Der Freiherr vom Stein an seine Frau über die Vernichtung der Großen Armee. Wilna, Januar 1813.

Ganz Deutschland muss mit Trauer bedeckt sein 80.000 junge Männer aus diesem unglücklichen Lande sind umgekommen oder sterben noch täglich in den Hospitälern einem fauligen Nervenfieber zur Beute, dem die durch Hunger, ungesunde Nahrung von gefallenem Vieh, die einzige die übrig war, entkräfteten Körper nicht widerstehen können. 15.000 Kranke allein lagen in den Hospitälern von Wilna. Man sieht nichts als Karren voll Leichname, die man teils von Wölfen angefressen auf den Heerstraßen sammelt, und aus den Hospitälern wegführt, oder Züge von Gefangenen, mit Lumpen bedeckt, ausgemergelt durch beiden aller Art, hohläugig, mit blaugrauer Haut, in dumpfem Schweigen den Tod erwartend ..... Es ist durch die achtungswürdigsten Zeugnisse beglaubigt, daß im Übermaß des Elends, welches das französische Heer litt, französische Soldaten sich von den Leichnamen ihrer unglücklichen Kameraden genährt haben . . . Die leibliche und sittliche Erschöpfung und Vernichtung dieser Unglücklichen war so groß, daß ein Zug von zweitausend Mann sich einem russischen Gesundheitsbeamten ergeben hat, der in seiner Kalesche reiste; daß der Pöbel von Wilna, großenteils aus Juden bestehend, auf den Nachzug des Heeres gefallen ist und eine Anzahl Gefangener von der Kaisergarde gemacht hat .... Diese grässlichen und ungeheuren Ereignisse waren oft von kleinen Zügen begleitet, welche lächerlich ...erscheinen, wenn man dafür empfänglich sein könnte inmitten eines ungeheuren Kirchhofs oder umgeben von entfleischten und sterbenden Gespenstern. So erinnert man sich hier mit Verachtung und Unwillen, wie Berthier beim Schall einer schlechten Trommel ein 60 Menschen versammelte, um die Flüchtigen aufzuhalten, die sich beim Erscheinen einer Handvoll Kosaken nach den Toren von Wilna stürzten, wie Murat in einen Schal gehüllt, eine Kutschermütze auf dem Kopfe, mit einem Stocke in der Hand nach Wilna hereinkam, Narbonne zu Fuß von Moskau nach Smolensk durch den Schnee marschierte, Napoleon durch Wilna kommend seine Schande und seine Wut hinter den aufgewogenen Fenstern seines Wagens verbarg, und alle seine Adjutanten demütig, unterwürfig, dankbar, wenn man ihnen ein Stück Brot anbot. Zu Wilna hat er alle seine Sachen, unter andern ein kostbares mit Schals tapeziertes Zelt verbrennen lassen. Die Beute der russischen Truppen ist unermesslich, man schätzt die jedes einzelnen Kosaken im Durchschnitt auf 300 Dukaten. Die Kosaken haben der Kirche der heiligen Maria von Kasan in Petersburg 1.600 Pfund Silber geschenkt, um daraus die Bilder der vier Evangelisten machen zu lassen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Befreiung 1813 - 1814 - 1815. Teil 1