Die Brieftaube im Dienste des Heilwesens und der Fotografie

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1929
Autor: Dr. J. Neubronner in Cronsberg i. T., Erscheinungsjahr: 1929

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Luftbilder, Tauben, Luftbildaufnahmen, Nachrichtenübermittlung, Medikament-Transport, Luftpost,
Zu Aufnahmen aus der Vogelschau bedient man sich jetzt des Flugzeugs, des Luftschiffs, des Drachens und der Rakete, während zu Anfang unseres Jahrhunderts die Brieftaube für diese Tätigkeit herangezogen wurde. Auch heute noch dient sie diesem Zweck. Da sie von jedem Punkt auf kürzestem Weg, also in gerader Linie, ihrem Schlag wieder zufliegt, so braucht man nur dafür Sorge zu tragen, dass das aufzunehmende Objekt sich in dieser Linie befindet. Sache der Technik ist es, für eine rechtzeitige Auslösung des Verschlusses Sorge zu tragen. Dies geschieht am besten mit einem leichten Uhrwerk. Die Taube fliegt in einer Minute ein Kilometer. Will man einen Geländeteil aufnehmen, so misst man auf der Karte mit dem Zirkel ab, wie weit das aufzunehmende Gebiet vom Abflug der Taube entfernt ist, und stellt den Uhrzeiger auf die gleiche Zeit von Minuten. Diese Methode hat sich schon bei Apparaten, die nur ein Bild liefern, sehr gut bewährt; die neueren Apparate geben sogar bis zu zwölf Aufnahmen hintereinander, wodurch die ganze Wegstrecke lückenlos aufgenommen werden kann.

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Die Apparate sind aus leichtestem Metall, sie wiegen mit Zubehör nicht über 50 Gramm. Der Apparat wird kurz vor dem Abflug durch einen Bajonettverschluss an ein Brustblech angehängt, das um die Brust der Taube mit Riemchen und Druckknöpfchen befestigt wird und dass sie ständig trägt.

Wie ich schon vor Jahrzehnten auf den Gedanken kam, Brieftauben für photographische Aufnahmen zu benutzen, will ich hier erzählen. Die ausgedehnte Verwendung von Brieftauben in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts veranlasste meinen Vater, den damaligen Amtsapotheker des Amtsbezirks Königstein, zur Zeit einer Seuche, die Brieftauben zur Überbringung von Rezepten nach der Apotheke zu benutzen. Angeregt durch die Erfahrungen meines Vaters entschloss ich mich später, eine Brieftaubenrezeptpost zwischen der Apotheke in Cronberg und der Heilanstalt für Lungenkranke in Falkenstein einzuführen. Die Verbindung funktionierte tadellos und erreichte erst mit dem Eingehen der Anstalt ihr Ende. Dann machte ich den Versuch, kleine Quantitäten seltener oder neuer Arzneimittel, die zum Anfertigen der Rezepte nötig waren, von meinem Lieferanten in Frankfurt durch Brieftauben zu beschaffen.

Der Erfolg legte den Gedanken nahe, die Brieftaube auch als Arzneimittelträgerin nach Orten zu benutzen, die keine eigene Apotheke besitzen. Bei Gelegenheit des Nassauischen Städtetages in Cronberg konnte ich den Besuchern des Kongresses eine Taube vorführen, die drei von einem anwesenden Arzt geschriebene Rezepte nach der Apotheke in Cronberg trug und die fertigen Medikamente, ein Glas Diphtherieheilserum, ein Fläschchen mit 30 Gramm Chinatropfen und drei Schachteln mit je zehn Pulvern zurückbrachte.

In den sechs Jahren, in denen ich mich mit meinen Tauben beschäftigte, erhielt sich mein Taubenbestand recht gut. Umso auffallender war es, dass eine meiner besten, mit dem charakteristischen Handschuhfingerränzchen versehenen Tauben an einem nebligen Tag ausblieb, sie kam erst nach vier Wochen zurück. Es ist begreiflich, dass ich von dem Wunsche erfüllt war, zu wissen, wo das Tier sich aufgehalten hatte. Das brachte mich auf den Gedanken, dass durch einen kleinen photographischen Apparat, der in gewissen Zeitabschnitten selbständig eine Belichtung erführe, die Möglichkeit eines Nachweises denkbar sei. Da die Brieftaube nach meiner Erfahrung ein größeres Gewicht zu tragen wohl in der Lage war, so stellte ich Versuche an, ob photographische Aufnahmen aus der Vogelschau mit Hilfe von Brieftauben möglich seien.

Ein Jahr, nachdem ich Bilder auf diese Weise hergestellt hatte, erfuhr ich, dass meine vermisste Taube, erkenntlich an dem Handschuhfingerränzchen, in Wiesbaden im Kölnischen Hof abgestiegen war. Der damalige Küchenchef habe sie, da er sich selbst für Brieftaubenflug interessierte, eingesperrt gehalten. Als er nach vier Wochen das erste Mal den Taubenschlag öffnete, sei sie auf Nimmerwiedersehen verschwunden.

Ich hatte inzwischen von einem Wagenbauer einen fahrbaren Brieftaubenschlag anfertigen lassen. Der Schlag konnte hochgeschraubt werden und war, um sichtbar zu sein, mit auffallenden Farben angestrichen. Am unteren Teil befand sich eine kleine Dunkelkammer zum Entwickeln der von den Tauben gebrachten Bilder. Der fahrbare Brieftaubenschlag wurde mit ganz jungen Tieren bevölkert. Monate angestrengter Arbeit waren nötig, um die Tauben an den ständigen Wechsel des Standortes ihrer Wohnung zu gewöhnen, bis es schließlich durch Hunger und Liebe gelang, die klügeren gefügig zu machen, ihnen folgten die minder Begabten. Ich habe oft beobachtet, dass, wenn einzelne Tiere ratlos an dem Platz sahen, wo der Wagen vorher gestanden hatte, diese von den Eingeflogenen aufgesucht und abgeholt wurden. Die Sache funktionierte schlich tadellos, ja er gab sich, dass auch ein gewöhnlicher omnibusartiger Wagen von den heimkehrenden Tauben rasch gefunden wurde.

Nach nahezu zehnjährigen Verhandlungen mit dem preußischen Kriegsministerium sollte meine Erfindung bei Gelegenheit des Manövers in Straßburg praktisch geprüft und alsdann vom Staat übernommen werden. Da kam der Krieg. Gleich bei Beginn wurde ich aufgefordert, meine Apparatmodelle und meinen Schlag zur Verfügung zu stellen. Es sollten Versuche im Felde damit gemacht werden, sie ergaben befriedigende Resultate. Mein fahrbarer Taubenschlag kam auf Umwegen nach Verdun. Dort erkannte man erneut die Möglichkeit der Verwendung von Brieftauben für Meldungen im Stellungskrieg, während zu Beginn des Weltkrieges die Brieftaube ihre Bedeutung verloren zu haben schien. Der lange Stellungskrieg, der in einer derartigen Ausdehnung nicht vorauszusehen war, änderte aber die Taktik von Grund auf, und als zum ersten Male das Wort „Trommelfeuer“ für eine bis dahin nie geahnte zusammengefasste Artilleriewirkung auftauchte, wurde es immer klarer, dass das Telefon, die drahtlose Telegraphie und das Blinkwesen zur Sicherstellung der rückwärtigen Verbindung nicht ausreichte. Das rasende Artilleriefeuer zerriss die Leitungen und zerstörte Funk- und Blinkstationen, meist war eine Ausbesserung nicht möglich und die nach hinten entsandten Meldegänger erreichten nur selten oder zu spät ihr Ziel. Da besann man sich darauf, dass man in der Brieftaube einen gefiederten Meldegänger besaß, wie man ihn besser sich nicht wünschen kann. Nachdem man vor Verdun mit den wenigen damals vorhandenen fahrbaren Brieftaubenschlägen günstige Erfahrungen gemacht hatte, wurden sie in der Sommeschlacht zum ersten Male in größerem Maßstab als Nachrichtenmittel eingesetzt und bewährten sich hier so glänzend, dass eine bedeutende Erweiterung des Brieftaubenwesens vorgenommen wurde.

Die gesamte Front wurde infolgedessen mit Hunderten von Brieftaubenschlägen versehen, die sowohl in den Abwehrschlachten als auch bei den Offensiven unseren Truppen hervorragende Dienste leisteten.

Der fahrbare Taubenschlag hatte sich somit im Kriege glänzend bewährt, und meine Arbeit war nicht vergeblich.

Das während des Krieges entstandene Fliegerbild hatte freilich das Taubenbild verdrängt. Militärische Sachverständige vertreten aber heute noch die Ansicht, dass die mit der Taube aus geringer Höhe möglichen Aufnahmen wohl geeignet seien, die Lichtbilder der Flieger durch Einzelheiten zu ergänzen.

Der Flieger wird sich im Falle eines Krieges, den wir alle nicht wünschen, bei seinen Aufnahmen immer in großer Höhe halten müssen. Er kann aber ein Dutzend Brieftauben mitführen und auf seinem Weg nacheinander abwerfen. Die Tauben lassen sich bis auf ihre normale Flughöhe von 50 bis 100 Meter herabfallen und fliegen dann auf geradem Weg nach ihrem fahrbaren Taubenschlag zurück, wobei eine jede zwölf Aufnahmen aus nächster Nähe des überflogenen Geländes mitbringen kann.

Aber nicht an den Krieg sei in erster Linie gedacht, sondern an die Friedenstaube. Diese kann der Menschheit auch dadurch wertvolle Dienste leisten, dass sie entlegene Gegenden und gefährdete Kranke rasch mit Heilmitteln versorgt. Vielleicht wirkt diese Anregung nutzbringend, vielleicht führt sie zur Anlegung solcher Brieftaubenstationen zum Segen der Menschheit.

Schloss im Taunus. Von einer Brieftaube fotografiert, deren Flügelspitzen rechts zu sehen sind.
Am Eschenheimer Tor in Frankfurt am Main.
Mainufer mit Dampfer.
Vor dem Taubenschlag auf dem Flugbrett.
Die drei Bilder auf dieser Seite sind von Brieftauben aufgenommen.

Fotografie, Die Brieftaube, Titel

Fotografie, Die Brieftaube, Titel

Fotografie, Schloss im Taunus, von einer Brieftaube fotografiert, deren Flügelspitzen rechts zu sehen sind

Fotografie, Schloss im Taunus, von einer Brieftaube fotografiert, deren Flügelspitzen rechts zu sehen sind

Fotografie, Am Eschenheimer Tor in Frankfurt am Main

Fotografie, Am Eschenheimer Tor in Frankfurt am Main

Fotografie, Mainufer mit Dampfer, Titel

Fotografie, Mainufer mit Dampfer, Titel

Fotografie, Vor dem Taubenschlag auf dem Flugbrett

Fotografie, Vor dem Taubenschlag auf dem Flugbrett