I. Epidemiologie von Ferdinand Hueppe.

Bei den Cholerapandemien, die Deutschland bedroht haben, ist es schon einige Male vorgekommen, dass einzelne Orte fern den Landesgrenzen und Choleraherden ergriffen wurden, ohne dass Deutschland im Übrigen eine Neigung zur Entwicklung von Cholera zeigte. So wurde 1865 Altenburg von Odessa aus infiziert; doch kam es nur zu einer unbedeutenden Epidemie im Pleissetal in Altenburg und Werdau. In der Nähe des bevölkerten Mainz und bei ganz unbehindertem Verkehr mit demselben hatten 1886 die Dörfer Finthen und Gonsenheim eine Epidemie, deren Einschleppung nicht sicher ermittelt werden konnte, während die nächsten Choleraherde in Ungarn und Italien waren. Trotz vollständig freien Verkehrs erfolgte keine Ausbreitung der Seuche und Niemand wird den damals viel zu spät getroffenen und höchst unvollkommenen Desinfektions- und Sperrmaßregeln irgendwelchen Wert für die Lokalisation der Seuche beimessen können.

Im August 1892 hatte Hamburg das Unglück, unerwartet von einer schweren Choleraepidemie heimgesucht zu werden zu einer Zeit, als die nächsten Seuchenherde in Russland und Frankreich, also so weit entfernt waren, dass tatsächlich keine einzige deutsche Stadt gleicher Entfernung von den Herden schon auf einen ernsten Ausbruch der Cholera ganz vorbereitet war. So sind z. B. die trefflichen Einrichtungen im Krankenhause Moabit in Berlin erst unter dem Eindrucke der Hamburger Epidemie ins Leben getreten und ähnlich war es so ziemlich überall in Deutschland und Österreich. Will man die epidemiologisch-organisatorische Seite der Frage unbefangen beurteilen, so muss man dies ausdrücklich und von vom herein hervorheben, um objektiv vorgehen zu können und sich gegen den Vorwurf unberechtigten Tadels zu schützen. Einer ähnlichen Überraschung gegenüber würde man sich auch in sämtlichen anderen Städten anfangs der Seuche nicht ganz gewachsen gezeigt haben, und es ist gar zu billige Weisheit, wenn dies später einfach ignoriert wurde. Andererseits hat die Choleraepidemie in Hamburg so schwere Unterlassungssünden ans Licht gebracht, dass eine Änderung vieler bestehenden Einrichtungen unabweislich ist. Die unbefangene Darlegung dieser Verhältnisse durfte aber auch umso nötiger sein, als man nur bei voller Kenntnis der Mängel ernstlich an die Abstellung derselben herantreten kann. Da ich mich den ganzen Monat September in Hamburg aufgehalten, die anfängliche Kopflosigkeit noch in vollem Gange gesehen habe, aber auch Zeuge war, in welcher opferwilligen und energischen Weise man sich allmählich zu praktischen Maßnahmen aufraffte, und da ich mir vorher und nachher die Schutzmaßregeln an vielen Orten in Deutschland angesehen habe, dürften die folgenden Mittheilungen vielleicht etwas zur Aufklärung beitragen. Ich werde mich streng an die Dinge halten, die sich wirklich auf die Hamburger Epidemie beziehen. Ich muss dies betonen, weil es in Deutschland mehr als im Auslande und jetzt noch mehr als früher geradezu ein Sport geworden ist, sich die Epidemien darauf hin anzusehen, ob sie zu Kochs oder Pettenkofers Ansichten passen. Die Tatsachen der Epidemie treten damit von vom herein in den Dienst der Doktrinen und diese haben keine Veranlassung, auch andere und eventuell vermittelnde Ergebnisse der Beobachtung und Forschung zu beachten oder zu verwerten. So musste es kommen, dass auch bei der vorjährigen Epidemie die alten Gegensätze, zum Teil in den Aussagen ihrer Vertreter selbst, unvermittelt auf einander platzten:


Ist die Cholera miasmatisch oder contagiös? Haben die Sperren gegen Hamburg Deutschland vor der Cholera geschützt oder Regen- und Bodenverhältnisse? Hat die Desinfektion oder die Assanierung den Schutz gebracht?

Wenn auch schon 1886 in Finthen und Gonsenheim die Bakteriologie verwertet wurde, um in Deutschland die Cholerauntersuchungen zu sichern, so ist dies doch erst diesmal in Hamburg in größerem Maße geschehen oder doch versucht worden. Ich will deshalb, vom geschichtlichen Gange abweichend, zuerst die bakteriologischen Ermittlungen anführen, die — 3 — diesmal geltend gemacht wurden, um angeblich sicher Stellung für die eine Ansicht zu nehmen. Der Kommabazillus ist, wie Pettenkofer einmal meinte, eigentlich das einzige Sichere in der ganzen Cholerafrage und nur Klein in London und D. D. Cunningham in Calcutta halten ihn für etwas ätiologisch ganz Nebensächliches. Auf jeden Fall gibt es keine Cholera ohne Kommabazillen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Cholera-Epidemie in Hamburg 1892