Der württembergische Leutnant von Martens über die Kälte in Rußland. 6. und 7. November 1812.

Der Grund zu den folgenden namenlosen Leiden wurde an diesem Tage von der Natur gelegt. Die Witterung nahm eine furchtbare Wendung, der Himmel verfinsterte sich, schwere Wolken senkten sich tief herab, und der bisherige Regen ging in anhaltendes Schneegestöber über. Große Scharen von Krähen flogen mit dem Sturm daher ... Sie erwarteten nur den Augenblick, über die Leichname herfallen zu können. Bald nach dem Aufbruch des frühen Morgens gelangten wir mit dem Krankenfuhrwerk durch das zerstörte Städtchen Dorogobusch, woselbst die Leichen der früher Dahingeschiedenen bereits eingeschneit waren. Eine Notbrücke brachte uns über den Dnjepr. Gegen Abend fuhr die Wagenburg beim Dorfe Pnewa auf. In welchem Zustande sich aber die unglücklichen Verwundeten hier befanden, vermag ich kaum zu Schildern. Da lagen Sie gleich eingeschneiten Toten auf den russischen Wägelchen. Mehrere wurden als völlig tot befunden in den Schnee heruntergeworfen, der nun ihr Grab wurde. Wir suchten für diese Nacht unsere Zuflucht unter den Wagen. Bereits am ersten Schneetag sanken Hunderte vor Ermattung nieder und standen nicht mehr auf. Sterbend wandte sich ihr Blick flehend zu den Vorübergehenden, dann hüllte die Nacht ihr Auge ein, und die Qual war von ihnen genommen. Anfangs bezeichnete ein Schneehügel die Stelle, wo der Tote lag, aber bald war jede Spur in der unabsehbaren Schneewüste verschwunden ....

Schlecht gekleidet, meist ohne gute Fußbekleidung, ohne Nahrung und ohne stärkende Getränke zog alles stumm über die weite Schneefläche hin. Wir kamen am Schlachtfelde von Smolensk vorbei, aber tiefer Schnee deckte schon die Tausende zu, welche hier gefallen waren. Diese unerhörten Leiden mußten endlich alle kriegerische Haltung brechen, welche das Heer noch behauptet hatte. Niemand befahl, niemand gehorchte mehr, selbst der stolze Napoleon streckte nun seine Hand aus, nicht zum Befehl, sondern sie zu erwärmen. - In dem schauerlichen Schneesturm dieses Tages bemächtigte sich eines jeden der Drang nach eigener Rettung. Der russische Winter löste vollends alle Ordnung auf, und die Truppen der verschiedenen Nationen mengten sich durcheinander. Massen von Schneeflocken wurden durch den gewaltigen Sturm aus der Luft und vom Boden herauf uns ins Gesicht gepeitscht, und mechanisch folgten wir dem Menschentross. Wagen und Geschütze blieben stehen; die gefallenen Pferde standen nicht mehr auf.


(Nach Rehtwisch, Napoleon in Rußland)


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Befreiung 1813 - 1814 - 1815. Teil 1