Der Dichter Karl Immermann über die preußische Jugend in den Befreiungskriegen.

Die Jugend wurde von dem Gewühle disparater Vorstellungen, welche die moderne Völkerwanderung aufstörte, noch inniger ergriffen als das Alter. Sie war noch nicht durch Reflexion und Erfahrung abgebraucht. Sie hatte das frühere Leben nicht gekannt, sie empfing daher von dem Kriegs- und Weltsturm reine, für ihre ganze Zukunft bestimmende Eindrücke. Das Leben in einer seiner ungeheuersten Entfaltungen half die damalige deutsche Jugend miterziehen. So war keine frühere, so ist die spätere Generation nicht erzogen worden.

Abscheuliche Exekutionen traten vor das junge Auge. Ich war dreizehn Jahre alt, als ich eines Morgens von der Zitadelle [Magdeburgs] heraus durch unsere Klosterstraße nach ödem Blachfeld vor dem Tore zwei blasse Männer führen sah. Es war ein junger und ein alter, sie waren mit den Händen aneinander gefesselt und der junge redete dem alten zu, der sehr niedergeschlagen war. Gendarmen ritten vor und nach, und ein Kommando Infanterie folgte. Ich hörte, daß es ein Vater und ein Sohn sei und daß sie erschossen würden, weil sie bei Kattes Korps gedient hätten. [Katte wollte im Jahr 1809 als Freischarenführer mit märkischen Bauern Magdeburg überrumpeln, er wurde verraten.]


Einige Wochen später hörten wir feuern; es war Schill, der sich bei Dodendorf mit den Westfalen schlug. Ich machte mich, als diese Sache wieder still geworden war, an einen Holzhacker, einen finsteren, bärtigen Kerl, von dem es heimlich bekannt war, daß er unter dem Parteigänger gedient hatte. Er erzählte mir in den Pausen, wo er vom Hacken ausruhte, flüsternd, wie er nach dem Stralsunder Blutbade drei Tage und drei Nächte in einem elenden Kahne auf der See geschwommen habe und endlich von Fischern nach der Insel Usedom gerettet worden sei. Dass Schill geblieben sei, galt für eine französische Fabel; er lebe, hieß es, und werde zu gelegener Zeit schon wieder zum Vorschein kommen. Das Volk lässt seine Lieblinge nicht sterben. Es hieß seinen Helden Schild, in dieser Umgestaltung des Namens unabsichtlich sein Gefühl aussprechend . . .

In phantastischer Energie des Hasses entlud sich die verletzte Empfindung der Jugend. Wir wussten nichts von Stapß [Stapß hatte nach der Schlacht bei Wagram 1809 ein Attentat auf Napoleon gemacht], wir wussten noch weniger von Georges Cadoudal und Pichegru [beide 1804 nach einem Attentat auf Napoleon hingerichtet], aber es war unter den jungen Leuten ein gemeines Gespräch, wie man es wohl anfangen könne, Napoleon zu erschießen oder zu erstechen. Dass es Sünde sei, einen Menschen zu töten, kam hierbei nicht in Erwägung; nur dass es den Kopf kosten werde, machte die Sache bedeutlich. - Man wird zugeben, dass eine Jugend, die in ihren Gedanken mit Mord und Tod spielt, eine eigenartige Jugend gewesen sein müsse. Alle Gegensätze zogen wie die unter dem Machtherrscher zusammengekoppelten Völker durch die unreifen Gemüter. Der gröbste Materialismus, der durch die Not der Zeit aufgezwungene Glaubenssatz, daß es vor allen Dingen darauf ankomme, Unterhalt und Brot zu finden, stand neben den wildesten Träumen von goldenen glänzenden Abenteuern tief in Asien oder fern bei Lissabon, worin eine maßlos an das Unmögliche verlorne Einbildung schwelgte. Drastisch zum Gefühle ihrer Wichtigkeit aufgeregt wurde die Jugend an einigen Orten durch Fichte und Jahn und durch die, welche von den Gedanken dieser Männer einen Anstoß empfangen hatten.

Die damalige Jugend lebte mehr in starken Vorstellungen als in unpassenden, mehr in Gefühl und Entschluss als in Verstand und Betrachtung. Ihren Durchschnittszustand möchte ich eine edle Barbarei nennen. In dieser Verfassung traf sie der Krieg.

(Immermann, Memorabilien.)


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Befreiung 1813 - 1814 - 1815. Teil 4