I. Die Weltlage.

Mitte Juni des Jahres 1812 stand die „Große Armee“ des Kaisers Napoleon
mit 450.000 Mann und 1146 Geschützen an der russischen Grenze und wartete auf den Befehl zum Einmarsch. „England zwingt mich, den Kontinent zu erobern,“ sagte der Kaiser einmal. In der Tat war der russische Krieg eine weitere Folge des Krieges, den England seit l793 mit Frankreich führte. Frankreichs Flotten waren von den Meeren verschwunden, England beherrschte den Welthandel. Napoleon hatte durch die im Jahre 1806 in Berlin proklamierte Kontinentalsperre die englischen Waren vom Festlande ausgeschlossen und seine Vasallen und Verbündeten zu der nämlichen Maßregel gezwungen. Die Folge war, daß Russland an den Rand des Bankerotts geriet und die in Tilsit gestiftete Freundschaft zwischen Napoleon und dem Zaren Alexander I. in die Brüche ging. Aber alle Staaten Europas seufzten unter dem Druck dieser gewaltsamen Handelssperre nicht weniger wie unter dem politischen Joch des Kaisers. In den Augen der Welt stand er zwar auf der Höhe seiner Macht. Er war der Herr des Abendlandes. Sein Reich mit 42 Millionen Einwohnern erstreckte sich von der Ostsee bis Neapel, vom Kanal bis an die Adria, von Warschau bis Madrid. Österreich war durch drei große Kriege überwunden, Italien unterworfen, Preußen zerschmettert, das übrige Deutschland stand im Rheinbund zu seinem Befehl. Wohl wütete in Spanien ein opferreicher Krieg, und Frankreich selbst stand unter dem schwersten Druck. Es litt wie die anderen Staaten unter den Folgen der Unfreiheit des Handels, das despotische Regiment des Kaisers hatte alle Freiheiten unterdrückt, der ewige Krieg mit seinen Konskriptionen war verhasst, durchaus unpopulär vor allem der Krieg mit Russland. England hielt die Wunde in Spanien offen. - Napoleons Zweck mit dem russischen Kriege war dieser: Frankreich und sein ganzes politisches System von dem schweren wirtschaftlichen Druck dadurch zu entlasten, dass er Russland zum Ausharren bei seiner Politik zwang und das britische Reich nach erfochtenem Sieg entweder zum Frieden nötigte oder durch einen zweiten Alexanderzug in seinem indischen Besitz tödlich traf. Nur als Sieger konnte Napoleon sich auf die Dauer in Frankreich behaupten. Darum hatte er den russischen Krieg aufs gründlichste vorbereitet. Die Armee, die er gegen Russland führte, war die größte und schönste, die die Welt je gesehen. Fast alle Völker Europas dienten in diesem Heere. Preußen mußte ein Hilfsheer von 20.000 Mann stellen. Es stand unter dem General Yorck, und dieser unter dem Marschall Macdonald, der den linken Flügel der ,,Großen Armee“ befehligte. Beim Zentrum, das Napoleon selbst führte, standen die übrigen preußischen Truppen, Bayern, Schwaben, Sachsen, Westfalen und die übrigen Rheinbündner, auf dem rechten Flügel das österreichische Hilfskorps unter dem Fürsten Schwarzenberg. - Die Bewunderung, ja das Grauen vor dem Kaiser, der wie der Kriegsgott selbst erschien, lähmte den ganzen Westen, als seine Heeressäulen hinter der russischen Grenze verschwanden. Die überwiegende Mehrzahl der Zeitgenossen ahnte nicht, daß das Weltreich ein Koloss mit tönernen Füßen war. und Napoleon wusste nicht oder wollte nicht wissen, daß er einen vulkanisch durchwühlten Boden hinter sich ließ, daß das preußische Volk nur auf die Stunde der Vergeltung wartete.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Befreiung 1813 - 1814 - 1815. Teil 1