E. M. Arndt über die Ereignisse in Königsberg.

. . . Königsberg gab jetzt auf seine Weise auch ein recht lebendiges Bild des Kriegslebens: wechselweise die tapferen Regimenter des Generals Yorck in und um der Stadt, russische Generale und Offiziere, zum Teil sogar noch solche, die als preußische Gefangene oder Verwundete hierher gebracht worden waren, und die nun, ohne daß die Tage der Dinge zwischen Rußland und Preußen geklärt oder abgeklärt war, doch als bei erklärtem Frieden und Bündnis frank und frei umhergingen, auch Durchführungen und Durchtreibungen unter dem Knall der Kosakenpeitschen unglücklicher einzelner Trupps französischer Gefangenen; zu diesen die meist unter lautem Jubel einziehenden Scharen von Jünglingen, welche das Yorcksche Heer ergänzen und verstärken sollten. Nun war auch Stein dazu gekommen, und die Augen aller Menschen waren auf ihn gerichtet, aus allen Enden des Landes strömten die Männer herbei, teils in des eigenen Herzens Angelegenheiten, teils zu dem großen, von Stein veranlassten preußischen Landtage gelockt und berufen ... In diesem Leben und Weben der Dinge und Menschen war Stein der Morgenstern der Hoffnung, wohin alle blickten; um ihn rissen sich Freunde und Feinde - ich sage, auch Feinde; denn die Feinde kamen wohl auch heran, aus Furcht und für den Schein, oft mehr als Lauscher, Späher und Berichterstatter. Der große Mann sollte nun in allem sein, bei allem sein, er konnte vor Festschmäusen und Mittagstafeln, meistens doch von seinen Getreuesten angerichtet, sich kaum retten, wich den meisten aus, weil er dafür weder Zeit noch Gesundheit übrig hatte, wo er aber erschien, war jetzt durch ein in den deutschen Grenzen gleichsam mächtiger erglühtes und erblühtes Leben in ihm die Lust der Mutigen, der Schrecken der Feigen, durch Schritt und Tritt und Blick und Rede den Kühnsten voran . .

Unter vielen kleinen Dingen standen die großen Dinge und die großen Personen Russland, Deutschland, Preußen, Kaiser Alexander, König Friedrich Wilhelm, Yorck, Stein, Hardenberg und mehrere andere bedeutende Angelegenheiten und Menschen in der Schwebung, Senkung und Hebung des Tages; es waren schwerste Knoten zu flechten und zu lösen, schwerste Fragen zu erörtern, geschwindeste Bereitungen und Rüstungen gegen Deutschland und den Westen hinaus zu machen: denn das wusste man wohl: Napoleon, welchen man hundertfünfzig Meilen Flucht durch deutsche Grenzen in einem einsamen Schlitten unbeschädigt hatte entrinnen lassen, werde daheim nicht schlummern und schlafen, der gewaltige Löwe werde seine Stimme in den deutschen Wäldern schon wieder ertönen lassen. Stein träumte, wusste, dachte Tag und Nacht nichts anderes als Erhebung und Aufstand des ganzen deutschen Volks gegen den bösesten Feind, als baldigstes Bündnis zwischen Kaiser Alexander und König Friedrich Wilhelm und dann geschwindesten Marsch über Weichsel und Oder zur Elbe und zum Rhein.


Hier in Königsberg öffnete sich nun der Anfang des künftigen deutschen Volkskriegs, hier sahen alle deutschen Hoffnungen auf die Gerüchte von Napoleons Unglück und Steins Ankunft in Preußens Grenzen.

In Preußen wollte und mußte Stein mit seiner Begeisterung die Dinge mit der Blitzgeschwindigkeit seiner Natur anfassen und treiben und fortstoßen, und zwar in einer untröstlichen Lage. Alles lag, ging und lief hier ja gegen- und durcheinander, preußische, russische Kriegsscharen, weder Freund noch Feind, durcheinander gemischt, der Befehlshaber der preußischen Scharen, General Yorck, als Verräter und Aufrührer von seinem Könige geächtet - man wusste nicht, ob bloß aus diplomatischem Schein oder aus Meinung der Tat - das Land selbst durch die Heereszüge seit dem Frühling des Jahres 1812 von dem tückischen, welschen Feinde geplündert, verwüstet, erschöpft; doch mußten, wenn der deutsche Anfang hier wirklich ein tüchtiger Anfang werden sollte, Mittel und Kräfte an Menschen und Geld gefunden werden.

Stein hatte in Gumbinnen diese Angelegenheiten mit Schön vielfältiglich verhandelt und durchgesprochen, jetzt kam es an den Hauptsitz der preußischen Regierung und an ihren Oberpräsidenten, den Landhofmeister von Auerswald, der zu gleicher Zeit Schöns Schwäher war. Dieser mußte, wenn die Dinge hier zu einer Gemeinsamkeit zwischen Russland und Preußen kommen sollten, mit Mund und Tat voranschreiten. Stein fand nun den Oberpräsidenten nicht so geschwind und entschlossen, wie er selbst war, er schalt ihn eine alte Schlafmütze, ohne Mut und Feuer, wo doch jedes deutsche Herz brennen und jeder Nerv zucken müsse, als sei jede Fiber ein Schwert.

Auerswald war aber keine Mütze sondern ein gescheiter, tüchtiger, treuer Mann, der selbst wohl führte und regierte . . . War dem Oberpräsidenten einige sondernde Bedenklichkeit zu verdenken und zur Feigheit missdeuten? Er stand nicht bloß für seine Person sondern auch für sein Vaterland dicht am Rande eines möglichst schauderhaften Abgrunds, wo das Darüberspringen oder Hineinstürzen unentschieden vor ihm lag; er wie alle Preußen hatten gleichen Schauder vor den Russen und den Franzosen, sie hatten auch die fides moscovitica und die fides alexandrina, von welcher Stein in seinem Eifer die schönsten Verkündigungen und Verheißungen machte, in dem Frieden von Tilsit genug erfahren, könne Alexander mit seinen Russen nicht wieder Eroberungen über Preußen meinen ? . .

Genug, Auerswald zauderte vor Steins kühnem Ungestüm und wollte sich im Steinschen Sinn . . nicht fortreißen lassen . . . Das ward indessen durch die mehr vertrauten Männer und Freunde, durch den edlen, tapfern Grafen Minister Alexander Dohna und durch Schön vermittelt. Es ward ein Landtag ausgeschrieben, und im Namen ihres Königs versammelt, wollten die Stände den General Yorck zu ihrem Präsidenten wählen, er aber lehnte das weise ab, und bald stand Alexander Dohna als ihr Präsident da. Sogleich ward nun desselben Bruder, Major Graf Ludwig Dohna, an das königliche Hoflager in Breslau gesandt, dem König über den Gang und Verlauf der Dinge und über die Treue und treue Meinung seines Volkes in den in den Augenblicken der Not ergriffenen Maßregeln genauen Bericht abzustatten und für alles endlich seine Gnade und Billigung zu erbitten, auch über das Heer und über Yorcks Führung und Stellung das Wahre und Mögliche darzustellen. . . .

Wahrlich kein Land war gleich Preußen durch die Durchzüge der französischen Heere, durch den Raub von Geld, Kanonen, Menschen, Pferden und Rindern, fast mit berechneter Bosheit und Tücke, für den großen russischen Feldzug so mitgenommen und ausgeleert worden als Preußen, und doch - jetzt bewegte und belebte sich alles, als wenn jüngstes, vollstes Leben, ja die Fülle des Gebens und der Kraft noch dagewesen wäre. Ja, es war jene Fülle der Kraft da, die aus dem Geiste erglüht und erblüht, durch diese Kraft haben Greise wieder wie Männer gefochten und Jünglinge, ja fast Knaben von sechzehn, siebzehn Jahren ihre Säbel wie mit vollster Manneskraft geschwungen. Ich werde das Schwingen, Klingen und Ringen dieser Morgenröte der deutschen Freiheit, diesen so leuchtenden Aufgang eines neuen, jungen Lebens nimmer vergessen.

(Arndt, Wanderungen und Wandelungen.)


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Befreiung 1813 - 1814 - 1815. Teil 3