Fortsetzung

Die frühesten Privilegien in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts wurden den deutschen Kaufleuten verliehen von dem Landesherrn, dem Grafen und der Gräfin, sowohl für das gesamte Land wie für den Verkehr der Kaufleute in einzelnen Orten wie Brügge, Damme und sonst. Nur über den Zoll zu Brügge verfügte der Inhaber des Zolles, der Herr von Ghistelles. Der Landesherr griff ein, wenn Brügge den fremden Kaufleuten ungesetzliche Abgaben auferlegte. Er gab Verkehrsregeln für die Kaufleute an ihrem Aufenthaltsort in Bezug auf Waage, Zoll, Maklergeld, Gerichtsbarkeit, persönlichen Schutz u. s. f. Seit — v dem Anfang des 14. Jahrhunderts aber erteilten die Städte — Aardenburg und Brügge — selbständig den Kaufleuten Freiheiten für deren Verkehr in ihren Mauern. Brügges Freibrief galt für die Dauer des Stapels der deutschen Kaufleute in Brügge. Daneben verlieh der Landesherr Privilegien für die gesamte Grafschaft. Die Rechtskraft der von den Städten ausgestellten Privilegien war also lokal beschränkt, die der gräflichen dagegen allgemein. Eine neue Stufe der Entwicklung zeigen uns die Verträge mit der Hanse nach der Mitte des 14. Jahrhunderts. Zwar bedurfte die Hanse, da ihre Beschwerden sich in dieser älteren Zeit, wie erwähnt, vorzugsweise gegen Brügge richteten, auch damals der Hilfe des Landesherrn, um ihre Forderungen bei Brügge durchzusetzen. Und es könnte dargetan werden, dass diese ältere Taktik noch später nicht ganz aufgegeben wurde.

Aber damals im Jahre 1360 überwog bereits eine andere Auffassung, die der wirklichen Lage in der Grafschaft entsprach. Der Landesherr und die Städte verliehen nämlich der Hanse die gleichen Freiheiten und in den gleichen Formen. Die Privilegien Brügges und der anderen Lede banden die Hanse nicht mehr an den Brügger Stapel. Die drei großen Städte urkundeten für das ganze Land so gut wie der Landesherr. Der Landesherr und dessen Städte übernahmen die bindende Verpflichtung, alle Ursachen der Privilegienverletzungen ohne weiteres zu beseitigen und den zugefügten Schaden zu ersetzen. Ferner stellten die drei Städte einen Revers aus, dass die neuen Freibriefe auf besonderen Wunsch der Lede und des ganzen Landes verliehen seien 1 . Diese Verträge bezeichnen in dem Verhältnis der Hanse zu Flandern den niedrigsten Stand der Macht des Landesherrn und den Höhepunkt des Einflusses der Städte. Die Lede standen gleichberechtigt neben dem Grafen und erschienen der Hanse als die ausschlaggebende Macht im Lande, als die eigentlichen Vertreter der wirtschaftlichen Interessen des Landes. Die Bedeutung des Reverses dürfte darin zu suchen sein, dass die Lede, weil die Verleihung der Privilegien auf ihren Antrieb zurückging, nun für deren Beobachtung auch in erster Linie verantwortlich und haftbar gemacht werden konnten. An dieser Anschauung hielt die Hanse, da sie ihr die beste Position in Flandern zu bieten schien, auch in der Folge fest. Dadurch geriet sie aber in der Burgunderzeit in Widerspruch mit der weiteren politischen Entwicklung des Landes.


Mit den Burgunderherzögen zog, wie oben ausgeführt wurde, eine neue Auffassung von landesfürstlicher Hoheit in die Niederlande ein. Nachdem die Erhebung der Städte unter Philipp von Artevelde mit französisch-burgundischer Hilfe niedergeschlagen war, verschob sich auch die Stellung der Städte wieder. Nur der neue Landesherr, Herzog Philipp von Burgund, verlieh 1392 der Hanse die eigentliche Bestätigung und Erweiterung ihrer Freiheiten. Die Lede bestätigten zwar den Revers von 1360, beschränkten sich aber im übrigen auf die Erklärung, dass der neue Landesherr die Privilegien erteilt habe, und versprachen nur, sie zu halten. Das Verhältnis der Lede zur Hanse wurde damals, gewiss mit Absicht, unbestimmt gelassen. Es hieß, dass bei Privilegienverletzungen die Hansen dem Herzoge nicht außer Landes nachzufolgen brauchten, sondern in solchen Fällen sollten die drei Städte oder eine von ihnen jenen hilfreiche Hand leisten 3 . Also nicht die Entscheidung stand in diesem Falle den Leden zu, sondern nur eine Beihilfe. Die Hanse legte das freilich anders aus. Sie meinte, die Städte hätten Vollmacht vom Herzog, den hansischen Kaufmann in seinen Privilegien zu beschirmen; bei Privilegienverletzungen könne er sich sein Recht bei den Leden holen. Aber diese Auffassung war nicht die des burgundischen Hofes. Es ist hinlänglich bekannt, wie die Burgunderherzöge ihre großen Städte der Reihe nach unter ihr Regiment gebeugt haben. Das Wiederaufkommen Yperns verhinderte der erste Burgunderherzog, indem er den Wiederaufbau der von den Tucharbeitern bewohnten und im Bürgerkriege zerstörten Vorstädte verbot. Brügge wurde von Philipp dem Guten 1438 gedemütigt. Den Gentern hat ihre blutige Niederlage bei Gavre im Jahre 1452 Lust und Kraft zu weiteren Erhebungen genommen. Das noch härtere Schicksal Dinants und Lüttichs diente den flandrischen Städten zur Warnung vor einer Auflehnung gegen Karl den Kühnen.

In demselben Maße, wie die Macht dieser Städte sank, nahm auch ihre Fähigkeit ab, der Hanse eine Stütze zu bieten.

Dieser Stütze aber bedurfte die Hanse jetzt mehr als früher gegenüber den erwähnten Übergriffen der herzoglichen Beamten und den für den Handel so unbequemen Einrichtungen der neuen burgundischen Gerichtsverfassung. Man war sich in den Hansestädten klar über den Gegensatz, der die inneren Verhältnisse des burgundischen Reiches beherrschte, und man wusste wohl, dass der Herzog, wie ein Danziger im Juni 1454 äußerte, „die Lede gern unter die Füße hätte, damit sie kein Gericht noch Regiment über seine Beamten haben sollten“. Aber es bedurfte einiger Zeit und verlustvoller Erfahrung, bis die hansischen Politiker einsahen, wie sehr in Wirklichkeit die Macht der Lede gegen früher abgenommen hatte. Vergebens wiesen schon 1447 die flandrischen Städte darauf hin, dass sie die Macht nicht mehr hätten, die die Hanse ihnen zutraue; sie wünschten wohl, dass sie solche Macht noch hätten, aber sie vermöchten nur zu helfen, mit anderen Worten: ihre Unterstützung könne sich nur auf die Beihilfe beschränken, wie sie der Freibrief von 1392 noch übrig gelassen hatte. Die Hanse beharrte dennoch bei ihrer Forderung, dass die Lede bei Streitigkeiten zwischen Hanseaten und herzoglichen Beamten die Rechtsprechung ausüben sollten. Das ist der Hauptstreitpunkt in der Zeit der Handelssperre, deren ungünstiger Verlauf uns bekannt ist. Die Hanse verlangte die Aburteilung aller Privilegienverletzungen durch die Lede, also durch die Kommunalgerichte oder die Ständevertretung; von deren Urteil sollte keine Berufung zulässig sein; auch die Auslegung der Privilegien sollte den Leden zustehen, die haftbar sein sollen für die Exekution ihrer Urteile, wenn die herzoglichen Beamten der Exekution Widerstand entgegensetzen. Diese Forderungen liefen darauf hinaus, die kommunale Selbständigkeit der flandrischen Städte zu stärken und in Zweifelsfällen die Entscheidung aus den vom Herzog abhängigen Kollegien wieder in die Schöffenkammern der Städte zu verlegen.

Nur in sehr vorsichtiger Weise versuchten die Lede, dem Herzog die Forderungen der Hanse annehmbar zu machen. Nicht um den Kreis ihrer Gerichtsbefugnisse zu erweitern oder sich die Rechtsprechung über herzogliche Beamte anzumaßen, sondern — so führten sie aus — nur zur Förderung des Handels und damit die Osterlinge nach Brügge zurückkehrten, möge der Herzog die hansischen Wünsche erfüllen. Sie schlugen gewisse Mittelwege vor, wobei sie sich einen Anteil an der Beilegung solcher Streitigkeiten zu sichern suchten. Denn sie wollten nach wie vor die Vermittler bleiben zwischen der Hanse und dem burgundischen Staat. Dem gegenüber vertrat aber der Herzog das Gesamtinteresse seines Staates. Im Dezember 1449 verwies er alle Beschwerden der Hansen gegen seine Beamten, auch gegen Städte und Privatpersonen, an die Provinzialkammer von Flandern; von dort dürfen die Hansen appellieren an ihn oder an den Grand Conseil. Die von der Hanse über Flandern verhängte Handelssperre, die doch die Hanse nicht hindere, in seinen übrigen Ländern Handel zu treiben, erklärte er für ein Vergehen gegen seine Landeshoheit. In dem Kernpunkt aller Differenzen, der Frage nach dem Gerichtshof, der bei Streitigkeiten zwischen herzoglichen Beamten und hansischen Kaufleuten zuständig sein sollte, schlug er mehr aus politischer Berechnung als in der Absicht, einen wichtigen Teil der hansischen Wünsche wirklich zu erfüllen, einen schon 1448 von den Leden angedeuteten Ausweg vor. Er versprach, eine besondere Kommission von burgundischen Notabeln zur Erledigung dieser Beschwerden einzusetzen. Natürlich behielt er allein sich die Ernennung dieser Personen vor Schließlich hat er seinen Willen durchgesetzt. Das Misstrauen aber, welches die Hanse bis zuletzt in die Ehrlichkeit auch dieser beschränkten Zusage des Herzogs setzte, erwies sich als gerechtfertigt. Auf Grund von Versprechungen und im Besitz einiger summarischer Privilegienbestätigungen ließ die Hanse ihre Kaufleute nach Brügge zurückkehren. Der Herzog ernannte zwar der Abmachung gemäß die Kommissare 4, aber in Funktion getreten sind dieselben, soweit wir sehen, niemals. Der Herzog und der burgundische Staat waren aus diesem Kampf mit der Hanse als Sieger hervorgegangen.

Dieser Ausgang offenbarte der Hanse die Ohnmacht der flandrischen Stände, der früher so selbständigen Lokalgewalten, in denen die Hanse vor einem Jahrhundert die Stütze ihrer Stellung in Flandern und in den niederen Landen gefunden hatte. Dadurch geriet sie in eine eigentümliche Lage. Um nicht mit dem Niedergang der Macht der Lede ihre eigene Stellung in Flandern einzubüßen, musste sie mit neuen Mitteln versuchen, den Leden und besonders Brügge wieder aufzuhelfen. Mit Holland und Seeland verfeindet, mit Antwerpen zwar in geregelten, aber doch nicht so sicheren Beziehungen, dass ein dauernder Aufenthalt des Kontors daselbst möglich gewesen wäre, durch jahrhundertelange Eingewöhnung und durch die Anwesenheit der meisten fremdländischen Kaufmannschaften in Brügge noch an diese Stadt gefesselt, wollte sie, und besonders die in ihr maßgebenden wendischen Hansestädte, Brügge wieder zum wahren Mittelpunkt des Handels im burgundischen Reich erheben. Sie glaubte ein Heilmittel gefunden zu haben in der Einführung eines neuen oder verschärften Stapelzwanges zu Gunsten Brügges. Sie gebot ihren eigenen Angehörigen, alles Stapelgut, also die kostbaren Waren des Ostens: Wachs, Pelzwerk, Felle, Metalle u. a., nach Brügge zu bringen und dort zu verkaufen. Außerdem verlangte sie, dass alle in Flandern, Holland, Seeland und Brabant angefertigten Tuche zum Stapel nach Brügge gebracht, nur dort verkauft und von dort nach dem Osten versandt werden dürften. Nur die Märkte von Antwerpen und Bergen op Zoom waren von diesem Zwang ausgenommen.

Damit griff die Hanse offenbar in die inneren Angelegenheiten des burgundischen Reiches ein. Auf Kosten der Handelsfreiheit der übrigen burgundischen Provinzen sollte Brügge begünstigt und wieder gestärkt werden. Begreiflicherweise riefen diese Verordnungen in den besonders davon getroffenen Provinzen Brabant, Holland und Seeland große Aufregung und den lebhaftesten Widerspruch hervor. Die Kämpfe um den neuen Stapel, deren Erörterung einer anderen Gelegenheit Vorbehalten bleiben mag, erfüllten die Regierung Karls des Kühnen. Auch die Durchführung dieses letzten Versuchs, die alte Zentrale des hansischen Handels in den niederen Landen wieder mächtig zu machen, erwies sich als unmöglich. Vornehmlich die Holländer und Seeländer setzten der neuen Verordnung einen hartnäckigen Widerstand entgegen. Schon während der Friedens Verhandlungen in Utrecht im Frühjahr 1474 hat die Hanse den Stapelzwang für die Holländer und Seeländer vorläufig suspendiert. Damit war der wesentlichste Zweck seiner Einführung vereitelt. Die Hanse vermochte den endgültigen Niedergang Brügges, an dessen Gedeihen vor allen burgundischen Städten sie das größte Interesse hatte, nicht mehr aufzuhalten.

Mit der Geschichte Brügges ist die der Beziehung der Hanse zu den Niederlanden überhaupt und besonders auch zu dem burgundischen Reich und dessen Beherrschern untrennbar verbunden. Als die Bedeutung der großen Kommunen Flanderns dahinschwand vor der überlegenen Organisation des neuen burgundischen Staates, verlor auch der hansische Städteverein einen guten Teil der alten Grundlagen seines Einflusses in den niederen Landen. Die burgundischen Fürsten fassten die für den Handelsverkehr wichtigsten Landschaften an den Strommündungen immer kräftiger in ihrer Hand zusammen und beseitigten immer rücksichtsloser die älteren selbständigen Gebilde einer freien politischen Entwicklung. Sie setzten eine einheitliche Gesamtpolitik an die Stelle der früheren Rivalität der einzelnen Kleinstaaten und ordneten die Interessen der verschiedenen Landschaften dem Interesse des Gesamtstaates unter. Dieser neue Staat konnte der Hanse mit größerer Kraft gegenübertreten als die einzelnen Territorien in früherer Zeit. Die Burgunderherzöge griffen in die nordische Politik ein und rangen erfolgreich mit der Hanse auf deren eigenem Gebiet. Die Holländer und Seeländer hätten im 15. Jahrhundert schwerlich so außerordentliche Fortschritte im Ostseehandel gemacht ohne die wirksame Unterstützung der burgundischen Politik. Die Bemühungen der Hanse, sich auch innerhalb des neuen burgundischen Staatswesens die alte Position zu sichern, blieben erfolglos. Der burgundische Beamtenstaat, in dem sich ein höherer Staatsbegriff verkörperte als in den älteren Kleinstaaten, die in ihn aufgegangen waren, erwies sich fest gegenüber den Versuchen der Hanse, sich den Unbequemlichkeiten der neuen Staatsordnung zu entziehen. Das Aufkommen und die Ausbildung des neuburgundischen Staates haben die alte Stellung der Hanse in den Niederlanden erschüttert, verändert und zum Teil zerstört. Daran ändert auch der Übergang der Herrschaft im burgundischen Reich auf Maximilian von Österreich nichts. Denn für Niederdeutschland und für die deutsche Hanse waren auch Maximilian und sein Enkel Karl V. nicht in erster Linie deutsche Kaiser, sondern Herren der Niederlande.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Burgunderherzöge und die Hanse.