Die Bluttrinker in den Schlachthäusern von Le Villette zu Paris

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1875
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Schlachthäuser, Hinrichtungen, Schafot, Rinder, Schweine. Aberglauben, Blut, Heilmittel,
„Blut ist ein ganz besonderer Saft,“ sagt der Dichter, und die menschliche Erfahrung hat gelehrt, das; das Blut eine der Quellen des tierischen Lebens ist, welches aus dem Körper entflicht, wenn eine gewisse Menge des Blutes aus den Adern entwichen ist. Kein Wunder daher, dass der menschliche Instinkt schon in grauer Vorzeit dem Blut eine ganz besondere Bedeutung zuerkannt und demselben auch gewisse geheime Kräfte beigelegt hat, welche der Aberglaube ins Ungeheuerliche steigerte. Wir wissen heutzutage Alle, das; das bedrohte Leben des Kranken nach schweren Blutverlusten noch gefristet werden kann, wenn durch die sogenannte Transfusion, für welche man jetzt ein ziemlich einfaches und unfehlbares chirurgisches Verfahren erfunden hat und häufig anwendet, das frische warme Blut eines gesunden lebenden Menschen oder Schafes in die Adern des Kranken hinübergeführt wird; allein der rohe materielle Sinn des Volkes glaubt, dass man durch das Trinken non frischem Blute sich in seinem eigenen Organismus wieder die fehlenden gesunden Säfte erzeugen und ersetzen und gewissen Krankheiten entgegenwirken könne.

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Der Aberglaube mit all seinen Ausgeburten von Sympathie, Magnetismus u. dergl. spielt ja in der Volksheilkunde eine sehr große Rolle, eben weil er die Phantasie beschäftigt und die Gedanken des Leidenden von seinem eigenen Übel und Gebrechen ablenkt. So konnte es kommen, dass man das Trinken des warmen Bluts von Hingerichteten als ein untrügliches Heilmittel gegen Epilepsie empfahl und bei Hinrichtungen früher Fallsüchtige zu Dutzenden bemüht sah, sich unter dem Schafott das warme Blut des Gerichteten zu verschaffen, um es zu trinken. Niemals ist ein Fall bekannt geworden, dass die Fallsucht durch dieses ebenso ekelhafte als heroische Mittel geheilt worden wäre; allein der Glaube an das abscheuliche Spezifikum besteht im Volke da und dort noch heute.

— In der „Metropole der Bildung“, in dem „göttlichen“ Paris Viktor Hugos aber, in der Hauptstadt der Nation, die an der Spitze der Zivilisation marschiert, wuchert dieser Aberglaube von der wunderbaren Heilkraft des frischen Tierbluts noch heute und ist so allgemein im Volke verbreitet, dass jeden Morgen sich Hunderte von Menschen von jedem Alter, Geschlecht und Stand nach den großen Schlachthäusern von Paris, z. B. in La Villette, begeben, um dort das heiße Blut der frisch geschlachteten Tiere bald gierig, bald mit der riesigsten Selbstüberwindung zu trinken, wie man es auf unserem Bild S. 348 sieht. Die Tatsache, dass Lungenschwindsucht, Flechten und andere zehrende Krankheiten unter den Schlachtergesellen äußerst selten sind und dass man dies dem Einatmen des Dunstes des frischen Blutes und der Wirkung der Berührung desselben mit der Haut zuschreibt, wird als Stütze der Theorie geltend gemacht, dass das Bluttrinken ein unfehlbares Heilmittel liegen Blutarmut, Bleichsucht, Tuberkulose und Strophulose (Lungensucht und Flechten), gegen Schwindsucht und Auszehrung u. dergl. sei.

Die Schlachtergesellen finden in diesem Wahn eine viel zu ergiebige Einnahmequelle, nur denselben nicht zu nähren durch wunderbare Geschichten von den Erfolgen, die sie von der Heilkraft des Bluttrinkens an sich, und Anderen erfahren haben wollen, und so erhält sich dieser scheußliche, von der Wissenschaft längst widerlegte Aberglaube in vollem Schwange. Das bleichsüchtige junge Mädchen, das hektische oder skrophulöse Kind (siehe das erste Bild S. 348) werden von den zärtlichen besorgten Eltern nach den Schlachthäusern geschleppt und halb durch Überredung halb durch physischen Zwang veranlasst, das widrig riechende, dampfende warme Blut der frisch getöteten Stiere, Kälber und Hammel zu trinken, dass sie um teures Geld erkaufen. Die Lungenschwindsucht, welche 22 Prozent aller Todesfälle in Paris veranlasst, hat aber trotz dem jahrelangen Vorwalten dieses Unfugs noch nicht aufgehört, sondern holt Jahr für Jahr noch denselben Prozentsatz von Opfern aus der leichtlebigen eng zusammengedrängten Bevölkerung.

Unser zweites Bild S. 349 gibt eine Ansicht vom Innern der neuen Schweineschlachthallen in La Villette, wo die Schlächterei des Borstenviehs abgesondert von derjenigen des Hornviehs, aber wo möglich in noch größerer Ausdehnung, betrieben wird. Bei dem ungeheuren Konsum von Schweinefleisch und Schweinefett in Paris, das bekanntlich mit seinen delikaten Pasteten, Würsten, Kunstschinken u. s. w. auch noch einen Teil des Weltmarkts versieht, ist es nicht zu verwundern, dass in diesen Hallen zu gewissen Jahreszeiten täglich mehrere hundert Schweine geschlachtet und zerlegt werden.

Das Innere eines Schlachthauses von La Villette zu Paris

Das Innere eines Schlachthauses von La Villette zu Paris

Blut-Trinker im Hof der Schlächterei von La Villette zu Paris_

Blut-Trinker im Hof der Schlächterei von La Villette zu Paris_

Blut-Trinker im Hof der Schlächterei von La Villette zu Paris

Blut-Trinker im Hof der Schlächterei von La Villette zu Paris