganz versagt hatten, auch Kochs neuer Maßstab, die Beurteilung der hygienischen Tauglichkeit eines Wassers nach der Zahl der Bakterien vorzunehmen, in seiner Fassung ganz verunglückt war und man das Urteil prophylaktisch begründen muss, um zu verhüten, dass eine Infektion und Epidemie eintreten kann, so war ich auf Grund meiner Untersuchungen und der Erfahrungen der Praxis zu einem ganz neuen, einfachen Standpunkte gekommen, der später auch von anderen geäußert wurde. Auch der internationale hygienische Kongress in Wien nahm im September 1887 meine darauf basierte Resolution einstimmig an, so dass tatsächlich auf Grund des von mir zuerst und ganz neu eingeführten Standpunktes zum ersten Mal 1887 eine Einigung erzielt wurde, die besonders von den Wassertechnikern überall bereits zur Grundlage gewählt ist. Diese tatsächliche Einigung in einer so wichtigen Sache ist so erfreulich, dass ich mich gern darüber tröste, dass meine damaligen Arbeiten über Wasserversorgung und -Beurteilung viel gebraucht und wenig zitiert wurden. Ich forderte, indem ich zugleich die ganze Wasserversorgung auf das Quellproblem und die Reinigung und Desinfektion im Boden begründete, die Infektions-Unmöglichkeit jeder Wasserversorgungsanlage. Diese lässt sich hygienisch-bakteriologisch stets untersuchen und man braucht nicht zu warten, bis eine Epidemie ausgebrochen ist; man kann den Brunnen schließen, ehe das Kind hineingefallen ist. Diese Forderung kann man aber schließlich, wenn die Technik und Methodik noch weiter durchgebildet sein wird, sicher und prinzipiell schon jetzt auch für die anderen Werke der Assanierung erheben.

Von diesem neuen, überaus einfachen, stets durchführbaren Standpunkt aus hatte ich damals öffentlich in einer Fachversammlung, der offiziell Vertreter Hamburgs beiwohnten, mein Urteil über die Hamburger Staats-Wasserkunst dahin abgegeben, dass ich 1887 das Hamburger Leitungswasser im gekochten, also desinfizierten Zustande zum Reinigen der Fußböden für geeignet erklärte!

Aber erst 1889, also nach zwei weiteren Jahren, wurde endlich eine Einigung zwischen Senat und Bürgerschaft erzielt und das Geld für die Zentralfilter bewilligt. Die neue Anlage liegt so sehr viel weiter stromauf, dass das Schmutzwasser des Hamburger Hauptsiels nicht mehr, sondern nur das einiger kleinerer Siele durch die Flut bis zur neuen projektierten Entnahmestelle zurückgestaut wird. Im letzten Sommer, 1892, also nach wieder 3 Jahren, war man noch in den Vorarbeiten zu den neuen Sedimentier-Becken und Zentralfiltern, als die Cholera ausbrach! Über Schnelligkeit der bisherigen Behandlung der Wasserfrage wird sich wohl Niemand beklagen können.

Während diese Bummelei — wie man das außerhalb Hamburgs nennt — in der Behandlung einer Lebensfrage einer Großstadt überall sonst als „unverantwortlich“ bezeichnet wurde, hatten in einer Bürgerversammlung während der Choleraepidemie im September vorigen Jahres einige Redner den traurigen Mut, diese Wirtschaft nicht nur zu beschönigen, sondern sogar zu erklären, dass man stets seine volle Pflicht getan habe — leider was das alles nur auf dem Papier geschehen. Hatte sich die Cholera in diesem Jahrhundert als der einzige durchgreifende Anstoß bewährt, der früher, zumal in England, die Hygiene mit ihren Forderungen für Assanierung der Städte und für Reform des Sanitätswesens ins Leben gerufen hatte, war die Cholera dauernd als „Polizei der Natur“ tätig, die Mängel einer überlebten Sanitätspolizei ans Licht zu bringen, so hat diesmal die Cholera in Hamburg nicht nur auf hygienische Unterlassungssünden hingewiesen, sondern auch grell die Mängel der ganzen Organisation beleuchtet.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Cholera-Epidemie in Hamburg 1892